Ad vocem Hindemith
Eine Dokumentation
Präludium
Am 26. März 1964 wurde im Hessischen Rundfunk ein Gespräch zwischen Rudolf Stephan und dem Autor aufgenommen, gesendet am 16. November desselben Jahres. Das Gespräch war weniger ein Disput als ein erster Versuch zur Exposition kritischer Gedanken, in denen die beiden Redner übereinstimmten; der Autor hatte es angeregt und übernimmt die Verantwortung. Das ist hervorzuheben, weil die praktischen Folgen der sogleich angekurbelten Entrüstung weniger er als Stephan, damals noch Privatdozent in Göttingen, zu tragen hatte. Ein halb unterirdisches Gemunkel wurde vernehmbar; es wäre bedrohlich gewesen, könnte man bereits wieder wegen Intellektualismus ins Konzentrationslager gesperrt werden. Ärgernis erregte offenbar Kritik an dem deutschen musicus laureatus als solche, nicht der spezifische Inhalt des Gesagten. Hinzu kam, daß Hindemith Ehrendoktor der Fakultät war, der der Autor angehört. Diesem war das nicht bekannt; als man Hindemith jene Würde verlieh, lebte der emigrierte Autor noch in den Vereinigten Staaten. An der Frankfurter Universität hätte er, als Protest gegen die Hindemith-Ideologie, mit Nein votieren müssen; zur Ehrenpromotion ist Einstimmigkeit erforderlich. Keinesfalls hätte er im Radio vorsichtiger gesprochen. Soll der Begriff des Professors überhaupt noch einen besseren Sinn haben als nur den institutionellen, so erheischt er unbedingte Unabhängigkeit des Urteils auch in der Öffentlichkeit, ohne Rücksicht auf vorwaltende Gruppenmeinung.
Da das Radiogespräch einzig kritische Punkte berühren, nicht die Kritik voll begründen konnte, scheint es dem Autor angezeigt, eine chronologische Dokumentation seiner Anschauungen über Hindemith vorzulegen. Sonst pflegt er das jeweils ihm erreichbare Resultat dessen zu geben, was er denkt, nicht den Prozeß, der es dahin brachte. So möchte er es generell auch weiter halten. Doch kann er sich nicht verhehlen, daß manche seiner Leser die Resultate appropriieren, ohne den meist selbstkritischen Prozeß mitzuvollziehen: Dogmatismus ist leicht die Folge. Dem möchte er ein wenig entgegenarbeiten, indem er an den zeitlich voneinander entfernten Texten verschiedene Stufen der begrifflichen Bewegung sichtbar werden läßt, zu der ein bestimmter Gegenstand ihn nötigt. Was in seinem Urteil über Hindemith sich änderte, reagiert zugleich auf dessen eigene Entwicklung; freilich ergreift es auch die Einschätzung von dessen früheren Arbeiten. Erst die Dokumentation verdeutlicht den Wust, mit dem der Autor in seiner Jugend fertig zu werden hatte; auch die Erfahrung, welche das Gespräch mit Stephan motivierte. Ebenso bezeugt sie, daß er stets schon immanentmusikalische Erwägungen mit ästhetischen und soziologischen verband, obwohl es ihm erst nach langen Jahren gelang, das Verhältnis dieser Momente einigermaßen zu artikulieren. Der erste Aufsatz stammt aus der frühesten Jugend des Autors, noch vor seiner Lehrzeit bei Alban Berg; der zweite, von 1926, spürt bereits, wohin es mit Hindemith ging.
Näherer Kontakt mit Hindemith stellte 1920 sich her, als das Rebnerquartett, dessen Bratschist jener war, sechs ziemlich kindische Quartettstücke des Autors diesem privat vorspielte. Dann sah er Hindemith häufiger, in der Frankfurter Musikalienhandlung Bernhard Firnberg, die zu jener Zeit etwas von einem Musikercafé hatte, und in Hindemiths Wohnung in der Leerbachstraße, meist gemeinsam mit Reinhold Merten. Korrepetitor an der Frankfurter Oper, übte dieser auf Hindemith starken Einfluß aus; auch den Autor beeindruckte er sehr als Inkarnation radikal neuer Sachlichkeit. Der Autor zeigte weiter gelegentlich seine kompositorischen Versuche Hindemith, der ihn klug und freundlich beriet. Er erinnert sich an dessen ermutigende Reaktion auf ein 1921 geschriebenes viersätziges Streichquartett, das er allerdings ebenfalls bald ad acta legte. Hindemiths Kritik an dem Aufsatz über ihn sah der Autor als berechtigt ein. Streitigkeiten oder ein Bruch fanden nie statt; auch eigentliche Freundschaft entwickelte sich nicht. Einmal, im Firnbergschen Laden, wurde über Schönberg gesprochen, und Hindemith sagte abwertend, das sei jüdische Musik. Darauf zog der Autor seine Fühlhörner ein; einfache Loyalität verlangt indessen, zu betonen, daß Hindemith später mit seiner halbjüdischen Frau, der Tochter des unvergessenen Dirigenten Ludwig Rottenberg, aus dem Reich des Hitler auswanderte. Noch einmal war der Autor mit Hindemith ausgiebig auf dem Kasseler Musikfest 1923 zusammen. Ihm prägte sich ein, wie dieser dort über den zweiten Akt von Schrekers ›Fernem Klang‹ spottete: was hätte man dazu für eine schöne Bordellmusik schreiben können. Solche unkonventionellen Äußerungen imponierten dem Autor. In Kassel traf er Hindemith wohl das letzte Mal; jedenfalls kann er sich an kein Gespräch nach seiner Wiener Zeit mehr besinnen. Er weiß auch nicht, ob Hindemith, nach dem Zweiten Krieg, seine theoretischen Arbeiten las und wie er darüber dachte. Längst vorher waren die Gegensätze so schroff geworden, daß man sich unmöglich hätte verständigen können.
Der dokumentarischen Treue zuliebe sind die Aufsätze unverändert abgedruckt, bloß offensichtliche Druckfehler korrigiert. Auch Wiederholungen blieben stehen. Der Autor hat der Versuchung zu bessern selbst dort widerstanden, wo ihm, wie in den ersten drei Aufsätzen, heute manches unerträglich ist; vielfach findet er durch unzulängliche Durchführung die Intentionen vorbelastet, die er festhielt und denen er, wie er hofft, später besser gewachsen war. Der als Abschnitt III erscheinende Aufsatz – in der ›Frankfurter Zeitung‹ hieß er, wie nachmals die Polemik gegen die Jugendmusikbewegung, ›Kritik des Musikanten‹ – behandelte nicht unmittelbar Hindemith, der darin erwähnt wird. Der Sache nach war er wesentlich gemeint; die Arbeit entwirft erstmals prinzipiell die Position des Autors gegen den Neoklassizismus.
I
Der nunmehr Sechsundzwanzigjährige, Schüler von Bernhard Sekles und Arnold Mendelssohn, kam von Brahms her und der Kammermusik. Selbst ein Geiger von Profil, ist er im Streichersatz beheimatet und darum näher am Farbsinnlichen auch des Orchesters als die vielen klavieristisch Hörenden. Ein Streichquartett in C-Dur brachte ihm Auszeichnung, ein sauber gemachtes Stück akademischer Haltung. Mit neunzehn Jahren war er Konzertmeister an der Frankfurter Oper. Eine Sinfonietta, durch des Christian Morgenstern Galgenlustigkeit programmatisch noch mitbestimmt, hat in kollernden Holzbläserpartien schon Züge des böswilligen, fatalen Humors, der später aus seinen Partituren hüpft. In Liedern erobert er sich das Strauss-Orchester. Er macht den Krieg mit, die Erschütterung schmeißt ihm das Eigentliche seiner Begabung an den Kopf. Im Streichquartett op. 10 und den Sonaten op. 111 vollzieht sich die Wandlung, menschlich, in der Faktur. Die zeitgenössische Musik wirkt auf ihn ein, Bartók vor allem, mehr als Schönberg, dessen tragische Bewußtheit der Jüngling dreist beiseite schiebt. Die Außerdeutschen treten in sein Blickfeld; er sucht das Voraussetzungslose und meint es in der barbarischen Geste zu finden, ohne zu wissen, daß die Westler und radikalen Russen verdammt spät sind. Er weiß überhaupt sehr wenig, aber spät ist er nicht. Er gerät an die Erben Debussys, die in ihren brutalen Rhythmen das gepflegte Klanggut des Franzosen auffressen. Er verliebt sich in Strawinsky, studiert Casella, Lord Berners. In der Oper ›Mörder Hoffnung der Frauen‹ (op. 12)2 spukt noch der Tristan, aber in der Klaviersuite ›Aus einer Nacht‹ fliegen die Fetzen – nicht lauter gute –, und Foxtrott und Fuge werden aufeinandergestülpt. Das ist zwar noch von außen her gemacht und bleibt literarisch, pour épater le bourgeois. Doch die neuen Tänze haben es ihm ernstlich angetan, und als er den Rag von Strawinsky aufschnappte und all die Tanzmusik des um den Chester-Verlag gruppierten Kreises, fand er nur den eigenen Weg schon vorbegangen, lief nicht aus romantischer Laune ein paar dekadenten Snobs nach. Er ist nicht der Mann, der mit amüsanten Experimenten in kleiner Münze sich ausgibt. Schon in dem Streichquartett C-Dur op. 163 ist von Stiltasten und Verblüffen nichts mehr zu spüren. Er hat eine strenge Formzucht wiedergewonnen, baut weitgespannte, sehr polyphone Sätze, zieht sachlich die Konsequenzen aus der neuen Harmonik, läßt alles wilde Gestikulieren bleiben und hat im Adagio wieder seine volle Wärme und spröde Innigkeit. Zwar im Finale tobt er in Quinten und Taktwechsel sich aus, aber der Krampf ist gewichen, er hat Abstand zu sich und schallendes Lachen. Dies Werk brachte ihm auf dem Kammermusikfest in Donaueschingen 1921 den ersten großen Sieg. Bald darauf folgte die Stuttgarter Uraufführung von ›Mörder Hoffnung der Frauen‹ und dem ›Nusch-Nuschi‹, op. 204. Auf diese beiden Opern wird in Frankfurt noch ›Sancta Susanna‹, op. 215 gegeben werden.
Literarisch genommen sind die Texte keine Ehre. Kokoschkas Strindbergiade die stammelnde Auch-Äußerung eines starken Malers, Franz Bleis ›Nusch-Nuschi‹ eine immerhin lustige und gescheite Zote, August Stramms ›Sancta Susanna‹ eine peinliche Privatangelegenheit aus Fräulein Juliens Welt. Man mag auch einwenden, die Musik meine sexuelle Impotenz ebenso wenig wie das Lendentuch des Heilandbildes, da beide Gegenstände zu sehr rationell umgrenzt seien, als daß sich aus ihnen die irrationale Weite musikalischer Hintergründe gewinnen ließe. Doch hat dies Paul Hindemith, dem alle Musikdramatik und dingliche Symbolik über ist, immerhin selbst gewußt. Auch hat er diese Opern weder für die kleinen Mädchen, noch gegen die Geheimräte geschrieben. Seine Musik ist gar nicht erotisch – wenn anders man unter erotischer Musik solche versteht, die ihrer klangsinnlichen Art nach den Hörenden nicht in seiner menschlichen Totalität sondern in seiner bloßen psychophysischen Geschlechtlichkeit betrifft; der die Geschlechterspannung nicht stofflichen Ausgangsgrund der Formung, sondern letztes Ziel ausmacht. Zwar wagt es seine Musik wieder zu tanzen; aber mehr die Lust am Außenweltlichen, Seienden tanzt aus ihr als der Geschlechtstrieb, und selbst im lüsternen Jappen des Nusch-Nuschi klingt die Spielfreude eines, der sich die verwegensten, fremdesten Dinge unterjocht und schließlich über sich und sein Joch und die ganze Affäre weglacht, weil er Demut genug hat, die schwere Tiefe der Welt wichtiger zu nehmen als sein bißchen Ich. Diese Selbstlosigkeit ist die Wurzel von Hindemiths Humor, nur manchmal schlägt sie um in eine gebundene, fragende Schwermut. – Was ihn aber zu expressionistischen Phalloskulten zog, war dies: daß er nirgends sonst Dichtungen fand, die so sehr musikalisch bestimmt sind, so fern von der Dialektik der Begriffe oder der rational durchgestalteten Bilder. Die poetische Not wird ihm zur musikalischen Tugend. Wie aus den Keimzellen dumpfer und triebmäßiger Sexualität der nur pflanzenhaft lyrische Organismus jener Undramen herausquillt, so dehnen sich pflanzlich, lediglich dem eigenen Triebwillen folgend, Hindemiths Musiken empor. Nur daß die Stellungen zur Form und damit die ästhetischen Anrechte beider verschieden sind. Denn während die expressionistische Dramatik die Nichtform proklamiert und damit die Wurzeln aller Kunst und ihrer selbst antastet, gewinnt er gerade aus der Triebmäßigkeit des Vorwurfs seine Formelemente. Eine Symphonisierung der Oper setzt ein, anders jedoch als die Wagnersche; die Oper wird als große musikalische Form konzipiert. Die psychologische Leitmotivik verschwindet; dafür entwickelt sich in dem angedeuteten triebmäßigen Sinn aus thematischen Urzellen der ganze Bau. Schon die ›Mörder‹-Partitur war von solch einem Urthema – einer im Umfang einer kleinen Terz diatonisch auf- und absteigenden Tonreihe – beherrscht, hatte aber mancherlei Kontrastthemen in das symphonische Gewebe hereingezogen. In ›Sancta Susanna‹ finden sich die letzten Konsequenzen dieser Formungsweise gezogen. Denn hier wird aus einem Thema alles, was musikalisch überhaupt geschieht, herausentwickelt; einem Thema, dessen emotionale Kraft nicht einem Individuum, nicht einer Stimmung, sondern schlechthin dem irrationalen Grundgeschehen dieser Oper gilt. Es ist bewundernswert, wie Hindemith hier, in dem reifsten seiner Bühnenwerke, zugleich thematisches Drängen des Orchesterstroms und weitbogige Gesangsmelodien, Schwüle der Frühlingsnacht und Wucht der Katastrophe aus dieser einen, zu sinnlich-plastischer Konkretheit geronnenen Grundkraft gewinnt, die ihm unter den Händen zum Symbol des Triebhaften überhaupt geriet. – Das Problem der Form, das hier im Mittelpunkt steht, wirkt auch in den folgenden Instrumentalkompositionen Hindemiths nach. Homophone Elemente fordern daneben ihr musikantisches Recht. Im Vierten Streichquartett op. 22, einem Stück wesentlich einfacherer Faktur, wendet sich Hindemith von der Sonatenform ab. Gleich der erste Satz bringt eine erstaunlich sichere Synthese von Fugato und dreiteiliger Liedform; auch schweifende Rondoformen und freie Bildungen über durchgeführtem Klangdessin treten auf. Er erkennt wohl, daß hierdurch die strenge Einheit des Quartettstils gefährdet ist, und gibt diese Einheit auf, indem er das Werk fünfsätzig anlegt und suitenhaft offen läßt. Damit rückt er es auf die Ebene des Spielerischen, gibt ihm den Reiz der Einmaligkeit und übt kluge Selbstbescheidung. – In seinem jüngsten Werk, der ›Kammermusik Nr. 1‹ (op. 24) ist ebenfalls das Sonatenprinzip durchbrochen, jedoch die Formeinheit strenger gewahrt; das Orchester klingt abenteuerlich.
Es liegt gegen einen Mann, der so vieles und vielerlei schreibt, der Verdacht der Extensität, des psychisch allzuleichten Produzierens nahe. Sicherlich hat er nicht Gleichwertiges geschaffen, ist Verführungen erlegen, ist nicht frei von Artismus und manchen Ressentiments. Auch fällt es schwer, ihn auf eine Formel zu bringen. Er ist nicht, was man so einen Musikanten nennt, er ist auch nicht im übertechnischen Sinne problembewußt, seine Art ist mehr komplex als kompliziert. Dennoch und vielleicht deshalb ist er eine ganz spezifische Gestalt. Er hat Dumpfheit und Mutterwitz enger Wurzelnähe, er hat Elan und Unbedingtheit der Zielsetzung. Es schwebt ihm etwas vor wie eine neue impassibilité – Maschinenkunst, sagt er mit einem fragwürdigen Ausdruck des George Grosz. Aber es steckt in diesem Willen ein Kern tiefen Künstlertums. Er bezieht sich zuinnerst auf das Verhältnis zur Realität, einer Realität, die in der Musik mehr und mehr an Würde und Eigengesetzlichkeit verlor; sei es, daß sie wie bei Brahms im Abgrund der subjektiven Innerlichkeit versank; sei es, daß sie wie bei Strauss in ihrer Stofflichkeit, losgelöst vom Ich, durch psychologische Analogien dargestellt, sei es, daß sie wie bei Debussy als bloßer Reflex des Ichs gefaßt ward. Bei ihm aber kündet sich das Bestreben an, die Realität als gültige Komponente in den Bewußtseinszusammenhang hereinzuarbeiten. Dies ist der Sinn seiner Demut, seines wirbelnden Lachens, seines jähen Erschreckens, dies zieht ihn zu Trieb und Tanz; dies auch stellt seine Menschlichkeit in die geistige Bewegung unserer Zeit.
Fußnoten
1 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
2 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
3 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
4 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
5 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
II
Hindemiths neuen Ton, den archaisch-klassizistischen, angemessen zu begreifen, muß man die Entwicklung überdenken, die an der Musik des Dreißigjährigen sich vollzog. Die Fragen, auf deren bewußte Antwort sie heute drängt, erwuchsen ihm längst schon, beunruhigender stets, aus der Komponierpraxis. Als sein Trieb, aufs Auswendige gerichtet, sich erhitzte am widerstandslos in der Zeit ablaufenden Tempo der Maschine, dem Gleichnis zivilisierten Lebens, das sich selbst nur entrollt; als sein Selbst schwermütig sich dämmte an den Betonwällen entleerter Objektivität, traf die Technisierung seine Technik zumal. Entscheidend akzentuierte sich ihm Metrik und Rhythmik; folgerecht vergleichgültigte sich melodische Plastik und harmonische Kontrolle. Formprobleme gar rückten kaum fordernd in sein Problemfeld, sei es, daß er Formen fertig hinnahm, souveränen Respektes, allein mit der Schärfe seiner sicheren Koloristik neu sie beleuchtend; sei es, daß er drastische Lösungen leichthin vom Tage sich zuspielen ließ; sei es endlich, in den besten Werken, daß er sich in einer lyrischen Sphäre hielt, die ganz ihm unterworfen, von der allgemeinen Formproblematik dicht isoliert scheint. Das Quartett op. 16, die erste Kammermusik, die ›Junge Magd‹ etwa repräsentieren typisch klar, wie sicher der Name musikantischen Wesens die sprengenden Forderungen bannte, ohne der Aktualität sichtbar sich zu begeben. Jene Forderungen indessen gelten gleichwohl; Geschichte zwingt, sie zu erkennen. Wenn die private Zufälligkeit des Komponierens selbst objektiven geschichtlichen Charakters, ihre geschichtliche Konstitution durchsichtig ist, so reicht sie gewiß nicht hin, blind vor der Macht der Situation sich zu behüten, die ihren schmalen Raum erst prägte. Zwar mag der Komponist die Totalanlage seiner Gebilde der Dialektik zu entheben trachten, die zwischen seiner Natur und der Erkenntnis in Geschichte hart waltet. Dann aber überfällt sie ihn im technischen Detail und verwirrt inwendig den Plan, dessen Umriß kraft geschichtsloser Natürlichkeit unerschüttert bleiben sollte.
Die mechanische Objektivität verstand Hindemith als Garantin seines Musikantentums. In ihr durfte der vitale Drang elementarisch sich selber setzen, ohne einsam zu verfallen; durfte zugleich der aktuellen Realität adäquat sich glauben. Vorab nutzte sie als Mittel die Metrik, eine Metrik der Wiederholung, der getreuen durch chromatische Sequenzen oder der steigernd gedrängten. Metrische Wiederholung rückte das melismatisch Einzelne in blanken Zusammenhang; die lyrische Konsequenz des Melos schnitt sie ab, dessen bloße Individualität zu überwinden, und bar aller konstruktiven Mühen, wie im Tanz, zulänglich gegliedert auch, fügte die Musik sich zu großen Sätzen. Nicht stimmig jedoch ging das Kleine in diese über. Die immanente Harmonik der Themen, oftmals die Motivzellen sogar, widerstrebte der geläufigen Zuordnung; zu einmalig-expressiv klangen die Akkorde, um sich beliebig stufenweise transponieren und wiederholen zu lassen, in andere Richtung zielte die motorische Energie der Einfälle, als die Symmetrie zu wirken ihr gestattete; nirgends vermochte die vorgesetzte Objektivität die subjektive Spannung verbindlich zu fassen. Der Schein der Lösungen wurde mit ihnen bereits offenbar.
Als Hindemith die Gefahr seines Beginnens erfuhr – vor Jahren schon übrigens wies Adolf Weißmann auf die Unzulänglichkeit der Wiederholungsmetrik hin, die doch zugleich dem Komponisten leichten Erfolg brachte –, blieb ihm nicht die Freiheit, zum technischen Grunde der Inhomogenität von Ganzem und Teil, zur motivischen Gestalt selber, zurückzukehren und ihrer konstruktiven Kraft ins Ungewisse zu folgen. Nicht allein hatte seine gesamtmusikalische Attitude längst zu deutlich sich verfestigt, eine radikale Wendung zu gestatten. Seine originäre Intention vielmehr war solcher Wendung entgegen. Notwendig hätte die Wendung das Bild natürlichen Lebens verstört, das Hindemiths Musik bietet. Das bedenkenlose Musizieren wäre von der technischen Reflexion durchkreuzt, spirituell gebrochen worden und allerdings: es hätte diese Brechung ertragen müssen. Zu unbestätigt aber wieder ist es dazu heute bei sich selber und darum bei Hindemith zum ideologischen Zentrum erstarrt, das Kritik von sich fern hält, auch da es in Widerspruch geriet mit der eigenen Konkretion. Ästhetisch abgelöst, kulturpolitisch zugleich fixiert hat sich der Objektivismus, der auf die Wiederholungsmetrik sich stützt. Sein innerkompositionelles Korrelat zerfiel; die Antiromantik ist romantisch geworden. Im Sprung zwischen Ideologie und Konkretion zeichnet sich faßlich genug die Not einer Gesinnung ab, die, Gesinnung bloß, eine ästhetische Objektivität meint, die real mit ihr nicht gemeint ist. Wenn Auswege ihr sich versperren, macht sie sich konsequent zur Tugend. In polemischer Strenge verlangt Hindemith von sich eilig maschinelle Objektivität; ihr widerstreitet der Ursprung des konkreten Werkes, das er ihr unterstellt. Was anders könnte der bündigem Verfahren geneigte Komponist beginnen, als den Konflikt der Postulate schlichten im Schein einer Versöhnung aus besserer, bestätigter Objektivität, hoffend, es möchte ihr Licht dem Einzelnen den jeweils gemäßen Ort erhellen? Hindemith strebt einer Formapriorität zu, die objektiv sein soll, vorgegeben, ohne tötende Wiederholung zu erheischen, ohne aber auch die organisch-natürliche Lebendigkeit des musikantischen Vollzuges zu gefährden.
Im Quartett op. 22, dem Fugato zumal, und in den Marienliedern, deren Textwahl nicht mehr zufällig wirkt wie vor drei Jahren, kündigte die Änderung sich an. Im Quartett op. 321 ist sie manifest. Überaus bezeichnend der Bau des ersten Satzes, der sich als Synthese von Doppelfugato und Sonate versucht. Das erste Fugatothema ist weit ausgesponnen; es gliedert sich in ein prägnantes Motiv und eine langatmige, deutlich nun parodistische Sequenzgruppe und wird in einiger Freiheit durchgeführt. Das zweite, wenig plastische hat Seitensatzcharakter; der geschickt eingeleitete Kombinationsteil steht für die Sonatendurchführung, die – notengetreue – Repetition des Eröffnungsabschnittes der ersten Fugatogruppe für die Reprise. Das fugale Prinzip will die Wiederholung der Motive regeln, anstatt daß die Wiederholung als Rezept fungierte; die Wiederholung, deren Hindemith doch nicht ganz entraten mag um des musikantischen Programmes willen. Zugleich aber herrscht die Fuge literarisch: der Glanz ihrer Bezogenheit, der entschwand, wird zitiert, und die historische Erinnerung an die vergangene Macht will den Widerspruch beschwichtigen, der zwischen Thema und Ganzem hier auch fortbesteht. Er wird evident am Rekurs auf die Sonate: die ortsbestimmende Gewalt der Fuge bewährt sich nicht so, daß die Themen in ihr ruhten, die Themen drängen aus ihr heraus und möchten die Form von sich aus bilden, wozu es ihnen – den Fugenthemen – an Expansionsfähigkeit wiederum gebricht. Die Problematik der früheren Werke hat sich gewandelt; getilgt wurde sie nicht. – Im zweiten Satz spricht erstmals bei Hindemith die Rezeption Bachs unmittelbar sich aus; die Absicht leidet an melodischer Schwäche. Der anschließende ›Kleine Marsch‹ zählt zu den gelungensten Virtuosenstücken, die Hindemiths kecker Griff aus den Möglichkeiten des Streicherklangs heraushob. Die Passacaglia dann, geistig und thematisch verwandt dem ersten Satz, nähert sich überraschend, doch verständlich der Busoni-Schule; instrumentale Kenntnis schützt sie rechtzeitig vor Gelahrtheit.
Entschlossener noch hat das Streichtrio op. 342 den neuen Ton. Die einleitende Toccata wandelt ein nicht sehr gewähltes Thema im stählernen Rasen des perpetuum mobile ab; wahrhaft eines perpetuum mobile, dessen Bewegung aus dem Nichts anhebt und drei Instrumente tosen macht wie großes Orchester. Der langsame Satz kopiert mit archaistischer Härte, des harmonisch Leeren froh, den Bachischen Triostil; die absichtliche Dürftigkeit freilich läßt mit dem kargen Maß der Fülle sich nicht verwechseln. Das Genre-Intermezzo, hier dem Pizzicato abgezwungen, ist dem kleinen Marsch des Quartetts ebenbürtig; dagegen liegt die Finalfuge in jedem Betracht unter Hindemiths Niveau; ihre Korrektur hat der Autor in anderen Werken längst vollbracht.
Extrem in der archaischen Gebärde ist die ›Kleine Kantate nach romantischen Texten für Sopran, Oboe, Bratsche und Violoncello‹ ›Die Serenaden‹ op. 353. Extrem zwar, doch eben nur in der Gebärde, nicht in der Absicht des Formens wie die Streicherwerke. Während jene romantisch sind, nennt diese sich bloß romantisch; was dort gewichtig beschworen ward, dient hier als Rahmen gelegentlichen Maskenspiels. Keine erhebliche Musik ereignet sich in diesem Rahmen: doch flüchtige Anmut, flüchtige Trauer, eine Lyrik ausgesparter Gefühle, deren prätentionsloser Leichtigkeit man willig folgt.
Die ›Kammermusik Nr. 2‹ (Klavierkonzert) op. 36, Nr. 14 mußte bereits bei der Uraufführung einigermaßen enttäuschen; die Noten, die Hindemiths bestes Teil, das sinnliche Realisierungsvermögen, zuweilen eher verstecken als enthüllen, stellen das Werk nicht günstiger dar. Das Fünfachtelmotiv des ersten Satzes hat nicht Konsistenz genug, eine längere Musik allein zu tragen, und der matte vierte Satz mit dem obligaten Fugato will einmal zum Ende nicht taugen. Bleiben, als Gewinn, die Mittelstücke; das Adagio, das etwas vom anderen Hindemith mitteilt, dem dunkleren, gebundenen, der sich stets fast verschweigt; der bewegtere Abschnitt hat eine entlegene Fremdheit der Farbe. Das ›Kleine Potpourri‹ erhält sich lausbübisch entzückend. Aber der durchweg imitatorische, zweistimmige Klaviersatz, der das Instrument vom rudimentären Zauber akkordischen Pedalklangs säubern soll, gibt doch zu wenig Kontraste her, um konzertant zu bleiben; kann als orchestraler Farbwert gelegentlich nur gelten und tendiert merkbar zur klassizistischen Spieldose.
Das klassizistische Ende entwächst dem klassizistischen Ursprung: der frei gesetzten Objektivität, der die geschichtliche Wahrheit nicht entspricht und deshalb nicht das subjektive Konkrete, über das sie sich erstreckt. Die Werke aus Hindemiths klassizistischer Epoche treten mit dem Anspruch auf, in den Formen zu spielen, und spielen tatsächlich mit den Formen bloß. Darum nur hat er die Wahl zwischen gegebenen Formen, weil keine Form ihm – so wenig wie einem anderen – gegeben ist. An dies Ungemäße im Verhältnis einzig ästhetischer Realität und realer Leistung des Ästhetischen mußte Kritik rühren. Es liegt ihr fern, Hindemith nach dem Maß seiner Absicht zu messen; was ihm im Bereich der Absicht mißlingt, läßt sie selbst mißlingen. Daß er von sich aus, in ihren Grenzen, untrüglich ihr nachkommt; daß sein Naturell im Schein der vielfältigen Vermummung spielend sich behauptet, wie es sie verlangt – dies eigentlich versteht sich von selbst.
Fußnoten
1 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
2 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
3 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
4 Erschienen bei B. Schott, Mainz.
III
Seit geraumer Zeit ist die Rede von Musikantentum und Musizierfreudigkeit als Kompliment in die kritische Phraseologie eingegangen. Der Clichégebrauch weckt Mißtrauen und das Wort selber. Denn es widerspricht den realen gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen heute Musik gemacht wird, ebensowohl wie der Sprachgeschichte, die, in Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen, nicht mehr den Musikanten, sondern den Musiker kennt. Der Musikant, der da einmal umherzog, verhielt sich unmittelbar zu denen, die ihm zuhörten: er ›spielte ihnen auf‹; was er begann, hatte Gebrauchswert, sei es, daß er dem Tanz diente, sei es, daß er die Leute aufheitern wollte; was er brachte, war an die Unmittelbarkeit des Gebrauchs gebunden, noch nicht zur Form geronnen, unablösbar vom Augenblick des Erklingens; lagen bestimmte Melodien zugrunde, so schaltete mit ihnen Freiheit der Improvisation; die improvisierende Geschicklichkeit in der Handhabung der Instrumente galt mehr als die Frage nach der Gestalt dessen, was geboten ward, weil eine objektive Gestalt der musizierten Musik noch nicht existierte. So wenigstens will es dem romantischen Blick erscheinen, der aus einer von Dingen und Waren gründlich verstellten Umwelt in die offenere und sinnvollere Vergangenheit entweichen möchte, gleichgültig, ob sie nun bestand oder nicht. Vom Musikanten und Spielmann hat die Romantik gesprochen; bei Eichendorff ist er geradenwegs der, welcher sich den Normen des erstarrten Lebens nicht einfügt, sondern als Vagant das Gedächtnis an die verlorene geschöpfliche Freiheit wachhält. Es kennzeichnet tief die Unstimmigkeit und Unsicherheit des neusachlichen Betriebes von heutzutage, daß er einen seiner wirksamsten musikalischen Begriffe ungebrochen eben dem romantischen Denken entleiht, das man zu bekämpfen vorgibt und dem man wider Willen doch unterworfen bleibt, indem man aus Geschichte in trügerische Natur ausbricht. Es gibt keine Musikanten heute. Selbst wer den Lumpenproletarier so nennt, der mit der Drehorgel von Hof zu Hof geht, stilisiert ihn, um sich der Einsicht in Jammer und Not seines Lebens zu entziehen; die Unmittelbarkeit jener letzten Musikanten liegt nicht oberhalb, sondern unterhalb der bürgerlichen Ordnung; nicht er geht über sie hinaus, sondern sie hat ihn aus sich ausgeschlossen, und einzig dialektisch, im Umschlag, könnte er auf echte Unmittelbarkeit deuten. Sonst aber sind die Musiker gründlich seßhaft geworden und bleiben es auch dann, wenn sie in den Ferien mit geschmückten Lauten die Sommerfrischenwälder durchstreifen. Jonny spielt in Wahrheit nicht auf; Whiteman konzertiert, und es wird dazu getanzt; Gebrauchswert hat Musik nur, wo sie dazu dienen soll, andere Leute wieder zu lehren, Musik zu machen, im Unterricht; die Musik, die schließlich dabei herauskommt, hat wieder keinen Gebrauchswert und stellt somit auch den pädagogischen Wert in Frage; insgesamt aber ist Musik als Ware tauschbar geworden gegen abstrakte Einheiten, die ihrem Gebrauch gänzlich fern liegen: gegen Geld; sie ist darum dinglich und objektiv und Gestalt bei sich selber – womit sie, wohlverstanden, gegen die primitive Unmittelbarkeit nicht verlor, sondern gewann –; und ihr Warencharakter läßt sich nicht isoliert, also von der Musik aus korrigieren, sondern seine Veränderung hätte die Veränderung des gesamten gesellschaftlichökonomischen Produktionsprozesses zur Voraussetzung. Der Raum zur improvisatorischen Freiheit, schon beim Jazz dürftig genug, ist in der ernsten Musik gänzlich verschwunden; sie kennt keine bessere Forderung als die nach strenger Realisierung ihres Notentextes; die Handhabung der Instrumente steht einzig noch im Dienste solcher Realisierung, und es bleibt den Musikanten nichts anderes übrig, als improvisatorische Freiheit und instrumentale Virtousität im Notentext selbst festzulegen, »auszukomponieren« – wodurch die intendierte Unmittelbarkeit zurückgenommen wird und allein als kunstgewerbliches Ornament ihre Wirkung tut, als das Schlimmste, was man dem neusachlichen Programm antun kann. Das neue Musikantentum, widerspruchsvoll im Ursprung, gerät durch jeden Zug seiner Verfahrungsweise in Konflikt mit dem, was ihm selber möglich ist.
Dagegen wäre bequem einzuwenden: der Ausdruck Musikant könne fallen, es handle sich um eine Wandlung der musikalischen Gesinnung; anstelle des ungehemmten oder, wie man es wohl zu nennen beliebt, »überspitzten« Subjektivismus trete eine Kunst, die nicht mehr dem Ausdruck des einzelnen diene, sondern objektiv verbindlich sei; geprägt bei sich selber, den anderen verständlich; die Arbeitsteilung, die den Musiker vom Publikum trenne, werde widerrufen, Leid und Schwermut der Person abgeworfen und gesunde Kollektivität melde sich an. All das ist fragwürdig. Der Ausdruck kann nicht fallen; Namen lassen sich nicht nach Belieben auswechseln, sondern in ihnen liegt die geschichtliche Figur des Erscheinenden beschlossen; woher die neuen Bindungen der Musik, bei gleichbleibenden gesellschaftlichen Verhältnissen, stammen sollen, ist unklar, es sei denn, man mache die bestehenden Mächte als solche zu Gottheiten und rede der für sich sinnleeren Kollektivität ein, ihre Kollektivität sei ihr Sinn; die Preisgabe der Arbeitsteilung wird, heute und hier, durch einen Dilettantismus erkauft, der die Musik qualitativ verschlechtert, einerlei ob sie subjektiv oder objektiv ist; vor allem aber: mit der Gesinnung ist es nun und nimmer getan und am wenigsten für eine Musiktheorie, die anstelle des subjektiven Ausdrucks, auf dessen Seite ja alle Gesinnung gehört, die Verbindlichkeit des Erklingenden selber rücken möchte. Mit der Beschimpfung des »Intellektualismus«, der weder als Einzelerscheinung unabhängig von seinen gesellschaftlichen Bedingungen zu bekämpfen noch am Ende gar bekämpfenswert ist, wird so wenig getan wie mit der geflissentlichen Bekundung der eigenen Naivetät, die die Naivetät Lügen straft. Will das neue Musikantenideal sich ausweisen, so muß es innermusikalischen Kriterien standhalten; es muß sich zeigen, daß im Namen des Musikanten bessere, handwerklich gefügtere, stimmigere und reichere Musik zustande kommt als im Namen der Subjektivität, die mit ihrer selbstherrlichen Kundgabe die Ruhe des Gebildes in sich selbst verstört haben soll und die – das freilich ist vorab gründlich zuzugestehen – verfiel.
So schwer es hält, eine allgemeine Charakteristik der Musikantenmusik zu geben – denn sie erwächst ja nicht, wie sie es beansprucht, in einer homogenen Gemeinschaft, sondern in der differenziertesten Umwelt und zeigt sich so vielgestaltig wie die Umwelt selber –: einiges läßt sich immerhin sagen. Zunächst: die Musikantenmusik steht in einem besonderen Verhältnis zu der Zeit, in der sie abläuft. Die Zeit ist ihr nicht die Form, in der das musikalische Wesen in Erscheinung tritt und sich objektiviert, sondern sie setzt der bei sich selber ziellosen Musik ihre einzige Aufgabe, wenn man will ihren »Inhalt«: die Musik soll die leer ablaufende, ängstigende Zeit »füllen«. Darin nähert sich die Musikantenmusik der unteren Gebrauchs –: der Amüsiermusik an; mit dem Unterschied, daß diese falsche, unechte Inhalte in der Zeit exponiert, während jene in der Zeit allein sich selber setzt. Darin zeigt der lediglich fiktive Gebrauch sich an; für Menschen wird die Zeit ausgefüllt, aber nichts ist da, was sie ihnen füllte und sie erreichte. – Andererseits dankt Musik, die auf Ausfüllung der Zeit aus ist, der Zeit selber gar nichts: alle die reicheren, gliedernden Zeitrelationen, die ehemals die Form von Musik bildeten, fehlen, der bloße Ablauf ist allein übrig und organisiert roh und primitiv die Form. Die »Motorik«, die der Musiziermusik eignet, ist der technische Ausdruck dafür. Und der Ausdruck technischer Problematik zugleich. Denn das Ausgangsmaterial der Musiziermusik ist selber geschichtlich bereits so differenziert, daß es der primitiven Handhabung sich nicht einordnen will. Die Unmöglichkeit, mit einem harmonisch und melodisch freizügigen Material in Sequenzen zu operieren, wie es die Musiziermusik anfänglich liebte, ist früh erkannt worden. Aber auch eine sorgfältiger gearbeitete Ornamentik gerät nicht. Sie setzt allemal eine gewisse Beharrlichkeit und Unabänderlichkeit des Grundmaterials voraus, die nicht mehr besteht. Gerade diese Voraussetzung bewirkt Brüche. Durch die bloße Zeitfüllung, die Motorik, die keinen Augenblick den rhythmischen Atem anhalten läßt, um nur ja die Zeit zu übertäuben, ist gerade das thematisch Einzelne ausgeschliffen und banalisiert: entweder als grobschlächtiges, rhythmisches Modell oder als konturloser Kontrapunkt. Solches Material, das nicht anders sein kann, wenn die zeitfüllende Bewegung überhaupt möglich sein soll, ist aber zugleich am letzten fähig, so beliebig und unverändert sich wiederholen, so unplastisch-kontrapunktisch sich weitertreiben zu lassen, wie gerade das Bewegungsideal es erheischt. Die Musikanten-Motorik geht davon aus, daß rhythmisch-melodisch aufgelöste und durchgeformte motivische Einzelkomplexe sich nicht beliebig wiederholen, nicht in durchlaufender Bewegung aneinanderfügen lassen, worauf es notwendig einer Musik ankommt, die die Zeit füllen will. Aber die zufälligen, sei's banalen, sei's unplastischen Modelle, die die Musikanten statt dessen zur Zeitfüllung aufstellen, sind nicht wert, wiederholt oder weitergetrieben zu werden; ihre Fortführung bewirkt eben jenen Leerlauf, der die Zeitfüllung als Trug charakterisiert; Leerlauf nicht derart, wie die Musikanten es beanspruchen, als Abwesenheit subjektiv-expressiver Ausdrucksgehalte, sondern Leerlauf im technisch-kompositorischen Verstand; Abwesenheit aller Gliederung in der Zeit, es sei denn daß man die gröbsten Außendispositionen so nennen wollte; Fortfall jeder dialektisch-kontrastierenden Möglichkeit der Komposition, die die Zeit meistern könnte. Kompositionstechnisch gesehen ist der Neoklassizismus nichts als der Versuch, diese Schwierigkeiten zu bewältigen durch Rekurs auf alte Vorbilder, in denen noch nicht jener Bruch von Einzelnem und Ganzem waltet, der die Musikanten, oder die Wissenderen unter ihnen, quält. Ein vergeblicher Versuch. Denn im Rahmen der Tonalität haben, als elementare Erscheinungen, Modelle von der gleichen rhythmischen Einfachheit noch Kraft, während sie in der neuen Musikantenmusik primitiv und banal erscheinen, weil sie nicht mehr als Urphänomene in einem vorgegebenen musikalischen Raum verstanden werden können, sondern einem harmonischen und intervallmäßigen Material, das von den einfachen Obertonverhältnissen weit sich entfernte, höchst unangemessen sind. Es ist darum von Strawinsky nur konsequent, wenn er auch auf dies Material verzichtet und bei Stilkopien landet, die in dissonanter Willkür und literarischer Dämonie, nicht aber in der musikalischen Gestalt selber von den Vorbildern sich scheiden. Über dem Kopf der Musikanten vollzieht sich als ihr Gericht eine sonderbare Dialektik: was mit der Absicht frischer Naivetät begann, endet alexandrinisch. Andere, denen Strawinskys Schicksal erspart bleibt, danken es nicht einem Mehr an ursprünglicher Substanz – keiner von ihnen hat größere Naturfülle des Talents als Strawinsky –, sondern bloß geringerer handwerklicher Konsequenz. Der dürften aber gerade die nicht ausweichen, die das Eigenrecht des Handwerks wiederherstellen wollten.
Am besten ist es ihnen fraglos in der Behandlung des Instrumentalen gelungen. Die Musikantenmusik hat der kompositorischen Technik eines wiedergegeben: den Kontakt mit den instrumentalen Spielweisen. Die Schablone jener neudeutschen Klangphantasie, die nur den fertigen Klang, nicht aber dessen Produktion mehr beherrscht und damit den Klang in all seinem Glanze erstarren läßt, hat sie aufgelockert, indem sie beharrlich den Instrumenten nachhörte, was sie spielen möchten. Strawinskys Befreiung des Schlagzeugs, Hindemiths Bläseraktionen bezeichnen wahrhaft einen Durchbruch, und es ist kein Zufall, daß gerade hier die Kritik des Jüngstvergangenen der Musiziermusik am drastischsten geriet; der »Duettkitsch« aus ›Neues vom Tage‹ besiegelt das Schicksal des neudeutschen Orchesters und Strawinskys Fee zitiert das Begrabene phosphoreszierend. Freilich, auch hier liegen die Grenzen nahe genug. Weil nämlich die Instrumente auch der Musikanten einzig an die Realisierung des Textes gewandt werden, ist ihre spielfrohe Autonomie Schein; sie sind nicht für sich selber oder zum Aufspielen da, sondern um motivische und thematische Ereignisse darzustellen. Umgekehrt aber gebärden diese Ereignisse sich so, als ob sie bloße Vorwände für die Instrumente wären, mit ihren Spielweisen zu paradieren; als brauchte die Komposition nur Stimmen zu produzieren, die jeweils von diesem Instrument und keinem anderen technisch ausgeführt werden können. So entsteht, jedenfalls bei den spezifisch konzertanten Musiziermusiken, ein Quid pro quo zwischen Komposition und Instrumentation, in dem die Nichtigkeit des musikalischen Gehaltes sich verbirgt. Positiv gewandt: gleich der thematischen und konstruktiven wird auch die Klang-Phantasie getilgt und durch eine Klang-Erfahrung ersetzt, die sich selber genügt, ohne je über sich hinauszugreifen und in frischer Anschauung Neues zu produzieren. Daß das aber auch bei genauester Kenntnis der instrumentalen Charaktere und in strengster Kommunikation mit dem kompositorischen Gefüge möglich ist, läßt sich an Schönbergs jüngsten Partituren, dem Widerpart allen Musikantentums, erkennen. Die ganze Sphäre der Klangkombination, der eigentliche Ort von Klangphantasie, ist in der Musiziermusik ausgelassen. Die Fiktion der Unmittelbarkeit des Spiels hemmt die Gestaltung des Gespielten.
Die soziologische Problematik der Musiziermusik ist nicht der freischwebenden Reflexion vorbehalten, sondern kommt an den konkretesten technischen Fragen zutage: an der Unmöglichkeit, sie mit Musikantenmitteln zu lösen. Das ideologische Programm des Musikantentums, die Forderung nach jener unbeschwerten Naivetät, die die Musik widerstandslos auf ihre Zeit losläßt, sagt musikalisch: daß eben jene technischen Kriterien von Anbeginn der Musiziermusik ferngehalten werden sollen, denen sie nicht genügen kann. Diese Kriterien aber werden von den Fragen selber aufgerufen, die die Musiziermusik stellt und unbeantwortet läßt. Ideologie ist die programmatische Naivetät noch darüber hinaus. In der Wirklichkeit, in der wir leben, kommt es nicht darauf an, naturhaft fröhlich in den Tag hinein zu leben, wie die Musikanten in die Zeit hinein musizieren: die Wirklichkeit muß durchschaut werden. Das soll, zu ihrem Teil, die Musiziermusik verhindern: sie ordnet sich der allgemeinen kulturellen Reaktion ein. Genauer ließe sie sich vielleicht als Ersatz für den Folklorismus in den hochrationalisierten, industriellen Ländern ansehen. Die Musikanten wollen in der rationalisierten Gesellschaft Enklaven bilden, die der Macht der ratio in dumpfe Natürlichkeit ausweichen; andererseits den blinden Rationalisierungsprozeß selber, als »Tempo der Zeit«, für naturwüchsigmythisch ausgeben und verherrlichen. Sie wollen den Menschen die gute ratio nehmen und die schlechte im Bestehenden als Natur einreden. Wo die Erde nicht mehr ausreicht, Reaktion zu begründen, soll dafür eine allgemeine, schlichte Menschlichkeit herhalten, die sich am bloßen Klingen freut, das jenseits der Geschichte liege. Aber dies geschichtslose Klingen klingt falsch und überholt. Was die Musikanten der radikalen neuen Musik vorwerfen, gilt vorab für sie selber: sie produzieren abstrakt: anstelle der spezifischen Gestalt tritt der Entwurf eines musikalischen Überhaupt der Natur, der kein konkret verbindliches Bild aus sich entläßt; daher die fatale Ähnlichkeit, die die Musiziermusiken allemal miteinander haben und die sich mit Mozarts bestätigten Typen nicht verwechseln läßt. Der Formkanon, der zerbrach und den die Musikanten von sich aus nicht aufrufen können, wird durchs leere, im Material unverbindliche Schema ersetzt. Gehalte, die fehlen, usurpieren die Objektivität jener, die verloren gingen. Inhumanität und Brutalität sind das Ende: Bewußtsein, das erhellt und formt, wird verdrängt von blinder und undurchschauter Rationalität, die die Menschen einzig noch unterdrückt.
IV
Es gibt nichts Harmloses mehr. Der Versuch, eine Kompositionslehre zu schreiben, die sinnvolle Regeln für die gegenwärtige Praxis aufstellt; die sich weder dabei bescheidet, bloß zu registrieren, was heute etwa an kompositorischen Mitteln verwandt wird, noch die überholten Gesetze der Schuldisziplinen von Harmonie und Kontrapunkt weiter zu konservieren, scheint gesellschaftlich neutral. Aber die Neutralität selber ist ein Politikum. Hindemith nennt seine Schrift preziös-biedermännisch ›Unterweisung im Tonsatz‹. Er stellt die Versunkenheit des Handwerkers zur Schau, der seine guten Stücke fertigt, nicht achtend der bösen Zeitläufte. Die schlichte Weltferne ist ein Trick und eine Ausflucht. Sie wird bestraft, indem sie allenthalben in den Bann dessen gerät, womit sie nichts zu schaffen haben möchte.
Hindemiths unzeitiges Handwerkerideal produziert den Kultus einer Geschicklichkeit, deren Naivetät bloß noch in der unbefangenen Mitteilung ihrer selbst und nicht in ihrer traditionellen Substanz besteht. Die alten Meister sind keß geworden: »Die Geschicklichkeit kann nie groß genug sein, der gewaltigste Könner wird immer noch hinzulernen können.« (25) Nur auf die Zugehörigkeit zur Zunft wird strikt gehalten. Zum Begriff der Geschicklichkeit gesellt sich der des Fachmanns: »Was bei freigebigster Zubilligung persönlicher Eigenheiten dem Verständnis des Fachmanns nicht mehr zugänglich ist, kann unmöglich dem einfältigen Hörer überzeugender erscheinen.« (16) Dabei ist er doch selber einfältig genug, der Meister, »der die naturgegebenen Untergründe seiner Arbeit erschaut oder mindestens erfühlt«. (16) So schreibt heute die Kulturopposition in Deutschland. Für ihre Wortkunst gilt wie für Hindemiths Tonsatz, »daß eine leichte Handhabung dieser Gebilde gewährleistet wird«. (121) Der neugotische Fachmann möchte »die kühnsten harmonischen Spannungen und Verstrebungen herstellen, ohne sich auf die unsichere Arbeitsweise ständigen hörenden Ausprobierens der Klänge verlassen zu müssen«. (137) Er ist ein ästhetischer Verwaltungstechniker. Sein ordo ist die Routine. Es kommt ihm schließlich doch darauf an zu klassifizieren: »Das Ergebnis der Klangbestimmung nach der hier angegebenen Methode ist eine Phänomenologie aller Akkorde. Es gibt keine Zusammenstellung von Intervallen, die nicht in eine der Abteilungen des Systems paßte. Zusammenklänge, die ein Theorielehrer nur in Alpträumen analysiert, die ein Kontrapunktlehrbuch, das etwas auf sich hält, nicht auf seinen Seiten duldet, können nun leicht erklärt werden.« (120) Er legt ein Ordnungsschema aller anbetroffenen Zusammenklänge an. Erklärt wird gar nichts; allenfalls ein Abstammungszertifikat beigefügt.
Erklärt wird gar nichts – außer wo es nichts zu erklären gibt. Der »gläubige Musikus« (72) verwandelt sich in einen wütenden Rationalisten, sobald er es mit Akkorden oder auch bloß Intervallen zu tun hat, in denen historische Erfahrungen sich niedergeschlagen haben: die die Spur des geschichtlichen Schmerzes tragen. Sie müssen um jeden Preis aus reinen Gesetzen bewiesen werden, selbst wenn sie gesellschaftlich längst so sich verhärtet haben, daß sie als zweite Natur der Bemühung der ersten gar nicht bedürfen. Mehr als ein Viertel des Buches, »der Werkstoff« zubenannt, befaßt sich damit, die zwölf Töne der chromatischen Skala aus der Obertonreihe hervorzuspinnen. Natürlich stimmt es nicht mit der Natur; mit der »Zerstörung der Oktavreinheit« (43) durch ausschließlichen Gebrauch reiner Intervalle wird Hindemith so wenig fertig wie alle seine Vorgänger. Er ist aber ein zu treuer Werkmann, um die Rationalisierung der physikalischen Töne durch die temperierte Stimmung als bewußten Eingriff in ein Naturmaterial zu erkennen, das historisch zur Hemmung der musikalischen Produktion geworden war. Wenn es schon mit dem Werkstoff nicht seine Richtigkeit hat, dann immer noch lieber unangemessene Physik als Einsichten, die die Vorstellung des »Werkstoffs« selber gefährden könnten. Offenbar ist bereits Max Weber subversiv geworden.
Was nun die temperierte Skala selber anlangt, so ist Hindemith beileibe kein Pelasger, sondern ein gemäßigt Moderner. Die hämische Skepsis gegen den »Fortschrittsglauben« ist wohl verträglich mit der Akzeptierung jeden Fortschritts, der im Rahmen des Bestehenden sich hält. Die temperierte Skala wird zunächst so rigoros kritisiert, als ob für die zarten Ohren des Fachmanns nicht bloß die Enharmonik des Tristan sondern eigentlich schon das Beethovensche Orchester unerträglich falsch klingen müßte. Aber er ist viel zu vernünftig, all das etwa zu verbieten. Als Korrektur ist ihm das Chorsingen recht, wie es wohl von der bündischen Jugend praktiziert wurde. Verboten ist heute die bündische Jugend.
Hindemiths Toleranz gegen den vergangenen Fortschritt tut jedoch seinem Eifer keinen Abtrag, eine natürliche »Rangliste der Tonverwandtschaften« (72) auszuarbeiten. Sie stellt die Vermittlung dar zwischen den »großartigsten Naturerscheinungen; einfach und überwältigend wie der Regen, das Eis, der Wind« (39) und der Kochkunst. Die Intervalle und Akkorde werden abgeschmeckt, als kämen sie aus dem Gewürzschrank. Neuere heißen »überpfeffert«. Manche sollen, an sich, schwächer und andere stärker sein: »Der Quintschritt g1-c1 hat stärkere harmonische Wirkung als der Quartschritt e1-a1, dessen Klangwert ist wiederum größer als der des Terzschrittes c1-e1 oder des Sekundschrittes a1-g1.« (100) Was stark heißt, bleibt ungewiß: es kann ebenso gut bedeuten, daß das von Hindemith errechnete Intervall in seiner Tabelle einen früheren und darum besseren Platz einnimmt als das schwache, wie daß es auffälliger sich präsentiert – worüber nicht generell sondern nur in bestimmtem Zusammenhang zu entscheiden wäre. Die Rangliste bemächtigt sich auch der Akkorde. Dabei ist geradeswegs von »wertvoll« die Rede. Es wird jede, nach Hindemiths Auffassung, dezidierte und eindeutige harmonische Wirkung stillschweigend als die bessere aufgeführt, als ob nicht im Kunstwerk Wirkungen der Suspension solche des blanken Fortgangs immerhin überwögen. Die Akkordrangliste läßt sich an wie eine Ästhetik der Malerei, die »schönen« Farben vor »häßlichen« unter Absehung vom Bilde den Vorrang geben wollte. Der Komponist des aggressiven Nusch-Nuschi und der blasphemischen Sancta Susanna, zum Anwalt des »gesunden Empfindens« (39) geläutert, unterweist: »In der Komposition kann der Dreiklang oder seine unmittelbaren Erweiterungen nur auf kurze Zeit vermieden werden, wenn den Zuhörer nicht vollkommene Verwirrung erfassen soll.« (39) Den Komponisten hat sie längst erfaßt; sonst würde er nicht Thesen proklamieren, die er mit seinen besseren Stücken selber verhöhnt hat. Der Grund der Verwirrung ist technisch bestimmbar. Hindemith sieht, daß die Regeln der Harmonielehre, die die Akkorde »funktional«, nämlich nach ihrem Stellenwert in der Kadenz und deren Erweiterungen, einschätzen, mit der kompositorischen Praxis nicht mehr übereinstimmen. Er ist darum sogar bereit, Begriffe wie Konsonanz und Dissonanz preiszugeben. Aber er versucht eine Rettung jener überholten Normen, indem er sie von jeglichem Zusammenhang emanzipiert und an die isolierten harmonischen Einzelereignisse heftet. Wenn jedoch nicht die Stellung in der Kadenz über Richtig und Falsch eines Akkords entscheidet, dann sträubt sich noch viel mehr der einzelne Akkord gegen die Werthierarchie. Sehr wohl läßt sich in jeder Komposition über die Richtigkeit oder Falschheit ihrer Momente entscheiden, doch nach keinem anderen Maßstab als dem des bestimmten und einmaligen Zusammenhangs, zu welchem jene Elemente in der Komposition zusammentreten. In diesem erscheinen die einzelnen Momente als historische und nicht als Naturprodukte. Hindemith korrigiert einige harmonische Beispiele mit umständlichem Aufgebot eigens von ihm »errechneter«, übrigens ziemlich triviale Kompositionserfahrungen widerspiegelnder Begriffe wie »harmonisches Gefälle« und »Sekundgang«. Die von ihm bezeichneten Fehler wären einfacher zu bestimmen als Vermischungen von Akkorden historisch verschiedenen Wesens. Ein Dreiklang in einer Folge vieltöniger Akkorde klingt in der Tat falsch. Die Praxis der gemäßigten Moderne, der Hindemith die Ideologie liefert, besteht aber gerade darin, der verleumdeten Atonalität und Zwölftontechnik die Zähne auszubrechen, indem die über weite Strecken freizügige Musik mit Dreiklängen durchsetzt wird, den Hörern zum Halt und der Musik zum Schaden. Falsch klingt die gemäßigte Moderne selber.
Der Versuch einer Harmonielehre, die das heute verfügbare Material nach generellen Regeln normiert, ist widersinnig. Es gibt eine eigene Kunst der Instrumentation erst seit hundert Jahren. Daß keine normative »Instrumentationslehre« ausgebildet wurde, sondern bloß deskriptive Instrumentenkunde, hat seinen guten Grund: die Entdeckung der instrumentalen Dimension fällt in eine Epoche, die der Musik allein noch die konkrete Logik der Bewegung des einzelnen Werkes und nicht länger das abstrakte Schema verstattet. Was aber der Instrumentation recht ist, ist billig für die progressiven harmonischen Tendenzen. Nicht zufällig beschränkt sich gerade Schönbergs Harmonielehre auf das traditionale Akkordmaterial: sie verwendet es bloß pädagogisch, um ein Bewußtsein zu bilden, das seiner selbst mächtig ist und darum endlich jeden Schemas entraten kann. Von dieser historischen Tendenz legt Hindemiths Buch wider Willen Zeugnis ab, indem es sich dazu bescheidet, jene Ordnungsschemata anzulegen. Reaktionär wird es in dem Augenblick, in dem es die Ordnungsschemata als Normen ausgibt. Seine Verbote sind Fesseln der musikalischen Produktivkraft: durch armselige Hilfskonstruktionen wird eine an der Konvention orientierte, beschränkte Komponiererfahrung zur Ontologie aufgeplustert. Nichts soll vorkommen, was nicht schon da war: was nicht sich begnügt, das Bestehende bloß zu reproduzieren. Spekuliert wird auf ein regressives Bewußtsein, das nur noch den Wunsch kennt, aus der Verantwortung des selber Erkennens entlassen zu werden, und das die unerhellten und praktischen Anordnungen der Verwaltungsinstanz als objektiv verbindlich befolgt. Es ist die Objektivität des Führerprinzips: freiheitsfeindlich und selber dabei unverbindlich.
Die Rangliste der Intervalle und Akkorde steht im Dienst einer Elite, mag diese immer so schäbig sein wie die ewigen Dreiklänge. Von den Intervallen wird gesagt: »Der Tritonus bildet mit keinem anderen Intervall ein Paar, er steht rechts der Intervallpaare allein als Gegenstück zur Oktave, welche an der linken Flanke der Reihe den abgesonderten Eckplatz innehat. Sie als das vornehmste, edelste Intervall mischt sich nicht unter die Menge; der entfernteste Verwandte, der Sonderling, der halbechte Tritonus bleibt den Paaren fern wie Loki den Göttern.« (96f.) Auch die verwaltungstechnische Akkordtabelle dient höheren Zwecken: »Die Untergruppe III in der Gruppe A umfaßt Akkorde mit beliebiger Tonanzahl, die durch Sekunden und Septimen erweitert werden. Sie sind ein grobes und wenig edles Geschlecht ... In der Untergruppe IV findet sich ein seltsames Gelichter überspitzter, buntgefärbter, unfeiner Klänge.« (118) Offenbar handelt es sich dort um Proletarier, hier um Intellektuelle. Mit ihrer Diffamierung wird die alte Harmonielehre durch die Hintertür wieder eingelassen. Von Dissonanzen will der Theoretiker Hindemith noch weniger wissen als der Praktiker. Er ist positiv. An seinem ›Marienleben‹ hat er etwas gelernt: »Daß das Werk zur Ehre des höchsten Wesens geschaffen wird und darum auch seiner Unterstützung sicher ist, spüren wir bei vielen Komponisten, selten aber so eindringlich wie bei Bach, dem das ›Jesu iuva‹ in seinen Partituren keine leere Formel war.« (27) Wenn heute die Unterstützung nicht mehr so sicher ist, so mag das mit den leeren Formeln mancher Partituren zusammenhängen.
Man muß schon selber organisieren. »Unser Unternehmen arbeitet anders. Es hat eine ungleich größere Anzahl von Werkmännern zur Verfügung, deren Arbeit für das Ganze von unterschiedlichstem Werte ist. Vom Spezialarbeiter allerhöchster Leistungsfähigkeit bis zum Nichtskönner, vom fleißigsten Mann bis zum Faulenzer haben wir Leute aller Leistungsgrade zur Verfügung. Man kann also an jeden Platz einen mit einschlägigen Kenntnissen ausgerüsteten Mann stellen, der seine Aufträge schneller, besser und zuverlässiger erledigen wird, als ein durch seine Vielseitigkeit behinderter Arbeiter; andererseits ist es unnötig, an untergeordnete, aber gleichwohl unentbehrliche Arbeiten, wo die andernorts unverwendbaren Nichtswisser und Faulenzer noch gut aufgebraucht werden können, die Kräfte hochwertiger Könner zu verschwenden.« (122) Leitsätze aus dem Prospekt einer Kathedralen A.-G., deren Werkleute vom freiwilligen Arbeitsdienst überwiesen werden.
Der Unternehmer klagt in freilich anderem Zusammenhang: »Die Revolution kam zu früh.« (65) Sie kommt zu spät. Sonst wäre der Prospekt nicht geschrieben worden.
1939
V
Vorausschicken möchte ich, daß ich zwar früher viele Kritiken schrieb, mich aber nie als Kritiker von Beruf gefühlt habe. Was aus meiner Arbeit unter jene Kategorie fällt, verdankte sich eher dem Zusammentreffen von philosophisch-theoretischem und praktisch-musikalischem Interesse, als daß es jenen richterlichen Anspruch erhoben hätte, den Kritik anmelden muß, sobald sie als die Form, die sie fraglos ist, voll autonom wird. Zum Unterschied davon wollte ich in meinen Kritiken Erfahrungen ausdrücken und mit diesen mich verständigen; stets hatten sie etwas Experimentelles. Darum ist es mir nicht so leicht, ein Beispiel zu finden, das mich Pater peccavi mit gutem Gewissen zu sagen nötigt, als wenn ich meinem hohen Verstand schlicht getraut hätte.
Aber ich entsinne mich doch an eines. Es liegt freilich vierzig Jahre zurück; ein Aufsatz über Paul Hindemith1, den ich 1922 in den längst verschollenen ›Neuen Blättern für Kunst und Literatur‹ in Frankfurt publizierte. Kaum etwas ist mir mehr recht daran; brächte mir heute einer meiner Schüler ein Erzeugnis solcher Art, er hätte wohl nichts zu lachen. Der Aufsatz, vermutlich einer der ersten, der über den Komponisten geschrieben ward, ist eine Mischung aus versierter Keßheit und provinziellem, wohlweisem Muff, von der ich mir heute nicht mehr vorstellen kann, daß ich sie jemals über die Feder brachte; wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, hat ihn Hindemith, mit Recht, nicht gemocht. Offenbar muß man von geistigen Verhaltensweisen, von denen man einmal energisch sich abstößt und gegen die dann das polemische Pathos sich richtet, ein Stück in sich selber haben, um sie verabscheuen zu lernen. Unter den Motiven meiner späteren Sachen, soweit ich sie gelten lasse, fehlt auch nicht die Scham über das, was ich, bloß dem Anschein nach frühreif, als Neunzehnjähriger in diesem Aufsatz und manchem anderen anstellte. Panischer Schrecken befiel mich, als vor einiger Zeit ein freundlicher Mann auf die Idee verfiel, einen noch früheren Essay von mir wieder abzudrucken.
Am meisten stört mich an dem Hindemith-Aufsatz, daß er Unvereinbares: ungebrochene Begeisterung für ein eruptives Talent, vages Unbehagen daran und den Gestus souveräner Verfügung, bedenkenlos miteinander verbindet. Ich merkte schon in den Jugendarbeiten Hindemiths, die noch radikal sich gebärdeten, daß irgend etwas nicht stimmte, daß dem umstürzlerischen Auftrumpfen nicht ganz zu vertrauen sei. Aber ich war dem nicht gewachsen, was ich spürte. Als Bedenken meldete ich gegen Hindemith nach Bourgeoisweise an, er wolle épater le bourgeois, warf ihm gar seine skandalösen Texte vor. Nicht erkannte ich hinter jenen Stücken, was die Psychoanalyse den ödipalen Charakter nennt, eine Art von verbogenem Protest gegen die väterliche Autorität. Dicht hinter dem wilden Gebaren lauert Identifikation mit dem, wogegen aufbegehrt wird; der Exzeß proklamiert gleichsam selber schon die Notwendigkeit von Maß und Ordnung, daß endlich so etwas aufhöre; das Chaos ist auf die eigene Diffamierung eingerichtet. Hindemith hat denn auch, nachdem ein Kritiker ihm mit dem ethischen Zeigefinger bedeutete, Verinnerlichung sei an der Zeit, auf diese prompt sich umgestellt und die kunstgewerblichen Mariengedichte Rilkes komponiert; seitdem war bereits über jene Art Klärung entschieden, deren Opfer schließlich noch die dissonanten Reste aus dem Marienleben wurden. Als dessen erste Fassung erschien, gingen mir die Ohren auf. Was jedoch Hindemith vorher komponierte, hatte mich sehr beeindruckt; beirrt wurde ich nur durch eine abfällige Bemerkung über Schönberg, über dessen Rang ich schon zu jener Zeit mich nicht täuschte. Es war dies, als ich noch bei Sekles studierte, der auch Hindemiths Lehrer gewesen war; also ehe ich nach Wien zu Alban Berg ging. Der subjektive Grund meiner Torheit war einfach Mangel an Metier. Noch verstand ich nicht, welcher Zwang zur Durchbildung, zum Verzicht auf blanke Oberflächenzusammenhänge von den neuen Mitteln ausgehen, wie entgegengesetzt sie dem eigenen Sinn nach der im Grunde traditionalistischen Musikanschauung Hindemiths sind. Mit Worten wie polyphon verfuhr ich ungemein freigebig, ohne zu sehen, daß, trotz aller Stimmreibungen, etwa das berühmte Donaueschinger C-Dur-Quartett Hindemiths in Wahrheit ein motorisch-homophones Stück ist. Anstatt die kompositorischen Probleme seines Werkes verbindlich in kompositorischen Begriffen zu formulieren, begnügte ich mich mit der vagen Impression. Was seine bestimmbaren technischen Gründe hat, setzte ich umstandslos aufs Konto des bloßen künstlerischen Naturells, des vielberufenen Hindemithschen Draufgängertums. Triftig hatte ich dem nichts entgegenzustellen. Die Zufälligkeit bloßen Geschmacks war die Ursache meiner schwankenden Zustimmung zu einer Kunst, die ich doch zugleich als dem konträr empfand, was ich mir unter richtiger Musik vorstellte. Die peinliche Verve jenes Aufsatzes rührte wohl daher, daß ich jene Ambivalenz übertäuben und mich selbst im Glauben bestärken wollte. Das Beste am frühen Hindemith, das auch mich insgeheim lockte, war das Unbotmäßige, zynisch Antikonformistische, und darüber glaubte ich altklug absprechen zu sollen; was ich krampfhaft an ihm lobte, waren dafür eben jene Eigenschaften seiner Musik, die mir gar nicht so viel später verdächtig wurden. Aber ich hätte sie nicht gepriesen, hätte nicht meine verstohlene Liebe der ›Jungen Magd‹, dem provokanten ›Nusch-Nuschi‹ und der Oper nach einem sehr exponierten Text von Stramm gegolten; gern wüßte ich, ob Hindemith heute noch Aufführungen der Bleischen Burleske und der ›Sancta Susanna‹ gestattet. Eine gewisse Klobigkeit, Undurchbrochenheit jener Musik mißfiel mir freilich vom ersten Tag an, auch der allzu realistische Habitus des Orchesterpraktikers; aber ich war zu schwach, der öffentlichen Meinung zu widerstehen, die lautete, eben das sei gesund und das Kühnere krank. Erst die Wiener Schule hat mich auch theoretisch von den herrschenden musikalischen Clichés kuriert; in dem Hindemith-Aufsatz kommt das Wort musikantisch positiv vor. Daß mich die Begabung faszinierte, war, in der Zeit von deren jähem Aufstieg und angesichts von Hindemiths schlagender Fähigkeit, kein großes Verdienst. Aber während ich dem modernen Talent Tribut zollte, schwamm ich doch mit dem Strom und rühmte an ihm das Unmoderne. Dies Element selbst hatte ich wohl richtig wahrgenommen, und seine Entwicklung hat es bestätigt, aber zugleich durch die absinkende Qualität meine Zustimmung widerlegt. Die modernen Momente an Hindemith indessen, die ich wenigstens durch den ungebührlich forschen Ton meines Aufsatzes nachahmen wollte, hat er im übertragenen und buchstäblichen Sinn ausgemerzt, aus der Sancta Susanna die Nobilissima Visione gemacht.
Mit derlei Erinnerungen würde ich die Öffentlichkeit nicht belästigen, wäre nicht einiges vielleicht über meinen privaten Fall hinaus Instruktive daran zu lernen; es mag Kritiker geben, die in Amt und Würden nicht viel anders sich benehmen als ich in meiner pubertären Stilübung. Hinter dem eifernden Nachweis aber, in wie vielen Stücken die Kritiker allezeit sich irrten, steht meist nur der Aberglaube an jenes angeblich Schöpferische, das vor der bösen intellektuellen Reflexion den Vorrang habe. Das erzeugte Wagners denunziatorische Erfindung Beckmessers und kulminierte im nationalsozialistischen Verbot von Kunstkritik. Das uneingestandene Maß solcher Gesinnung ist der Erfolg. Man hat die Wahl, was antipathischer ist: die Besserwisserei des Kritikers mit unveräußerlichen Maßstäben aus der Rumpelkammer, oder der Eifer, das geistig nochmals zu rechtfertigen, was ohnehin öffentlich obenauf schwimmt. Hinter der nachträglichen Empörung über den bornierten Kritiker verbirgt sich vielfach das Bestreben, es mit den stärkeren Bataillonen zu halten. Wagner hat Hanslick der Lächerlichkeit überantwortet, ohne dabei, im Bild von Beckmessers Diebstahl, auch nur die armseligsten Spießervorstellungen von geistigem Eigentum zu verschmähen; aber die Schrift ›Vom musikalisch Schönen‹ ist keineswegs bloß das Manifest des engstirnigen Formalisten, der Hanslick gewiß auch war. Sie hat, gegen den Strom der zur Programmusik herabgesunkenen Romantik, jenes Moment immanenter musikalischer Logik festgehalten, das dann schließlich aus der geschichtlichen Bewegung der Expression selbst zwingend wieder hervortrat. Der Prozeß zwischen Wagner und Hanslick ist nicht so entschieden, wie es Wagner gepaßt hätte, freilich auch nicht so gegen ihn, wie viele im Zeitalter des integralen Konstruktivismus denken mögen. Sondern es prägt in ihrem Konflikt exemplarisch ein Spannungsverhältnis sich aus, in dem Musik selber ihr Leben hat.
Was ich damals an Hindemith frevelte, indem ich für ihn sprach, war allerdings das Gegenteil von Beckmesserei. Gesündigt habe ich durch den Mangel an kritischer Perspektive. Aber etwas läßt sich für meinen Irrtum sagen, und am Ende genau das, was an kritischen Irrtümern überhaupt Fruchtbares zu entdecken wäre. Mit dem Hindemith jener Jahre, in dem auch ein Dadaist steckte, einer, den es ekelte, mit der Kultur mitzuspielen, hätte alles auch ganz anders gehen können, so wie Strawinsky, jahrelang sein Vorbild, kein Neoklassizist hätte werden müssen, als er den ›Renard‹ und die ›Histoire du soldat‹ schrieb. Es fiele nicht schwer, in den besten Arbeiten Hindemiths jener Jahre zu zeigen, was nur hätte weiter getrieben zu werden brauchen, um eine über die expressionistische Generation hinaus radikale Musik zu stiften, anstatt der akademischen Brücken, die er nach rückwärts schlug. Die Idee von Kritik aber – ihre Aufgabe und wohl ihre einzige Legitimation – ist, an künstlerischen Phänomenen ihrer Potentiale gewahr zu werden; was sie bloß sind, als das zu vernehmen, was sie sein könnten. Das Unrecht, das Kritik, positiv oder negativ, zuweilen dem antut, was das Werk als Tatbestand, jetzt und hier, ist, wird zum Recht, wofern es jenem Potential zum Sprechen verhilft, das in der aktuellen Leistung sich verbirgt. Der künstlerischen Erfahrung ist es wesentlich, offen zu sein für das, was von Grund auf anders ist als die eigene Form des Reagierens, und oft ist dies Widerstrebende die Möglichkeit von etwas, das noch nicht war und ans Licht will. Das Schiefe und Forcierte meines aus Unerfahrenheit allzu geschickten Aufsatzes hatte seine Ursache im Drang zu solcher Erweiterung, und deshalb schäme ich mich doch nicht nur dessen, wessen ich mich zu schämen habe.
Fußnoten
1 Vgl. I, Text, S. 212ff.
Postludium
Nach Paul Hindemiths Tod ist es das einzig Angemessene, zu fragen, was mit ihm zu Lebzeiten geschah. Ehre widerfährt ihm allein dadurch, nicht durch Einbalsamierung im deutschen Pantheon, wie sie nur Hindemiths fatale Wendung zum Offiziellen ratifiziert, Hohn dessen, was er in der musikalischen Moderne nach 1918 bedeutete. Die Größe der Begabung, ursprünglich und eruptiv, war außerordentlich. Bis zum Ende vielleicht hoben seine Kompositionen sich souverän von der Menge des gleichzeitig Geschriebenen ab. Die eindringliche Knappheit der ›Jungen Magd‹ und des überaus originellen Zyklus ›Des Todes Tod‹ dürfte sich behaupten; die drei frühen Operneinakter wären zumindest der Probe wert. Weniges hat musikalisch die Physiognomik der Entstehungsjahre so authentisch ausgeprägt wie seine besten Arbeiten vor 1923, auch wenn das Fragwürdige der reifen Werke Momente in den Jugendwerken belastet. Etwas ist passiert; Hindemiths eingeborene Nüchternheit muß es gespürt haben. Anders wäre die sich überschlagende Positivität der Manifestationen seines Alters kaum zu erklären: sie sind reaktiv, Akte der Selbstbetäubung.
Der Autor, niemals unparteiisch in Kunstdingen, macht sich kein Verdienst daraus, daß er, nach Naturell und musikalischer Bildung der Hindemith schroff entgegengesetzten Wiener Schule zugehörig, es früher merkte als andere. Schließlich, beim Staatsbegräbnis der ›Harmonie der Welt‹, haben alle es gemerkt. Deren affirmative Ideologie, die um die Wahrheit des Verherrlichten unbekümmerte Verherrlichung eines Weltbilds, das zu demontieren wesentlicher Inhalt der Geschichte der Naturwissenschaften seit Kepler war, reimt sich auf die Gesinnung des längst Konservativen, der nun zum krassen Reaktionär wurde und in einer berühmt gewordenen Rede gegen die heute moderne Musik die gleiche ominöse Metaphorik aufbot, welche die kulturellen Kampfbünde wider ihn und seine Kameraden benutzten, als das ›Nusch-Nuschi‹ und ›Sancta Susanna‹ Skandal verursachten: die vom Brunnenvergifter. Der Praktiker hat denn auch, soweit sein beträchtlicher Einfluß reichte, nach Kräften gegen die wahrhaft nicht ungebührlichen organisatorischen Möglichkeiten agiert, die von der öffentlichen Hand der jüngsten Musik gewährt werden.
Was am jungen Hindemith revolutionär wirkte, läßt sich am besten mit dem französischen Wort rudesse sagen. Seinen Sachen eignete eine gewisse Schnödheit in Ton und Habitus, ohne Scheu vorm Brutalen, wenig beirrt von Liebe zum Detail. Frühe Stücke aus dem Kreis der Pariser Six, vor allem von Milhaud und Poulenc, kannten Ähnliches, und selbstverständlich der Strawinsky der Ragtimes und des Concertinos für Streichquartett; Hindemith brachte dies Ferment der deutschen Musik zu. Solche Musik zeigte der Kultur die kalte Schulter; das faszinierte daran über das antiromantische Programm hinaus. Von Anbeginn jedoch steckt auch ein Entgegengesetztes darin. Der Gestus war der ostentativen Aufmuckens; keine ins Ganze eingreifende Veränderung. Wurde bei Schönberg der Umschlag gerade dadurch gezeitigt, daß er die Tradition so schwer und verbindlich nahm, bis sie über den Forderungen, die er aus ihr herauslas, zersprang, so hat Hindemith die Tradition, die ihm, dem Orchestergeiger und vorzüglichen Kammermusiker, keineswegs fremd war, rebellisch beiseite geschoben, aber gelassen, wie sie ist; er war nicht der einzige, an dem sie dafür sich rächte. Zur Autorität stand er ambivalent wie einer, der die Faust ballt, unbewußt erfüllt von der Begierde, so zu werden wie der Vater. Hindemith war es, der einer Totenmaske Beethovens den Schnurrbart anmalte1. Schon in seiner ungebärdigen Periode zog es den Ambivalenten zur Autorität im Ideal der Rekonstruktion einer wie einst die Tonalität allgemein verbindlichen Musiksprache. Die Unvereinbarkeit dieses Ideals mit den emanzipatorischen Momenten seiner eigenen Arbeit focht ihn nicht an. Nicht weniger enthielt Hindemiths zupackende Art das autoritäre Potential. Wer sich künstlerisch als ein Kerl geriert, schlägt sich, ohne es zu wissen, auf die Seite jenes Urgesunden, das dann meist dazu herhält, den Intellekt zu verdächtigen und dem geschichtlich Fälligen sich zu sperren. Einen solchen Naturbegriff hat tatsächlich später der Theoretiker Hindemith gelehrt, in Invarianten, unveränderlichen Gesetzen gedacht und, nach verbreiteter Sitte, die Besinnung auf Gesellschaftliches von sich ferngehalten. Das psychologische Geheimnis des Revoluzzers ist Strafbedürfnis. In Hindemiths Inflationsmusiken, der Klaviersuite 1922 und dem Donaueschinger Foxtrottfinale ist das »So kann es nicht weiter gehen« gleichsam mitkomponiert. Der barbarische Weltlauf hat dafür gesorgt, daß die von Hindemith so genannte »barbarische Pracht«, unschädlich wie Kostümfeste, nicht weiterging.
Allzu gut vertrug sich sein Habitus mit jener Innerlichkeit deutscher Art, die selten des Angedrehten ermangelt, genährt von Sehnsucht nach vorkapitalistischem, emsig sturem Gewerbefleiß. Dieser hatte von Anbeginn im down to earth der Hindemithschen Sachlichkeit seine Sätte, längst ehe er ihm sich verschrieb; stets hat er mit zuhandenem Zeug komponiert. Von der Versunkenheit in der Werkstatt ist nur ein Schritt zu der in sich selbst. Stilgemäß hat man zuzeiten Hindemiths Musik als existentiell gerühmt, ohne an den Bäumen des lucus a non lucendo sich zu stoßen. Der Handwerker, der im Lande bleibt und sich redlich nährt, paßt tendenziell sich an gleich dem Komponisten, der erst der Innerlichkeit eine Grimasse schneidet und sie dann verhimmelt. Hindemiths spätere Formel von der Musik nach Maß ist als Maxime von Anpassung so anachronistisch wie zeitgemäß. In ihrem Geist hat Hindemith den gespenstischen Auftrag erfüllt, für einen Potentaten die Trauermusik zu schreiben. Allseitige Verfügbarkeit entsprach tiefer Unsicherheit in dem, was zu tun sei. Vor mehr als fünfzig Jahren urteilte Ernst Bloch: »Reger, ein leeres gefährliches Können und eine Lüge dazu. Er weiß nicht recht, ungebildet wie er schon ist, ob er Walzer oder Passacaglien schreiben soll, ob er die Toteninsel oder den hundertsten Psalm zu vertonen hat. So sehen Ton und Sprache nicht aus, wenn man morgens an ihrer Quelle sitzt. Wie leer bleibt alles, wenn sich Reger, die unbachischste aller nur denkbaren Erscheinungen, auch nur gläubig gibt, weil der geborene Anlehner und Variationenkünstler gerade formal in diesem Geleise läuft. Er ist nichts, er hat nichts als eine Fingerfertigkeit höherer Ordnung, und das Empörende daran bleibt, daß er doch nicht nur nichts ist, ein Quell der beständigen fruchtlosen Irritierung.«2 Das könnte auf Hindemith gemünzt sein, der nach Kokoschka und Stramm, Trakl und Jazz, Marienleben und Brecht, E.T.A. Hoffmann und dem Berliner Cabaret-Texter Marcellus Schiffer, Benn, Hölderlin, Mallarmé, Thornton Wilder, Gott weiß was nicht allem griff. Wie Reger hat er Bildungsgüter angehortet, anstatt geistige Kontinuität zu erlangen. Tatsächlich bewegte er sich weg von Strawinsky, zu Reger hin. Ohne Leitbilder hielt er es offenbar nicht aus, aber er war zu konformistisch geworden, um selbst als Neoklassizist ins maskenhafte Extrem zu gehen; den Strawinskyschen Pfiff hat er zurückgepfiffen. An Reger mahnt nicht nur der Duktus, sondern auch das geistig Beziehungslose und Zufällige. Bedingt ist es von der Konzeption von Musik als einem Dauerzustand, so als ob man noch Stück auf Stück häufen könnte wie der unselige Telemann. Eine gewisse Gleichgültigkeit gegen das spezifisch geprägte Thema, die Bereitschaft, wie auf Abruf aus indifferentem Material Musik zu machen; die Abwesenheit von spezifischen Unterschieden der Gestalten innerhalb der Werke, und zwischen der Faktur des einen und anderen ist regerisch. Nur in der Zeit der Freundschaft mit dem geistig dezidierten Merten sprach durch Hindemith etwas Entschiedenes und Kritisches sich aus; bald durchmusterte er wie Strauss die Kultur.
Nahe liegt, was aus ihm wurde, mit seinem Sozialcharakter zu erklären, dem kleinbürgerlichen. Oft ist der aufmuckende Gestus der von Menschen, die eine Kulturschicht brüskieren, aus der sie sich ausgeschlossen fühlen und der sie doch zugehören möchten. Die Resultante ist die Haltung des erlaubten Aufstands. Protestierende dieses Typus wissen insgeheim sich der Deckung durchs Kollektiv sicher; sie werden, sobald sie arriviert sind, von den raubautzigen Manieren – das Wort künstlerisch verstanden – ablassen. Paul Bekker, der gescheiteste Musikkritiker im Deutschland zwischen den beiden Kriegen, bemerkte, dem Sinn nach, gelegentlich, Hindemith hätte ein rechter Philister werden können, wenn er weniger Talent gehabt hätte. Aber das Philiströse verband sich seinem Talent und war am Ende stärker, bis zur Zerstörung des besseren Potentials. Nachdem Hindemith Grünewald als den schlichten herzinnigen deutschen Meister Mathis veropert hatte, war kein Halten mehr. Daß die Spekulation, die wahrscheinlich mitspielte, dem Realisten Hindemith mißlang, sagt wenig; nie konnte ein Künstler oder ein Denkender es den Faschisten schlecht genug machen, sie verlangten das Letzte. Hindemith steigerte sich aus Rancune in die Naivetät hinein, mit der er unreflektiert begonnen hatte. Als einer der ersten verkörperte er in der Musik, wofür später die Sozialpsychologie das Wort Konkretismus fand. Sich nicht erheben, drunten bleiben, die Praxis hartgesottener Anpassung wurde sich selbst zur Tugend, durchtränkt mit Rachsucht gegen das, was es anders will. Bekker hat, über den frühen Hindemith, hellhörig gesagt, er verstände nicht einfach kompositorisch mit den Instrumenten umzugehen – mit erstaunlicher Fertigkeit hat er ungezählte spielen gelernt –, sondern verwandle in jeder Arbeit sich selbst in ein Instrument. Das hat sein Großartiges: Hindemith gewann in Deutschland kraft genauester Kenntnis der Spielweisen jene Leibnähe zum spezifischen Klangelement, die vor ihm den westlichen Schulen vorbehalten war. Aber der Preis dafür war Instrumentalismus, zunehmender Ersatz von Zwecken durch Mittel. Masochistisch wird die Fesselung der eigenen Produktivkraft genossen und, nicht unähnlich der musikalischen Jugendbewegung, die Hindemith vorübergehend belieferte, ins Höhere umgebogen.
Trotz all dem langt die sozialpsychologische Erklärung, post festum bequem, allein nicht zu. Nicht wenige Musiker stammten aus dem Kleinbürgertum und entwickelten jenen Sozialcharakter nicht: der generöse Ravel, der intransigente Schönberg. Der Hindemiths harmoniert mit einem objektiv musikalischen Sachverhalt, dem vor dem privaten Aspekt der Vorrang gebührt. Sein Ausgangsmaterial war antagonistisch. Bekker bemerkte, die Themen, an deren traditionellen Begriff Hindemith nicht rührte, seien keineswegs atonal geschnitten. Die eigentümlich getrübte Harmonisierung jedoch und die Führung der Stimmen, übrigens keineswegs so polyphon, wie sie zunächst wirkt, kosteten die rücksichtslose Dissonanz aus, die den aggressiven Effekt bewirkte. Die Harmonik verschaffte sich den Schein des Folgerechten durch plumpe Mittel wie Ostinati und parallele, chromatische Fortschreitungen von Akkorden in Gegenbewegung; streng ausgehört war sie nicht. Solche Unstimmigkeiten konnten Hindemith nicht verborgen bleiben. Zwei Möglichkeiten waren ihm offen: entweder seinen Satz radikal, auf Kosten der glatten Fassade, der abschnurrenden Bewegung, der sinnfälligen Überzeugungskraft, für die solche Qualitäten sorgten, auseinanderzunehmen und durchzukneten, oder in jenes Ältere zurückzukriechen, das in seinen Experimenten mitschwamm. Die erste Möglichkeit war blockiert durch all das, was in Hindemiths Werk bereits sich angesammelt hatte, als er der Alternative gewahr werden mochte. Er mußte bangen um jene Naivetät, in der er seine Stärke fühlte und die der Erfolg honorierte. Das Idol einer allgemein verbindlichen Musiksprache hätte er opfern müssen. Hinter der Rauheit versteckte sich Angst. Hindemith zuckte vorm Risiko zurück, seiner strategischen Vorteile sich zu begeben; darin Strauss wahlverwandt, der ebenfalls als Draufgänger seinen Ruhm erwarb. Sein Sachverständnis indessen konnte das Brüchige, vielfach grob Zusammengehauene der Jugendwerke dauernd nicht ertragen, das einzig von der Sicherheit des klanglich Erscheinenden verdeckt war. Ihm blieb kaum etwas anderes übrig als Reaktion. Sie verstrickte ihn in die Bauernfrage nach der gefressenen Kröte: wozu der Aufstand, wenn alles doch beim Alten bleiben soll? Die Ironie ist, daß Hindemith, als er glaubte, über eine zuverlässige Methode zu verfügen, im Vertrauen auf deren Arbeit ersparende Unfehlbarkeit die Details so wenig strikt durchbildete wie in den Stücken, die er dann expurgierte. In einer Partitur wie der Nobilissima Visione sind die Allerweltseinfälle nicht zu verkennen, auch nicht harmonische Unverbindlichkeit, oft eine Schwäche der akkordischen Fortschreitungen, die seine eigenen theoretischen Ansichten, insbesondere die vom »Stufengang«, Lügen straft. Während sein Moderantismus ihm nicht verschaffte, was er wohl davon sich erhoffte, beraubte er ihn jenes Schwungs, den er vor lähmender Reflexion zu beschirmen dachte. Er schwenkte ein in Akademismus.
Das ganze Rätsel ist damit nicht gelöst. Die Sprache der Musik, in Hindemiths Periode unabhängiger von der menschlichen als Dichtung und Malerei, gestattet größere Distanz zum Geist und zu seinem spezifischen Inhalt; Hegels Ästhetik hat das, nicht eben musikfreundlich, verbucht. Der höchste Fall derart losgelöster, buchstäblich absoluter Musik war Mozart. Er hätte indessen seine Größe nicht, läge nicht auf seinen obersten Augenblicken ein Abglanz von Humanität. Menschlichkeit des vom menschlichen Dasein wie aus Einspruch sich Entfernenden war Mozarts Unvergleichliches. Pure, im bedeutenden Sinn unmenschliche Musikalität durchherrschte Hindemith. Seine einzige und allgegenwärtige Sprache war Musik, zu ihr wurde alles in seinen Händen. Das umschreibt das Außerordentliche der Anlage und das Verhängnis. Absolut gesetzt, hatte seine Musikalität sich spezialistenhaft abgespalten von der Kraft der Subjektivität. Diese verkümmerte. Ihrer bedarf aber jenes Ansichsein der Musik, in dem Subjektivität glücklich erlischt. Musik wurde ihm zur arbeitsteilig blinden Leistung des Experten. Ihre Emanzipation vom Geist, den sie als sachfremd-romantisch anschwärzt, geschieht als billiger Triumph über das Moment, dessen der auftrumpfende Fachmann ermangelt. Was ihm fehlt, kompensiert er vergebens durch krampfhafte Weltanschauung und apologetische Hilfshypothesen. In das scheinbar vom Dasein gereinigte, nach philosophischer Sprache ontologische Musikideal mischt ein Pedestres sich ein. Was ein Äußerstes sein könnte, das Ausdruckslose, sinkt ab ins Musikantische, Musik als absolute Sprache wird zur Normalsprache. Das utopische Moment und seine negative Gestalt, der Ausdruck von Leiden, wird ihr durch verfügende Gewalt ausgetrieben. Sie etabliert sich als bloß Seiendes in zweiter Potenz und trumpft als solches auf.
Hindemith ist das eindringlichste Exempel der Schwierigkeit des Komponierens heute. Begabung allein reicht nicht mehr aus. Die Selbstverständlichkeit künstlerischen Reagierens, durch welche Begabung definiert wird, ist nicht länger vorgegeben. Auf nichts gestellt als auf sich, beginnt Begabung zu torkeln, klammert sich fest ans ihr Auswendige und erstarrt. Wodurch sie mehr zu werden vermag als bloß Begabung, das hat sich zusammengezogen in ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die ist unmittelbar eins mit der Kraft des Widerstands. Sie fehlte Hindemith, ganz so, wie seine Stücke ohne Widerstand abrollen, unablässiges Werden, in dem nichts wird. Er war der kompositorische Prototyp eines mittlerweile weltweit verbreiteten gesellschaftlichen Phänomens, der ohnmächtigen Pseudoaktivität.
1968
Fußnoten
1 Vgl. Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, 2. Aufl., Hamburg 1968, S. 123 [GS 14, s. S. 301].
2 Ernst Bloch, Geist der Utopie, Frankfurt a.M. 1964, S. 89.