Neunzehn Beiträge über neue Musik
Atonalität, ursprünglich journalistisch-polemischer Ausdruck, gegen die Tonsprache der neuen Musik gemünzt, später positiv aufgenommen. Zur Charakteristik atonaler Musik genügt keineswegs, daß sie sich nicht an eine bestimmte Tonart bindet. Die Werke aus Regers mittlerer Zeit etwa befinden sich in so unablässiger Modulation, daß die Wahl einer Ausgangs-oder Zieltonart ganz willkürlich erscheint. Trotzdem ist es niemals jemand beigekommen, Reger atonal zu nennen. Auch das Vorwalten von Dissonanzen bietet kein zureichendes Kriterium. Strawinskys Harmonik ist oftmals sehr dissonant, aber kaum je atonal: entweder sind bei ihm die akkordbildenden Töne, konsonante und dissonante, allesamt leitereigene in einer bestimmten Tonart, die als solche gar nicht in Erscheinung zu treten braucht, oder die Dissonanzen sind absichtsvoll ›falsche‹ Noten, Substitute für ›richtige‹, die stets noch durchgefühlt werden. Unzulänglich ist schließlich auch die Definition von Atonalität als einer Harmonik, die sich nicht in Riemannschen Funktionen darstellen läßt. Die Harmonik des Impressionismus ist sicherlich oft funktionslos: nie jedoch atonal. Man dürfte dem Begriff der Atonalität am nächsten kommen, wenn man ihn auf eine Musik anwendet, in welcher vieltönige Zusammenklänge überwiegen, die nicht als aus leitereigenen Tönen einer bestimmten Tonart zusammengesetzt betrachtet werden können, und die prinzipiell nicht ›aufgelöst‹ werden. Selbst die Anwendung des Dissonanzbegriffs ist fragwürdig, da er den Gegenbegriff der Konsonanz voraussetzt, der hier entfällt. Die Tonsprache der Atonalität ist wesentlich die des Expressionismus von Schönbergs mittlerer Phase. Die vieltönigen Komplexe der »Glücklichen Hand« sind vielleicht das ausgesprochenste Beispiel. Da selbst in den Werken der freien Atonalität jedoch noch das ›tonale‹ Prinzip des kleinsten Schritts, des Leittons weiterwirkt, von der ebenfalls ›tonalen‹ Gleichheit der Oktaven zu schweigen, so haben diese Werke einen Stil wirklich ›reiner‹ Atonalität nicht auskristallisiert. Das geschieht erst in der Zwölftontechnik, die alle chromatischen und Leittontendenzen zugunsten der in der Grundreihe festgelegten Intervallfolgen aufgibt. Sie denkt das Prinzip der Atonalität zuende. Wegen der, freilich überaus formalen, Ähnlichkeit der Bezogenheit auf die Grundreihe mit der auf eine Grundtonart jedoch wird der Begriff Atonalität auf Zwölftonmusik kaum angewandt. – Außerhalb der Schönbergschule lassen sich die Frühwerke von Krenek, vieles von Varèse, manches von Bartók (erster Satz der Ersten Violinsonate) am ehesten als atonal bezeichnen. Hindemith war, ähnlich wie Strawinsky, allein schon durch den diatonischen Schnitt seiner Themen, von eigentlicher Atonalität stets ausgenommen.
Linearer Kontrapunkt, von Ernst Kurth geprägter Terminus, der als Schlagwort der neuen Musik erheblichen Einfluß ausübte, auch viel Verwirrung stiftete. Der Begriff war ursprünglich auf Bach geprägt. Er sollte bezeichnen, daß bei diesem die Simultaneität der Stimmen nicht der bloßen ausschmückenden Umkleidung eines akkordischen Schemas dienen, sondern daß sie als selbständige erfunden sind, und daß die harmonischen Verhältnisse aus den Triebkräften solcher selbständigen Stimmen resultieren. Da die Polyphonie der neuen Musikbewegung in ausdrücklichem Gegensatz zur ornamentalen, ›harmonischen‹ Polyphonie der Wagner-Straussschen Epoche entstand und die Intention verfolgte, reale Vielstimmigkeit anstelle des polyphonalen Rankenwerks der Spätromantik treten zu lassen, so traf die Parole vom linearen Kontrapunkt auf eine echt verwandte Tendenz, längst ehe eine große Anzahl der Komponisten ihr Heil in der Imitation Bachs und der sogenannten ›Vorklassik‹ suchte. Das Mißverständnis lag darin, daß man den Primat der echten Mehrstimmigkeit mit Gleichgültigkeit gegen den Zusammenklang und die harmonische Logik verwechselte. Dies Mißverständnis war freilich mehr eines der Kritiker und Theoretiker als der Komponisten. Kein verantwortlicher hat jemals darauflos kontrapunktiert, und gerade die Komponisten, die im Gebrauch der Dissonanz am weitesten gingen, die der Schönbergschule, haben ihre Polyphonie der strengsten Kontrolle durch ein Bewußtsein harmonischer Progression unterworfen, das freilich mit der tonalen Akkordik nichts mehr gemein hat. Die ›Rücksichtslosigkeit‹ gegen den Zusammenklang in der modernen Musik ist eine Legende, und die Dissonanzen sind keine zufälligen Resultate sondern gehen aus harmonischen Tendenzen selber hervor. Der Irrglaube an die harmonische Zufälligkeit der neuen Musik hat mehr als alles andere zu deren Diffamierung beigetragen. In Wirklichkeit sind heute wie stets alle eigentlichen Probleme des Kontrapunkts solche des Zusammenklangs. Ohne die simultane Relation zur gegebenen Stimme ist jeder Kontrapunkt sinnlos.
Quartenharmonik, Harmonik, die aus übereinander geschichteten Quarten gebildet ist. Ansätze finden sich schon bei Chopin in gewissen Vorhaltsbildungen (As-Dur-Ballade), bewußt eingeführt wurden die Quartenakkorde in Debussys Oper Pelléas et Mélisande und in Schönbergs gleichnamiger symphonischer Dichtung. In Schönbergs Erster Kammersymphonie spielen die Quarten harmonisch und melodisch eine gleich wichtige konstruktive Rolle. Die Quartenakkorde werden hier in immer verschiedener Weise in Dreiklänge aufgelöst. Die Quartenharmonik diente ursprünglich dazu, der Vorherrschaft des chromatischen Leittonwesens Einhalt zu gebieten, ähnlich wie die Ganztonskala, die zur gleichen Zeit aufzutreten begann. Sie zeigt eine gewisse Starrheit, die sie für besondere Wirkungen prädestiniert, es aber kaum zuläßt, etwa ein harmonisches System nach Art des Terzensystems auf ihr aufzubauen. Die Praxis hat bald zur Alteration der Quartenakkorde und schließlich zu deren Verschmelzung mit freien, vieltönigen Komplexen geführt.
Klangfarbenmelodie, in Arnold Schönbergs Harmonielehre eingeführter Begriff, der besagt, daß bloße Veränderungen der Klangfarbe gleichsam melodiebildende Funktion übernehmen, daß der Wechsel von Farben von sich aus musikalisches Ereignis werden soll. Ein Beispiel des Prinzips ist das Orchesterstück »Farben« aus Schönbergs op. 16, wo der musikalische Zusammenhang durch die unablässig wechselnde Instrumentation eines bestimmten Akkordkomplexes hergestellt wird. Bis zum Extrem getrieben ist das Prinzip an einer Stelle von Alban Bergs Wozzeck, nach der Mordszene im III. Akt, wo ein festgehaltener Ton, das kleine h, durch ein in äußerst kunstvollem Farbenwechsel konstituiertes Crescendo in sich selbst lebendig gemacht wird, ohne daß melodisch irgendetwas geschähe. Seit Einführung der Zwölftontechnik ist die Idee der Klangfarbenmelodie nicht weiter verfolgt worden. Sie ist aber darum von größter Bedeutung, weil sie extrem die Idee formuliert, die Instrumentation als integralen, konstruktiven Faktor des Komponierens selber zu behandeln und nicht als Akzidenz der Komposition äußerlich hinzuzufügen.
Musikalischer Expressionismus. Da Musik von je und zumal seit den Anfängen der Oper und des Generalbaßzeitalters mit der Vorstellung vom Ausdruck der Gemütsbewegungen verknüpft ist, so geht es nicht an, den prägnanten Stilbegriff Expressionismus einfach als Ausdrucksmusik zu definieren. Es ist darunter vielmehr jene Musik zu verstehen, die ihren Impulsen und ihrer Technik nach mit den gleichzeitigen Bewegungen des malerischen und literarischen Expressionismus zusammenhängt. Sie umfaßt im wesentlichen das Dezennium 1910-1920 und ist am verbindlichsten repräsentiert durch die Arbeiten von Schönberg und seiner Schule aus jener Epoche. Doch zeigen auch die avanciertesten Arbeiten anderer Autoren der gleichen Jahre, wie die japanischen Lieder Strawinskys und die letzten Sonaten von Skrjabin, einigermaßen verwandte Tendenzen, während nach 1920 die Jugendarbeiten von Krenek (II. Symphonie) und Hindemith (Die junge Magd) noch deutlich die Spuren der expressionistischen Phase tragen. Das expressionistische Ausdrucksideal ist insgesamt eines der Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Das bedeutet ein Doppeltes. Einmal sucht die expressionistische Musik alle Konventionselemente der traditionellen zu eliminieren, alles formelhaft Erstarrte, ja alle den einmaligen Fall und seine Art übergreifende Allgemeinheit der musikalischen Sprache – analog dem dichterischen Ideal des ›Schreis‹. Zum andern betrifft die expressionistische Wendung den Gehalt der Musik. Als dieser wird die scheinlose, unverstellte, unverklärte Wahrheit der subjektiven Regung aufgesucht. Die expressionistische Musik will, nach einem glücklichen Ausdruck von Alfred Einstein, Psychogramme geben, protokollarische, unstilisierte Aufzeichnungen vom Seelischen. Sie zeigt sich darin der Psychoanalyse nahe. Das Bereich der expressionistischen Gehalte ist das des Unbewußten: die Darstellung der Angst steht im Zentrum, und Schönbergs Monodram »Erwartung«, eines der konsequentesten Gebilde des musikalischen Expressionismus, gibt eine ganze Phänomenologie der Angst. Das harmonistische, affirmative Moment der Kunst wird mit dem Bann belegt: das ist von entscheidender Bedeutung für die Wahl der Mittel im musikalischen Expressionismus, die ›Zerrissenheit‹, das Vorwalten der Dissonanz. Der Begriff des ›Werkes‹ selber, als einer runden, versöhnenden Totalität, wird suspekt: allen Gebilden des musikalischen Expressionismus ist ein Zug zur Schrumpfung, zur unerbittlichen Kürze gemein. Webern hat das am weitesten getrieben.
Die bestimmte Negation der traditionellen Mittel der Musik ergibt Selektionsprinzipien, die, paradox genug, den Expressionismus wiederum zum Stil machen. Hierher gehören implizite Verbote wie das der Konsonanz und der konsonierenden Intervallfolgen in der Melodie; des homogenen Klangs; der rhythmisch gleichförmigen Entwicklung; der Sequenz; der ›thematischen Arbeit‹ im herkömmlichen Sinn; der formalen Symmetrie; im Prinzip überhaupt aller Wiederholung. Es resultiert daraus eine »Kompositionsweise aus Extremen«. Die Forderung der Unmittelbarkeit setzt sich in die Kompositionstechnik selber um: unvermittelt und ungeschlichtet werden Extreme der Dynamik, der Setzweise, der Agogik, des Ausdrucks nebeneinander gesetzt und die musikalische Kontinuität polarisiert. Das organisierende Formprinzip ist der Kontrast; das Medium aber des musikalischen Expressionismus die freie Atonalität. Die durch die expressionistischen Verbote konstituierte musikalische Sprache enthält in sich bereits latent die Grammatik der konstruktivistischen, während das musikalische Vokabular durch die expressionistische Revolte ins Unabsehbare erweitert wurde. Die ernstesten und radikalsten Kräfte der Musik haben zum Expressionismus getrieben, und es kann heute kaum große Musik vorgestellt werden, die nicht die expressionistischen Motive bestimmend in sich enthielte. Rückblickend aber zeigt sich, daß alle Innovationen des Expressionismus nicht in äußerlicher Adaptation an die Zeitstimmung eingeführt, sondern aus den innersten Tendenzen des musikalischen Materials selber entwickelt wurden, und daß der expressionistischen Anarchie allein unter allen Stilideen der gegenwärtigen Musik der ganze Reichtum eben der Tradition der musikalischen Gestaltung innewohnt, die der Expressionismus zu negieren schien.
Die Zahl der im strengen Verstande expressionistischen Stücke ist beschränkt. Schönberg hat das Verfahren in der Auseinandersetzung mit der – selber durchaus vorexpressionistischen – Dichtung Stefan Georges auskristallisiert (Vokalsätze des Quartetts op. 10, Lieder op. 15). Das erste vollexpressionistische Werk sind die drei Klavierstücke op. 11 (1909), deren drittes einen Kanon der expressionistischen Verbote enthält. Dem Expressionismus gehören weiter an die Orchesterstücke op. 16, das Monodram »Erwartung« und die »Glückliche Hand«. Zu den authentischsten und konsequentesten expressionistischen Gebilden zählen die sechs kleinen Klavierstücke op. 19, das Lied »Herzgewächse« op. 20 und schließlich die vier Orchesterlieder op. 22. Im »Pierrot lunaire« stehen neben ganz noch expressionistischen Stücken wie »Madonna« oder »Die Kreuze« schon konstruktivistische wie »Nacht«, »Parodie«, »Der Mondfleck«. – Der Substanz nach gehört Weberns gesamtes oeuvre dem Expressionismus an. Die äußerste Konsequenz hat er in Stücken für Violine und Klavier, Cello und Klavier, den Bagatellen für Streichquartett und den Stücken für Kammerorchester op. 10 gezogen. Zu den vollkommensten und musikalisch reichsten Gebilden des Webernschen Expressionismus gehören die Trakl-Lieder mit Kammerbesetzung. Von Alban Berg sind die Stücke für Klarinette und Klavier und die Orchesterlieder nach Altenberg dem Expressionismus zuzurechnen.
Musikalische neue Sachlichkeit, Sammelbegriff für alle Gegentendenzen der neuen Musik gegen die Romantik, aber bis zu einem gewissen Grade auch gegen den Expressionismus. Unter diesen Begriff fällt Musik aus den verschiedensten Schulen und mit den verschiedensten Intentionen: der größte Teil des oeuvres von Strawinsky und Hindemith, der Songstil von Kurt Weill, eine Reihe Werke von Krenek, aber in einem gewissen Sinn auch die Zwölftonmusik. Der Impuls der neuen Sachlichkeit ist ein doppelter: einmal die Musik aller überflüssigen Zutaten zu entäußern und rein aus der Notwendigkeit des konkreten musikalischen Gedankens zu entwickeln. Dies Prinzip ist gerade vom expressionistischen Schönberg formuliert worden: »Musik soll nicht schmücken, sondern wahr sein«. Zum andern aber hat man neue Sachlichkeit verstanden als Eliminierung aller Ausdrucksmomente der Musik, als deren Reduktion auf bloßes Spiel unter Rückgriff auf die gegen Wagner gerichtete Lehre Hanslicks von der tönend bewegten Form. Während beide Tendenzen fraglos in tiefer Beziehung miteinander stehen, hat ihre blanke Identifikation viel Unheil angerichtet, indem sie das Ideal eines materialgerechten, technisch verantwortlichen und nicht scheinhaften Komponierens mit der hämischen Freude am Schnöden, Mechanischen und Repressiven kompromittierte. Im Problem der neuen Sachlichkeit spiegelt sich ein gesellschaftliches wider, die Auflehnung gegen das Moment der Unwahrheit im Individualismus des 19. Jahrhunderts, die in faschistischen Kollektivismus umzuschlagen droht. Wahrscheinlich sind die im Sinn von Stimmigkeit ›sachlichsten‹ Werke zugleich die, welche sich der musikalischen Schnödheit am wenigsten verschrieben.
Die weite Divergenz der unter dem Namen neue Sachlichkeit gefaßten Phänomene macht es geraten, den Begriff einzuschränken und insbesondere den Neoklassizismus und die Zwölftontechnik davon auszunehmen. Neusachlich im engeren Sinn sind eine Reihe von Werken aggressiv-antiromantischen Charakters, die nicht nur den Ausdruck sondern jeden gehobenen ›Stil‹ negieren. Das authentischste Beispiel dafür ist vielleicht Strawinskys Concertino für Streichquartett, das der Komponist dem Schnurren einer Nähmaschine verglichen haben soll. Diese Haltung mechanistischer Desillusioniertheit ist sehr rasch von konformistischer ›Vertiefung‹ erfaßt worden.
Zwölftontechnik, von Arnold Schönberg ausgebildetes Kompositionsverfahren zur Organisation des musikalischen Zusammenhangs. Das Verfahren besteht darin, daß jedem Stück eine »Reihe« oder Grundgestalt zu Grunde gelegt wird, die alle zwölf Töne der chromatischen Skala in einer jeweils bestimmten und festgelegten Anordnung enthält. Diese Anordnung der zwölf Töne wird durch das ganze Stück hindurch, unter Ausschluß jeder freien Note, festgehalten, so daß jeder Ton der Komposition seinen Stellenwert in der Reihe oder einer der von ihr gesetzmäßig gebildeten Ableitungen besitzt. Denn es ist nicht so, als ob einfach die Reihe, so wie sie zuerst auftritt, das ganze Stück hindurch abgespielt würde. Vielmehr unterliegt die Reihe den weitestgehenden, wiewohl streng gebundenen Modifikationen, die jede bloß mechanische Wiederholung verhindern. Die gebräuchlichsten dieser Modifikationen sind die Umkehrung der Reihe, so daß jedem von deren Intervallen eines in der Gegenbewegung entspricht (analog wie in der Umkehrungsfuge), der Krebs, d.h. die Grundgestalt beginnend mit ihrem letzten und endend mit ihrem ersten Ton, und endlich die Umkehrung dieses Krebses. Da die vier Hauptformen der Reihe sich auf alle zwölf Stufen der chromatischen Skala transponieren lassen, so stehen bereits mit diesen wenigen Mitteln jeder Zwölftonkomposition 48 verschiedene Reihengestalten zur Verfügung. Eine weitere Modifikationsmöglichkeit ist dadurch gegeben, daß die Wahl der Oktavlage jedes einzelnen Tons in der ganzen Komposition frei ist. Schließlich bedeutet die Reihe nicht etwa bloß ein melodisches sondern ebenso ein harmonisches Prinzip, d.h. die simultan erklingenden Töne unterstehen ebenfalls dem Reihenprinzip. In einfachen Fällen bedeutet das, daß die Reihe ›zusammengeklappt‹ wird, etwa die Töne 1 2 3 gleichzeitig erscheinen und dann die Oberstimme, die mit dem Ton 1 begann, mit dem Ton 4 fortfährt. Im allgemeinen aber walten reichere Erfahrungsweisen vor, sei es, daß die Reihe geteilt und etwa die Töne der ersten Reihenhälfte von denen der zweiten begleitet werden, sei es, daß mehrere Reihengestalten und Transpositionen gleichzeitig verwandt werden (in der letzteren Technik gehen die Variationen op. 31 besonders weit). Es können einem Stück, anstatt einer Grundreihe und deren Ableitungen, auch mehrere Grundreihen zu Grunde liegen (III. Quartett). In Kompositionen großer Ausdehnung werden zuweilen durch komplizierte arithmetische Verfahren neue Grundreihen aus der ursprünglich gegebenen entwickelt (Alban Bergs Lulu). Wesentlich für den Beziehungsreichtum innerhalb der Zwölftontechnik ist die Anlage der Reihe. Diese kann etwa in Gruppen unterteilt werden, die untereinander wieder in variationsähnlicher Beziehung stehen (Webern).
Schönberg selbst hat nicht von Zwölftontechnik sondern von »Komposition mit zwölf Tönen« geredet. Der darin liegende Hinweis charakterisiert das Verfahren. Die Zwölftonstruktur einer Musik ist nicht gleichbedeutend mit der Komposition. Sie stellt eine Vorformung des Materials dar und die eigentliche Kompositionsarbeit baut sich erst auf diesem vorgeformten Material auf. Das verbreitetste Mißverständnis besteht darin, daß Laien so gut wie viele zwölftontechnisch bemühte Komponisten die Zwölftonstruktur selber für die Kompositionsleistung halten, während die Zwölftontechnik sich in Wahrheit nur dort rechtfertigt, wo es eine Musik von solcher Dichte und solcher Kompliziertheit zu organisieren gilt, daß das hoch entwickelte Zwölftonverfahren der hoch entwickelten musikalischen Substanz selber angemessen ist. Werden aus Zwölftonreihen primitive Gebilde verfertigt, so verliert das Verfahren jeden Sinn und wird zur Überbestimmung musikalischer Ereignisse, die durch weit simplere Mittel bereits zusammengehalten werden. In Wahrheit legitimiert sich die Zwölftontechnik nur dort, wo mit dem musikalischen Material ganz bestimmte historische Erfahrungen mitgegeben sind: niemals ist sie ein mathematisches Rezept zum Komponieren, niemals auch ein ›Ersatz‹ für das zerfallende Bindemittel der Tonalität, da die Zwölftonreihe niemals in der gleichen Weise als Bezugssystem durchsichtig wird wie früher die Tonart. Die historischen Tendenzen, um die es sich dabei handelt, sind insbesondere die der vollständigen motivisch-thematischen Ökonomie und permanenten Variation, wie sie Schönberg im Gefolge von Brahms entwickelt hat. Das Ideal, keinen Ton zu gestatten, der nicht motivisch-thematisch abgeleitet wäre, ist in der klassischen Musik vorgebildet. Die Zwölftontechnik hat sich dadurch auskristallisiert, daß das kompositorische Ökonomieprinzip auf das Material der Chromatik angewandt wurde: grob gesprochen durch eine Synthese von Wagner und Brahms. Indem aber die motivisch-thematischen Beziehungen total werden, hören sie auf, das musikalische Hauptereignis zu bilden und werden gewissermaßen in die Prädisposition des Materials zurückverschoben. Zwölftonmusik ist eine solche, in der Universalität der technischen Beziehungen herrscht, unabhängig vom manifesten Gang der Komposition, ja ehe nur überhaupt ein ›Thema‹ formuliert ist, wie denn auch die Themen in der Zwölftonmusik keineswegs prinzipiell mit der Reihe koinzidieren müssen. Ein weiteres historisches Motiv, das zur Zwölftontechnik geführt hat, ist die anwachsende Empfindlichkeit gegen Tonwiederholungen, die von der Zwölftontechnik nach Art eines Gesetzes formuliert worden ist. Schließlich trägt die Zwölftontechnik der Tendenz jedes Akkords aus der freien Atonalität Rechnung, in einen solchen umzuschlagen, der die in ihm selber nicht enthaltenen Töne enthält.
Schönberg hat reihenähnliches Material schon in der expressionistischen Phase (1. Orchesterstück aus op. 16, Passacaglia aus Pierrot) gelegentlich verwandt, ohne sich bewußte Rechenschaft darüber zu geben. Die Technik der Grundgestalten hat er dann, nach der großen Pause in seiner Produktion, in den Klavierstücken op. 23 und der Serenade op. 24 entwickelt. Das letzte der Klavierstücke und der Gesangssatz der Serenade sind die ersten von ihm publizierten Zwölftonkompositionen; die Suite op. 25 und das Bläserquintett op. 26 die ersten großen Werke, die, jeweils mit einer Reihe durch alle Sätze hindurch haushaltend, der neuen Technik sich bedienen. Er hat zunächst die Zwölftontechnik auf mehr oder minder traditionelle musikalische Formen (Sonate, Variation) angewandt. Seit dem ersten Satz des III. Streichquartetts hat er dann immer freiere, allen traditionellen Formschemata fernere Zwölftonformen entwickelt (IV. Streichquartett, Violinkonzert). Auch die Oper »Von heute auf morgen« ist eine Zwölftonkomposition. Schönbergs Schüler Webern und Berg haben die Zwölftontechnik als erste übernommen. Webern hat sie zunächst auf seine aus dem Expressionismus kommende Setzweise angewandt (Streichtrio), ist dann aber zu einer merkwürdigen Simplifizierung seines Stils gelangt, bei der die Reihenbeziehungen als solche zum musikalischen Hauptereignis werden (Klaviervariationen, Streichquartett). Berg hat die Zwölftontechnik seit der Lyrischen Suite für Streichquartett benutzt, aber möglichst unauffällig seinem chromatisch durchsetzten Stil einverleibt und auch in seine Zwölftonstrukturen, durch die Wahl der Grundreihe, ausgiebige tonale Komplexe einbezogen (Violinkonzert). Von jüngeren Komponisten haben sich besonders Ernst Krenek, Hanns Eisler und Eduard Steuermann um die selbständige Konstruktion von Zwölftonformen bemüht.
Gemeinschaftsmusik, die besonders in Deutschland heimischen, aber auch in andern Ländern spürbaren Tendenzen, die Entfremdung zwischen der neuen Musik und dem Publikum, die sich aus der technischen Entwicklung der Musik selber ergab, durch bewußte Anpassung an die Aufnahmefähigkeit des Publikums, zumal der sogenannten Jugend, zu überwinden. Die vorherrschende Intention war dabei die, die Verdinglichung der Musik als eines im Konzert ausgestellten Gegenstandes zu brechen und musikalische Formen nach der Spielfähigkeit ausführender Laien einzurichten. Es sollte nicht nur die Trennung von Musik und Publikum, sondern auch die von Ausübendem und Zuhörer überwunden werden. Wie aber das Ideal einer solchen unmittelbaren Stellung der Kunst in der gegenwärtigen Gesellschaft deren realen Bedingungen widerspricht, so ist die Gemeinschaftsmusik gescheitert. Musikalisch bedeutet sie wesentlich Simplifizierung und fällt hinter den Stand der musikalischen Produktivkräfte zurück; die Resultate sind meist nichts anderes als eine Verwässerung neusachlicher und neoklassizistischer Gebilde, deren Primitivität in ununterbrochenem Konflikt mit der modernen Tonsprache liegt, die dabei überall vorausgesetzt bleibt. In Deutschland kam ein sektiererhafter, fanatischer Haß gegen das Individuum und alle vorgeblich individualistischen Elemente der Musik hinzu, die man musikalisch überwunden meinte, indem man sie unterdrückte. Geist und Interpretation der Musik sollten ›kollektiv‹ sein. Dennoch hat den Massen gegenüber die kollektivistisch geplante Musik die Konkurrenz mit dem Schlagerbetrieb der leichten nie aufzunehmen vermocht. Schließlich ist die deutsche Gemeinschaftsmusik in der politischen untergegangen. Die einzigen Versuche kollektivistischer Musik, die wirklich Neues brachten und über die leere Beteuerung der Verbundenheit hinausgingen, waren die Werke von Hanns Eisler.
Formen in der neuen Musik. In bezug auf größere Formen lassen sich am wenigsten einheitliche Tendenzen in der neuen Musikbewegung feststellen. Der Neoklassizismus manipuliert zitierend vergangene Formtypen, ohne deren Widerspruch zu seinem eigenen Material viel nachzufragen: ja, der Widerspruch ist ein Ferment seiner Wirkung. Die Musik der Schönbergschule ist unmittelbar aus der kritischen Auseinandersetzung mit den großen ›dynamischen‹ Formen der sogenannten klassischen Musik, insbesondere Sonate und Variation, hervorgegangen. Während die früheren Werke Schönbergs bis zur expressionistischen Phase diese Formen selber benutzen, einzig sie durch motivische Arbeit und Polyphonie kontrahierend, nehmen die Werke seiner Spätzeit, seit der Erfindung der Zwölftontechnik, die Probleme dieser traditionellen Formen als solche der Konstruktion wieder auf. Nur der Expressionismus hat ganz auf vorgegebene Formen verzichtet. Aber charakteristischer Weise hat er entweder sich auf sehr knappe Stücke beschränkt, die das Formproblem als das einer Auseinandersetzung mit der musikalischen Zeit gar nicht aufkommen lassen, oder zur Organisation der Formen das dichterische Wort hereingezogen. Eine Ausnahme bildet nur etwa das letzte der Orchesterstücke aus op. 16, das »obligate Rezitativ«, das sich um prosaartige, ganz freie und dennoch zwangvoll logische Formgebung bemüht. Die Ansätze nach dieser Richtung, am weitesten im Monodram »Erwartung« getrieben, sind außer in dem ›athematischen‹ Stil Alois Hábas und seiner Schule bis heute kaum aufgenommen worden. Einer großen expressionistischen Prosaform recht nahe kommt der freilich stets noch rondoähnliche zweite Satz aus Alban Bergs Streichquartett op. 3. In der Sphäre der Zwölftontechnik drängte sich durch die ausgiebige Benutzung des ›Krebses‹ auch für die Formbildung als ein neues Prinzip die vollständige Rückläufigkeit, kreisförmige Geschlossenheit auf. Ein Modell dafür stellte schon vor der Zwölftontechnik der krebsgängige Doppelkanon des Pierrot lunaire. Besonders Alban Berg hat mit solchen Formen operiert: es finden sich bei ihm zahlreiche, sei's wörtlich sei's andeutungsweise, rückläufige Sätze, von denen das Adagio des Kammerkonzerts, das Allegro misterioso der Lyrischen Suite und das große Orchesterzwischenspiel der Lulu genannt seien. Eine ähnliche Linie hat Krenek verfolgt. Berg, bei dem der Aufteilung in kleinste musikalische Atome der planende Wille zur großen Architektur beigesellt ist, hat das Problem der großen Form immer aufs neue in Angriff genommen. Zu den merkwürdigsten Ergebnissen seiner Formbehandlung zählt der erste Satz der Lyrischen Suite, eine Sonatenform ohne Durchführung, und die »Monoritmica« der Lulu, ein großer, wiederum rückläufiger Satz, dessen Zusammenhang durch einen kunstvoll behandelten Grundrhythmus erzielt wird.
Bei Schönberg treten die Formfragen seit dem ersten Satz des III. Streichquartetts wieder in den Vordergrund, der unter Verzicht auf sonatenartige Gliederung eine Ostinato-Bewegung über weite Strecken festhält und dabei große thematische Komplexe einander gegenüberstellt, ohne das Schema von Durchführung und Reprise zu bemühen. Intentionen dieser Art beherrschen völlig das IV. Streichquartett und das Violinkonzert, Werke, die zwar dem Geiste nach durchaus sonatenhaft, dialektisch gebaut sind und Themen formulieren, entwickeln und festhalten, ohne jedoch dabei irgend vorgegebene Schemata heranzuziehen. Der erste Satz des Violinkonzerts ist eine Kombination von Sonaten- und Scherzocharakter.
Wenn es überhaupt möglich ist, etwas wie eine ›Idee‹ der Formgestaltung in der neuen Musik zu bezeichnen, dann möchte man als solche Idee die der statischen Form angeben: einer Form, in der jedes einzelne Ereignis gleich nahe zum Mittelpunkt liegt, in der Begriffe wie Entwicklung und Fortgang – wenn auch in den verschiedenen Schulen aus ganz verschiedenen Gründen – mehr und mehr ihren Sinn verlieren und in der in einem gewissen Sinn die Musik zur Zeit indifferent sich verhält. Strawinsky unterstreicht den ›stehenden‹ Charakter seiner Musik durch die willentlich undynamische Anlage seiner Sätze; in der Zwölftontechnik stellt sich die Statik fast gegen den Willen der Komponisten, durch das Schwergewicht des Materials her. Merkwürdig genug ist die neue Musik gerade in dieser Idee dem Impressionismus aufs tiefste verwandt, dem sie in jeder anderen Hinsicht opponiert. Man kann Schönbergs allerjüngste Produktion als den Versuch betrachten, aus dieser Statik auszubrechen, während Strawinsky in ihr eigentlich das unverrückbare und verpflichtende Gesetz der neuen musikalischen Sprache zu statuieren sucht.
Motorik, eine besonders während der Anfänge der neuen Musikbewegung vorwaltende Kompositionsweise, die den Zusammenhang zwischen den musikalischen Einzelereignissen durch eine gleichmäßige, ununterbrochen stampfende Bewegung herzustellen unternimmt. Das Prinzip ist dem des Perpetuum mobile aus dem 19. Jahrhundert und gewissen Spielformen aus dem 18. verwandt. Es unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, daß hier, nach dem Fortfall der traditionellen harmonischen Bindemittel, der kontinuierlichen Bewegung allein formbildende Funktion zugemutet wird, und daß die Vorstellung des Maschinellen hereinspielt, die – jazzähnlich – die Zählzeiten starr fixiert und zugleich durch stoßweise, unregelmäßige Gegenakzente Abwechslung zu schaffen sich bemüht. Einfache Beispiele für Motorik sind gewisse Stücke von Bartók (Allegro barbaro, 2. Satz des Zweiten Quartetts) und Hindemith (Finale des Quartetts op. 16). Die Primitivität und Eintönigkeit des Verfahrens ist früh empfunden worden. Man hat sich vor allem damit zu helfen gesucht, daß man, bei Beibehaltung der Grundbewegung, die Gegenakzente zu unregelmäßigen rhythmischen Gruppen entwickelte, so daß simultan starre Identität der Zählzeiten und größte Mannigfaltigkeit der Taktart herrscht. Durch die frühe Aufstellung dieses Prinzips hat Strawinsky den größten Einfluß zumal auf die junge Generation der westlichen Länder ausgeübt. Das charakteristische Modell dieser Variante des motorischen Stils ist der Tanz des Opfers aus dem Sacre du printemps. Andere Komponisten, voran Hindemith (Erstes Klavierkonzert) haben versucht, den motorischen Stil durch Einbeziehung kontrapunktischer Imitatorik auszugestalten.
Jazz, der Stil der von Amerika etwa seit dem ersten Weltkrieg ausgehenden und seitdem über die ganze Welt verbreiteten, von einem kleineren oder größeren Ensemble – der »band« – gespielten Tanzmusik. Dieser Stil ist in erster Linie einer der Darstellung. Er bezog sich ursprünglich auf paraphrasierende, zumal rhythmische Improvisationen sei's einzelner Spieler, sei's des ganzen Ensembles, im Rahmen vorgegebener, meist sehr simpler Kompositionen. In der kommerziellen Praxis ist die Improvisation mehr und mehr verdrängt worden. An ihre Stelle ist das Jazz-Arrangement getreten, die zuweilen äußerst raffinierte Bearbeitung der zugrunde liegenden Kompositionen durch Spezialisten, entweder Standardbearbeitungen für allgemeinen Gebrauch oder Spezialbearbeitungen für bestimmte bands. Das Ausgangsmaterial dieser Bearbeitungen aber bilden, mit wenigen Ausnahmen, entweder fest etablierte ältere oder jeweils kurrente, von einer kleinen Gruppe von Verlegern lancierte Schlagermelodien, die ihrerseits sehr häufig mit dem Jazzstil als solchem nur wenig zu tun haben und in der verschiedensten Weise bearbeitet werden können. Eine Ausnahme machen nur die von vornherein auf Jazz-Arrangements angelegten »Rhythm Numbers«.
Das sinnfälligste Charakteristikum des Jazzstils ist das Vorwalten der Synkope und von erweiterten synkopierten Bildungen, die von sich aus zu neuen Symmetrien – »Scheintakten« – zusammentreten. Schon der einfache Cakewalk-Rhythmus läßt sich im Sinne von Scheintakten 3/16 + 3/16 + 2/16 im Rahmen des Zweivierteltaktes auffassen. Entscheidend aber sind nicht die Synkopen als solche, die dem ursprünglich improvisatorischen Element entsprechen, sondern deren Relation zu einer maschinenhaft starr festgehaltenen Grundzählzeit, die entweder durch Viertelschläge markiert oder wenigstens schweigend respektiert und vorgestellt wird. Reiz und Verständnis des Jazz sind gebunden an die Simultaneität einer unverrückbaren Regelmäßigkeit und der Tendenz, aus dieser gleichsam herauszufallen oder zu stolpern, um doch stets wieder auf sicherem rhythmischen Grunde zu landen. Der Jazz, so ließe sich sagen, unterwirft den Spieler und Hörer einem immerwährenden Test: wie weit sein musikalisches Bewußtsein es vermag, der Norm ein Schnippchen zu schlagen, ohne doch im Ernst jemals von ihr sich zu entfernen. Dieser Doppelcharakter ist dem Jazz in all seinen Elementen eigentümlich. Auch der Klang, der die Instrumente ›vokalisiert‹, ein Mechanisches subjektiv furniert, ohne doch die Vormacht des Mechanischen zu brechen, spiegelt die gleiche Intention wider.
Historisch ist der Jazzstil teils aus der Volksmusik der amerikanischen Neger (Spirituals und Blues), teils aus dem synkopierten amerikanischen Gassenhauer (Ditty) hervorgegangen, dessen Spuren bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückweisen. Seit W. Sargeants sorgfältigem und gelehrtem Buch »Jazz hot and hybrid« sind die Neger-Ursprünge klargestellt und in allen technischen Details identifiziert, zugleich aber der Glaube an die primitive Spontaneität des gegenwärtigen Jazz scharf zurückgewiesen. Von großer Bedeutung für die Ausbildung des Stils muß die Einführung des Gehtanzes gewesen sein, der den Grundrhythmus als marschähnlich definiert. Die Disposition des Jazzorchesters ist denn auch ohne die des Militärorchesters nicht denkbar. Die expressiven Elemente stammen aus der Salonmusik; die besonderen harmonischen Reizmittel aus dem Impressionismus. Die Idee des Jazz ist am nächsten verwandt der des Excentricclowns und der amerikanischen Filmgroteske. Doch hat die Forschung alle die letzteren Aspekte bislang weit weniger hervorgehoben als die volksmusikalischen. In der melodischen, harmonischen und metrischen Grundstruktur indessen steht der Jazz durchaus auf dem Boden der herkömmlichen Tanzmusik und hat diese zwar ornamentiert, aber nicht wesentlich verändert. Die Innovationen liegen vorwiegend im Bereich rhythmischer und instrumentaler Tricks. Die Spielweisen zumal von Klarinette, Trompete, Saxophon, Posaune und Schlagzeug haben dem Jazz sehr viel zu verdanken.
Der Jazzstil war bereits vor dem ersten Weltkrieg im Ragtime im wesentlichen ausgebildet. Dieser beschränkte sich aber aufs Klavier. Der erste Jazz-»fad« ergab sich mit dem Auftreten der ersten bands. Damals kam auch der Name Jazz auf. Da Grundidee und Spielregeln seitdem feststehen, kann von Geschichte im eigentlichen Sinn schwerlich die Rede sein. Es handelt sich vielmehr um Vorgänge nach Art des Wechsels der Kleidermoden. Dahinter steht vorab der Wille, den Absatz des immer Gleichen durch immer neue Aufmachung zu sichern und der jeweiligen Aufmachung durch rigorose ›Stilisierung‹ möglichst verpflichtenden Charakter zu geben. Mit der zunehmenden technischen und ökonomischen Konzentration der popular music industry und der damit gegebenen Standardisierung der Produkte nehmen die Stilwandlungen des Jazz schließlich den Charakter bloßer Manipulation zu Reklamezwecken an.
Soweit es echte Entwicklungstendenzen im Jazz gibt, hängen sie eben mit der Konzentrations- und Standardisierungsbewegung, und dem Willen, ihr sich zu entziehen, zusammen. Jazz, ursprünglich ein soziales Randphänomen, das vom Lumpenproletariat herkam, ist vom Betrieb der communication industry mehr und mehr geglättet, seiner bescheiden chokierenden Züge entäußert und vollkommen aufgesaugt worden. Die Tendenz zielt nach zwei Extremen: einmal dem Ausschleifen aller Ecken, dem Abstoßen aller ›Rohheiten‹ zugunsten eines möglichst runden, satten, oft überzuckerten Klanges; andererseits dem Ideal, Synkope und Scheintakt in ein kunstgewerblich elegantes, virtuoses Tricksystem zu bringen, das rhythmische Finesse und Harmlosigkeit vereint. Die Reklameworte Sweet und Swing bezeichnen diese beiden Extreme. Swing war zunächst eine von den besten Kapellen ausgehende Gegenbewegung gegen die Standardisierung und Glättung zugunsten kühneren und spontaneren Musizierens, wurde aber sogleich vom Betrieb ergriffen.
Erheblich war seit Debussy der Einfluß des Jazz auf die Kunstmusik beider Erdteile. Während fraglos viele seriöse Komponisten durch Anbiederung an die smarte und technisch avancierte Tanzmusik ihrer Isolierung zu entgehen und Anschluß an den Markt zu gewinnen hofften, muß zugestanden werden, daß es auch in der autonomeren Produktion kaum einen Namen gibt, der auf die Anregung des Jazz nicht irgend reagiert hätte. Das erklärt sich außer aus der vorgeblichen Zeitgemäßheit des Jazz rein musikalisch damit, daß die Emanzipation von den der Tonalität inhärenten Symmetrieverhältnissen, insbesondere vom Akzent auf dem guten Taktteil, dem Jazz sehr entgegenkam. Es seien nur Milhaud (Le boeuf sur le toit), Hindemith (Kammermusik op. 24, No. 1; Suite »1922«), Krenek (»Jonny spielt auf«), Kurt Weill (dessen Dreigroschenoper von Anbeginn in Jazz-Arrangements gespielt wurde) genannt. Das wichtigste Resultat der Begegnung dürften Strawinskys »Ragtime« und Piano Rag Music, vor allem aber die Histoire du soldat sein. In der letzteren ist die gesamte Jazztechnik, insbesondere die des Schlagzeugs, einer kompositorischen Intention dienstbar gemacht und gleichsam durch diese gedeutet.
Dissonanz in der neuen Musik. Der Kristallisationspunkt aller neuen Tendenzen der Harmonik ist die Dissonanz, die in der Tonsprache fast sämtlicher Schulen ins Zentrum rückt und von der schließlich auch die neuen Strukturen des harmonischen Zusammenhangs sich herleiten lassen. Die Verselbständigung der Dissonanz hat sich während der Romantik vollzogen. Die Dissonanz ist der wesentlichste Ausdrucksträger, Symbol für Schmerz und Leid. Sie hat zugleich eine rein musikalische Bedeutung, nämlich die, der Herrschaft der musikalischen Formel, des tonalen Dreiklangssystems so weit wie möglich sich zu entziehen und die Einmaligkeit des musikalischen Augenblicks durch ein einmaliges, konkretes, nicht clichéhaftes Mittel zu realisieren. Diese beiden Tendenzen der Dissonanz sind schließlich in der neuen Musik ganz frei gesetzt worden. Aber schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts geht Wagner (Walküre, II. Akt, einen Takt vor dem großen Ausbruch Wotans »O heilige Schmach«) zur Bildung eines Akkords, der sechs verschiedene Töne (c-f-as-des-ces-eses) enthält, und in dem, durch die Lage voneinander getrennt, die vier durchs Intervall der kleinen Sekunde aufs schärfste dissonierenden Töne ces-c-des-eses simultan auftreten; ein Akkord also von dem Typus, wie er besonders in einer bestimmten Phase der freien Atonalität eine große Rolle spielt. Solche Dissonanzen lassen sich selbstverständlich allesamt im Sinn der traditionellen Harmonielehre durch ›harmoniefremde‹ Töne (Kombination von Orgelpunkt und Vorhaltsbildung) erklären, treten aber durch eine besondere Ausdruckskraft und Pointierung so in den Vordergrund, daß sie den Charakter einer gewissen Selbständigkeit annehmen und weithin als ›Akkorde‹ eigener Art, unabhängig von ihrer Genesis im harmonischen Schema, aufgefaßt werden. Diese Tendenz zur Verselbständigung der Dissonanz nimmt beim späten Wagner so zu, daß gewisse Zusammenklänge wie Akkorde von der Form e-cis-g-b-f in der Götterdämmerung (Rheintöchterdrohung) und im Parsifal (Kundrymotiv, besonders bei Parsifals Ausbruch »Amfortas! Die Wunde!«) geradezu als Leitakkorde fungieren. In der gesamten Wagnernachfolge ist das Bereich der Dissonanz immer mehr ausgebreitet worden. Einen gewissen Umschlagpunkt bedeutet der Wiedererkennungsakkord in der Orestszene von Richard Straussens Elektra, der sieben verschiedene Töne enthält. Er steht nicht mehr als Ausdruck der Verzweiflung, sondern um die einander widersprechenden, auf- und niederwogenden Empfindungen des ekstatischen Augenblicks widerzuspiegeln; ein gleichsam in sich selbst bewegter und artikulierter Akkord. Von da an wird die Dissonanz fähig, alle Möglichkeiten des Ausdrucks auf sich zu nehmen; der Gegensatz Konsonanz = Lust und Dissonanz = Schmerz wird hinfällig, der Konsonanzbegriff verliert seine Geltung und damit, in seiner Universalität, schließlich auch der Dissonanzbegriff selber. Es gibt nur noch Dissonanz und damit gar keine mehr. Am Ende dieser Entwicklung hört die universale Dissonanz auf, überhaupt noch wesentlich expressiv zu fungieren und wird zum harmonischen Material, ganz frei von den Fesseln des tonalen Schemas, ganz artikuliert und ›polyphon‹ in sich selber, zum harmonischen Medium einer konstruktiven Verfahrungsweise. Diese Entwicklung jedoch hat sich nicht mehr bei Strauss abgespielt, in dessen Musik die Dissonanzen, selbst die kühnsten, stets als versprengte Einzelwirkungen stehen blieben und vom tonalen Schema revoziert wurden. Die Totalität der Dissonanz ist vorab durch Arnold Schönberg erzwungen worden, der zugleich mit der expressiven Entwicklung der Dissonanz diese rein musikalisch aus der Konstruktion entwickelte und aus ihr selber konstruktive Konsequenzen zog. Seine theoretische Kritik am Begriff des harmoniefremden Tons, seine Einführung bisher verbotener Umkehrungen dissonierender Akkorde (schon in der Verklärten Nacht), die Einbeziehung der Quartenharmonik, die immer stärkere Heranziehung von großer Septime und kleiner None zur Artikulation des Akkords in sich selbst, das polyphonische Übereinanderlagern ganzer harmonischer Komplexe in der Glücklichen Hand – all dies deutet in die gleiche Richtung, die Statuierung des Prinzips der Dissonanz als des verbindlichen der harmonischen Selektion. Doch sind andere Autoren an der Ausbreitung des Dissonanzprinzips beteiligt gewesen. Die impressionistische Harmonik wurde besonders von Ravel im Sinn der Verselbständigung der Dissonanz entwickelt. Ähnliche Züge finden sich beim frühen Schreker. Strawinsky hat die Dissonanz, im Gegensatz zu ihrer psychologischen Funktion in der Romantik, zum Bild des extremen physischen Schmerzes gemacht (Sacre du printemps), hat sie als Sprengmittel der musikalischen ›Kultur‹ durch Dissoziation der Harmonie in ›falsche Noten‹ benutzt und schließlich im Neoklassizismus zur Verhärtung der harmonischen Zelle. Der sehr weitgehende Gebrauch der Dissonanz bei Bartók resultiert teils aus der Schärfung des impressionistischen Kommas zur kleinen Sekunde, teils aus dem Willen, dem volksmusikalischen Intervall der neutralen Terz durch Kopplung der kleinen und großen ein kunstmusikalisches Äquivalent zu schaffen (nachgewiesen von E.v.d. Nüll). Wann immer in der neuen Musik Dissonanzen auftreten, macht sich einer der hier angedeuteten Typen der Dissonanz-Behandlung fühlbar. Die Bewegungstendenz der dissonanten Harmonik scheint damit gegeben zu sein, daß jeder der mehrtönigen Klänge virtuell in einen solchen treibt, der diejenigen Töne der chromatischen Skala bringt, die jener nicht selbst enthält (komplementäre Harmonik). Diese Tendenz, spürbar seit dem Tristan, ist am deutlichsten ausgeformt in gewissen mehr homophon gedachten Momenten des Expressionismus, z.B. in der »Erwartung«, und der Zwölftonmusik. Die konformistische Wendung der neuen Musik fällt weithin mit einer Milderung der Dissonanz durch deren Rückbeziehung auf das tonale Schema zusammen.
Kammerorchester, eine seit 35 Jahren existierende und für die neue Musikbewegung in ihrer Breite überaus charakteristische Form des Ensembles. Das erste Werk für Kammerorchester ist Schönbergs Kammersymphonie (1906). Von ganz anderer Seite her kam Richard Strauss mit der Ariadne dem Kammerorchester nahe. Die beiden exemplarischen kammerorchestralen Werke, denen zahllose andere nachgefolgt sind, waren Schönbergs Pierrot lunaire und Strawinskys Histoire du soldat. Die Idee des Kammerorchesters wird nicht durch eine bestimmte Besetzung bezeichnet. Der Umfang der herangezogenen Mittel kann von dem des klassischen kleinen Orchesters bis zu ganz kleinen Kammerbesetzungen reichen. Straussens Ariadne und Schönbergs Zweite Kammersymphonie gehören dem ersteren, die Quintettbesetzung des Pierrot dem letzteren Typus an. Entscheidend vielmehr ist, daß der volle Reichtum der Klangfarben, weit hinausgehend über die traditionelle vom Streichquartett determinierte Kammermusik, dem Ideal solistischer Wirkungen dienstbar gemacht wird. Dabei spielen die Holzbläser eine besondere Rolle, während die unendliche Streicherperspektive des neuromantischen Orchesters ebenso wie die ›Pedalwirkungen‹ der Hörner negiert werden. Das Grundprinzip des Kammerorchesters ist, den kompakten und schwimmenden Tuttiklang in einer in sich völlig artikulierten Durchsichtigkeit aufzulösen. Während das Kammerorchester einer außerordentlichen Verfeinerung der farblichen Wirkungen zustrebt, ist es zugleich bestimmt durch den Wunsch, ohne schmückendes Beiwerk, ohne Verdoppelungen, ohne harmonische Füllstimmen die musikalische Konstruktion als solche möglichst angemessen darzustellen. Die Erfordernisse der realen Polyphonie der neuen Musik spielen dabei die ausschlaggebende Rolle: die fünfzehn Instrumente von Schönbergs Erster Kammersymphonie sind gewählt, um die teilweise sehr verwickelten kontrapunktischen Vorgänge möglichst sinnfällig zu machen. So ist die Idee des Kammerorchesters der der ›Sachlichkeit‹ aufs engste verwandt. Unter den jüngeren Komponisten zeigt vor allem das gesamte oeuvre von Hindemith durch die Technik des Kammerorchester sich bestimmt.
Neue Polyphonie. Die Tendenz zu real vielstimmigen Bildungen, die für die neue Musik charakteristisch, wenn auch keineswegs universal ist, kann nicht einfach als Gegenschlag gegen das Vorwalten akkordisch-homophonen Denkens in der ganzen Generalbaßperiode und insbesondere der Romantik verstanden werden. Sie hat weit bestimmtere technische Gründe und ist eine Funktion der neuen Kompositionsidee selber. Das auf Brahms und eigentlich Beethoven zurückdatierende Streben nach vollkommener Ökonomie, nach Ausschluß jedes Zufälligen, nicht der thematischen Substanz selber Entspringenden, führt notwendig zu einer Durchbildung alles dessen, was früher bloße harmonische Füllstimme war. Das vormals Akzidentielle wird in Beziehung zum thematischen Hauptereignis gesetzt und damit die sekundäre Stimme mehr und mehr profiliert und verselbständigt. Es ist für diesen Vorgang überaus bezeichnend, daß beim früheren Schönberg die meisten Begleitstimmen aus ›Resten‹ von Hauptstimmen gewonnen sind und festgehalten werden, während die Hauptereignisse bereits gewechselt haben. Weiter wird durch die anwachsende Dichte und Konzentration der thematischen Beziehungen die umständliche Sukzession thematischer Expositionen und Entwicklungen als dekonzentriert und schwach empfunden. Die Straffung der Relationen der Zeitfolge involviert eine Straffung auch der simultanen Ereignisse, wenn nicht horizontale und vertikale Dimension des Komponierens auseinanderweisen sollen. Daher die Neigung, Entwicklungen, die man früher nacheinander gebracht hätte, gleichsam übereinander zu legen und kontrapunktisch-kombinatorisch zu behandeln. Dieser Schritt ist besonders deutlich zwischen Schönbergs Erstem Quartett und der wesentlich kürzeren Ersten Kammersymphonie, deren große Durchführung ebenso wie die späteren Partien wesentlich in komplizierter Kanonik und in Themenkombinationen besteht. Die harmonische Tendenz zur Dissonanz kommt dem sehr entgegen, einmal, indem sie der Polyphonie Zusammenklänge freigibt, die früher ausgeschlossen waren, dann, indem jeder Akkord durch seine eigene reale Vielstimmigkeit bereits virtuell polyphon ist. Schließlich gehören die polyphonen Techniken der Imitatorik und Kanonik nach dem Fortfall des tonalen Bezugssystems zunächst zu den sinnfälligsten Mitteln des musikalischen Zusammenhalts, obwohl gerade ihre Sinnfälligkeit leicht den Charakter des Mechanischen annimmt und Schönberg ihnen gegenüber immer wieder größte Behutsamkeit hat walten lassen.
Der Primat der Polyphonie gilt eigentlich nur in der Schönbergschule. Die Zwölftontechnik terminiert in einer Art von ›reinem‹ polyphonen Satz. Ursprüngliche, sehr stark polyphone Tendenzen hat Krenek. Die Polyphonie Hindemiths entspringt teils im Rückgriff auf die alte, teils in der instrumentalen Vorstellung: das Problem des harmonischen Sinnes der Polyphonie tritt bei ihm zugunsten des Zusammenhangs der Bewegung sehr zurück. Insgesamt ist es die Bedeutung der Polyphonie, durch die sich der Stil der neuen Musik im Umkreis Deutschlands – vor Hitler – von dem der westlichen wie der slawischen Länder unterscheidet, die bei aller harmonischen Differenzierung, aller instrumentalen Plastik der Einzelstimme das Prinzip der realen Mehrstimmigkeit kaum je anerkennen.
Musikalischer Impressionismus. Der populäre Sprachgebrauch versteht unter musikalischem Impressionismus alle Musik, die in irgendeiner Weise subjektive Reflexe auf Reize der sichtbaren Welt festzuhalten trachtet. Als Stilbegriff aber ist Impressionismus wesentlich enger zu fassen, wofern er nicht mit schildernder Programmusik einerseits und mit spätromantischer Stimmungsmusik andererseits ganz verfließen soll. Man wird dann Impressionismus nicht durch die ohnehin stets problematische Beziehung auf die gegenständliche Welt zu definieren haben, sondern durch die eigene technische Verfahrungsweise. Darunter wird man aber am ehesten jene verstehen, welche die Musik der Malerei des französischen Impressionismus abgelernt hat, ohne dabei stets und in allen Fällen an die Wiedergabe von ›Eindrücken‹ zu denken. Bei dieser Übernahme entspricht dem malerischen Begriff der Atmosphäre der des schwebenden, nicht durch bestimmte Konturen gebundenen Klangs, wie er ursprünglich aus den Pedaleffekten zumal des Lisztschen Klaviersatzes und der davon abgeleiteten Orchestertechnik sich ergab. Das Ideal solchen Klangs involviert die Auflösung aller kompakten Flächen. Den ›Kommata‹ der Malerei entsprechen musikalisch kleinste tupfenähnliche Klangeinheiten, die zu einem opalisierenden, ungemein differenzierten und jede gröbere Artikulation vermeidenden Ganzen verschwimmen. Das wird nicht nur durch die instrumentale Setzweise – etwa das laisser vibrer des Klaviers – gefördert, sondern besonders auch durch die Wahl der harmonischen Mittel. Indem in die Akkorde entfernter liegende Obertöne einbezogen werden, wird gewissermaßen in jedem Klang sein irrationales ›Schwingen‹, das sonst lediglich als Funktion der subjektiven Wahrnehmung erscheint, real auskomponiert. Die gebräuchlichste harmonische Formel, die das bewerkstelligt, ist der große Nonenakkord, während als ›Kommata‹ simultane Sekunden, die ihrerseits wieder auf den Nonenakkord zurückweisen, verwandt werden. Die durch solche Mittel gegebenen Klangkomplexe werden eher verschoben als entwickelt: anstelle harmonischen Stufendenkens tritt die parallele Fortbewegung der Akkorde, welche kaum harmonische Spannungen austrägt. Der ›schwebende‹, nicht eigentlich fortschreitende Klang resultiert oftmals in einem gleichsam unausgelösten, suspendierten Reiz, schmeichelnd zugleich und quälend. Solchen Wirkungen dient vorab der Gebrauch des übermäßigen Dreiklangs und der von ihm abgeleiteten Ganztonskala. Die Tendenz zur Suspension des musikalischen Verlaufs dürfte das zentrale Prinzip des Impressionismus bezeichnen. Man kann diesen geradezu definieren als eine Musik, die in Symbiose mit der Malerei tritt, nicht in dem Sinn, daß sie äußere Gegenstände abbildet, sondern daß sie auf eigentliche zeitliche Gestaltung verzichtet und in der Zeit so hängen bleibt wie ein Bild im Raum. Daher der eigentümlich statische, oftmals gleichsam präludierende Charakter so vieler impressionistischer Musik. Die Auflösung in kleinste Einheiten hat im Impressionismus niemals den Sinn ›motivischer Arbeit‹, sondern lediglich den, den Klang so aufzuteilen, daß er in der Zeit schwebend still gehalten wird. Die Schwierigkeit des Hörens besteht daher darin, nicht auf ›Melodien‹, nicht auf motivische oder thematische Entwicklungen oder Steigerungen zu warten, überhaupt die Musik gar nicht in Kategorien ihres zeitlichen Verlaufs zu hören, sondern gleichsam räumlich, simultan. Da alle Musik in der Zeit verläuft, ist diese Idee des Impressionismus paradox in sich selber und niemals wörtlich realisiert, sondern stets nur durch kunstreiche Veranstaltungen symbolisiert. Sie erklärt aber, daß der Impressionismus durchwegs mit kürzeren Formen sich bescheidet, daß er auf Polyphonie ebenso verzichtet wie auf melodische Gestaltung im traditionellen Sinn und daß er fast ganz in der Schaustellung harmonischer und koloristischer Komplexe besteht, deren melodisch-motivischer Kern so reduziert ist, daß auch er im Grunde nur nach harmonisch-klanglicher Deutung verlangt. Die Insistenz des Impressionismus auf den sogenannten natürlichen Obertonverhältnissen bringt es mit sich, daß an die Dreiklangsgrundlage und an die Voraussetzungen der Tonalität selber nicht gerührt wird. Die Bindung an die Tonalität setzt zugleich der Aufgelöstheit des impressionistischen Idioms selber enge Grenzen. Dadurch unterscheidet sich der Impressionismus von anderen ›aufgelösten‹ Kompositionsweisen, insbesondere der des Expressionismus.
Der hier entwickelte Begriff des Impressionismus bezeichnet dessen Idee. Er ist von extremer Art und keineswegs in der Breite der ›impressionistischen‹ Produktion realisiert. Am nächsten kommt ihm die mittlere Periode Debussys. Während dessen frühe Werke, auch die innovatorischen wie das Prélude à l'après-midi d'un faune und das Streichquartett, zwar alle Elemente der impressionistischen Sprache enthalten, aber auf eine traditionellere Vorstellung des musikalischen Verlaufs anwenden, machen die Spätwerke Debussys den Versuch, aus den Klängen konturierte musikalische Konstruktionen aufzubauen. Sie verhalten sich zum orthodoxen Impressionismus vergleichsweise wie Cézanne zum malerischen. Ravel gehört dem Impressionismus mehr dem Vokabular als der Formidee nach an, nur seine früheren Klavierstücke können als impressionistisch in einem einigermaßen strengen Sinn gelten. Bei Dukas, der eine Zeitlang mit Debussy zusammen genannt wurde, ist das impressionistische Ideal von Anfang an ins Süße gemildert. Die Strenge der Debussystischen Auswahlprinzipien ist so wenig wie die Subtilität seiner Verfahrungsweise von irgendeinem anderen Impressionisten erreicht worden. In einem erweiterten Sinn könnte man einer gewissen lockeren Pinselführung wegen, welche die Farbe von den vorgegebenen Schemata emanzipiert, bei Strauss von etwas wie deutschem Impressionismus reden, obwohl er wiederum das impressionistische Vokabular niemals angenommen hat. Der Idee der schwebenden, impressionistischen Statik ist Skrjabin eng verwandt. Schließlich bietet das impressionistische Denken in harmonisch-koloristischen Komplexen die Voraussetzungen, von denen die Entwicklung Strawinskys ausging.
Neue Musik, Sammelbegriff für alle die musikalischen Strömungen etwa seit dem Impressionismus, denen ein bestimmter Charakter von Modernität zukommt, in dem Sinn, daß sie aus der Kontinuität der musikalischen Entwicklung zunächst ausbrechen, chokhaft die musikalische Sprache entfremden und dem kontemplativ genießenden Publikums-Geschmack den Krieg ansagen. Es besagt dabei wenig, ob und in welchem Maße einige der untereinander divergenten Richtungen der neuen Musik später mit dem Publikum ihren Frieden gemacht oder sogar geradeswegs kollektivistischen Tendenzen sich verschrieben haben. Entscheidend ist die Erfahrung des Bruches selber, von der auch jene neue Musik, die später eingelenkt hat, sich nicht hat freimachen können. Die Kategorie des Bruches und der jähen Entfremdung wird dem Phänomen tiefer gerecht als die der ›Antiromantik‹, unter welcher man akademisch die meisten Repräsentanten der neuen Musik zusammenzufassen pflegt, obwohl der Begriff des Antiromantischen dem Epigonen- und Mitläufertum den bequemsten Spielraum läßt. Das sinnfälligste Zeichen des Bruchs ist die Verselbständigung der Dissonanz, die ursprünglich bei allen Schulen der neuen Musik sich beobachten läßt und die noch überall dort nachwirkt, wo man l'ordre après le désordre proklamiert. Auf der Schwelle zur neuen Musik steht der Impressionismus, der bereits deutlich den Charakter technologischer Modernität aufweist, dabei aber einigermaßen bruchlos von der traditionellen Sprache der Musik ausgeht. Als charakteristische Schulen der neuen Musik werden behandelt: Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Gemeinschaftsmusik, Neoklassizismus, zwölftontechnischer Konstruktivismus. Dem wären etwa noch radikal folkloristische Tendenzen wie die von Bartók, dem früheren Strawinsky und in gewissem Sinn auch Janácek zuzuzählen, welche versucht haben, die Dur-Moll-Tonalität der abendländischen Musik und alle mit ihr musikalisch zusammenhängenden Strukturen durch Rückgriff auf eine ältere, vortonale Tonsprache oder auf musikalische Idiome, die von der abendländischen Musikkultur nicht vollständig erfaßt worden sind, zu durchbrechen. Besonders in den Anfängen hat der radikale Folklorismus Innovationen durchgesetzt, die mit der Blut- und Bodenromantik der faschistischen Ära nichts gemein haben und in vielem mit den avanciertesten Intentionen des Expressionismus sich berühren. Es liegt hier eine weitgehende Analogie zur bildenden Kunst vor.
Es versteht sich danach, daß der Begriff der neuen Musik keineswegs mit dem der zeitgenössischen übereinstimmt. So liegt etwa das Werk von Richard Strauss in seiner Ganzheit vor der Schwelle der neuen Musik, obwohl Salome und Elektra hart an der Grenze stehen. Das gleiche gilt für Reger, der die Chromatisierungstendenz bis ins Extrem treibt, und für Mahler, dessen letzte Werke die eigentliche Vermittlung zwischen Schönberg und der Wiener Tradition darstellen. Schließlich sei ausdrücklich vermerkt, daß neben der neuen Musik überall traditionalistische Kompositionsweisen herlaufen, insbesondere die Ausläufer der neudeutschen (Wagnerischen) Schule, des Impressionismus und älterer akademischer Richtungen wie der von Brahms und César Franck.
Konstruktion in der neuen Musik. Wenn es überhaupt möglich ist, einen Fluchtpunkt der Entwicklungslinien der neuen Musik zu bezeichnen, so wäre er wohl als Ideal der Konstruktion zu benennen. Die verschiedenen Versuche zur Emanzipation der musikalischen Sprache von den Fesseln ihrer traditionalen Gebundenheit und ihrer Reorganisierung konvergieren in dem Willen, das musikalische Naturmaterial nach allen seinen Dimensionen der bewußten und planenden Verfügung durch den Komponisten zu unterwerfen. Es zeichnet sich ab die Vorstellung eines integralen musikalischen Kunstwerks, in dem jedes Moment seine Existenz einzig der Funktion im Ganzen verdankt und in dem das Eigengewicht aller Materialien zugunsten der durchorganisierten Einheit des Ganzen aufgehoben ist. In einer solchen Musik herrscht das vollständige Ökonomieprinzip: nichts Überflüssiges wird geduldet. Es herrscht weiter das Prinzip totaler Determination: jedes Detail erschöpft sich im Dienst an der vorgeordneten Ganzheit. Alle blinden, irrationalen, ›treibenden‹ Momente werden liquidiert: daher die virtuelle Statik, daher auch die kritische, obgleich nicht blank eindeutige Stellung zum Moment der Expression. Das Kunstwerk nähert sich dem Bilde absoluter technischer Zweckmäßigkeit in sich selber an. Das heißt, technisch gesprochen, daß die Disproportionalitäten zwischen den verschiedenen Dimensionen des Komponierens zu beseitigen versucht werden. Die Spannungen zwischen Melodik und Akkordik, zwischen harmonischem und kontrapunktischem Denken, zwischen fugalem und Sonatenwesen werden tendenziell abgeschafft. In der Zwölftontechnik herrscht im Prinzip Gleichheit der vertikalen und horizontalen Struktur. Die dissonierenden Akkorde sind ›in sich‹ polyphon, während die kontrapunktischen Linien sich harmonisch ergänzen. Weberns letzte Arbeiten erreichen vollkommene Indifferenz von Sonaten- und imitatorischer Form. Die Farbe wird zum gleichberechtigten Element der Konstruktion, zugleich aber gänzlich durch diese, durch die Forderung der Deutlichkeit, bestimmt. Während der Neoklassizismus gleichsam das Bild solcher totalen Konstruktion spielerisch, aus Geschmack und in einer besonderen Gestik, entwirft, ist es der Sinn der Zwölftontechnik, das integrale Kunstwerk rein aus den Bedingungen des Materials heraus gänzlich zu realisieren. Ob freilich in der Idee des Konstruktivismus die Impulse der neuen Musik sich erschöpfen, ob nicht die Sprengkraft ihrer früheren Phasen über die vollkommene Ökonomie des Gebildes wiederum herausdrängen wird, ist fraglich. Die letzten Arbeiten Schönbergs lassen zumindest vermuten, daß mit der totalen Erfassung des Einzelnen durchs Ganze auch musikalisch nicht das letzte Wort gesprochen sei.
Polytonalität, Kompositionsstil, der in der simultanen Verwendung musikalischer Gestalten aus verschiedenen Tonarten besteht, sei es, daß ganze Gebilde in verschiedenen Tonarten erscheinen, sei es, daß wenigstens Akkorde verschiedener, entfernter Tonarten kombiniert werden. Eines der frühesten Beispiele für Polytonalität dürfte sich in Bartóks Bagatellen op. 6 (1908) finden. Die Polytonalität spielt dann insbesondere im Frankreich der ersten Nachkriegsjahre in der Schule der Six (vor allem Milhaud) eine Rolle. Strawinskys Harmonik, vor allem im Sacre du printemps, steht in manchem der Polytonalität nahe, von deutschen Komponisten haben Schreker und später gelegentlich Krenek (»Durch die Nacht«) mit polytonalen Mitteln operiert. Der Ursprung der Polytonalität ist doppelter Art. Sie war einmal nahegelegt durch die Einbeziehung der entfernter liegenden Obertöne der Harmonie, wie denn Debussy und Ravel (Violinsonate) polytonale Tendenzen zeigen. Zum andern resultiert Polytonalität aus der literarischen Vorstellung des Ineinander-Klingens von Musik räumlich verschiedenen Ursprungs, wie sie ebenfalls im Impressionismus angelegt ist und dann besonders durch gewisse szenische Ideen Strawinskys (Petruschka) gefördert wurde. Nach dem Zerfall der Tonalität bot sich das polytonale Verfahren, neben der ihm verwandten Technik des Ostinato, der rhythmischen Motorik und der parallelen Stimmverschiebung, als eines der bequemsten und handgreiflichsten Mittel zur Organisation vieltöniger, komplexer Harmonik an, die durch die stets noch fühlbaren Tendenzen der beiden kombinierten Tonarten von der Logik der traditionellen Musik profitiert. Die Äußerlichkeit des Organisationsmittels jedoch und die Beziehungslosigkeit der polytonalen Teilkomplexe untereinander haben den Reiz rasch abgestumpft und die polytonalen Möglichkeiten erschöpft.
Musikalischer Neoklassizismus, der seit etwa 1920 verbreitetste Stil der modernen Musik. Nachdruck ist dabei zu legen auf den Begriff des Stils. Denn wenn es überhaupt möglich ist, den Neoklassizismus innerhalb der ›neuen Sachlichkeit‹ in einem weiteren Sinn zu spezifizieren, dann eben dadurch, daß der Neoklassizismus den Versuch darstellt, die antiromantischen Tendenzen, die zunächst dem Stilisationsprinzip der Musik widersprechen und diese als ein undistanziertes Abbild des sinnleeren, mechanischen Lebens zu verstehen trachten, durch einen Entschluß gleichsam zum Stil zu erheben. Er will den verpflichtenden Charakter von Musik aufs neue dekretieren, die Sinnlosigkeit von gestern als positiven Sinn von morgen behaupten. Das Mittel dazu ist der Rückgriff auf sogenannte ›vorklassische‹ musikalische Modelle, auf Bach, Händel, Pergolesi, Scarlatti u.v.a. Entscheidend dabei ist der vorindividualistische und vorbürgerliche Charakter der beschworenen Modelle, die der subjektiven Dynamik, der Psychologie, dem funktionalen Übergang so wenig Raum lassen wie einem ›feuchten‹ Klang einer leittönigen Harmonik und jeglicher Transzendenz der musikalischen Gestaltung. Hervorgehoben wird der Spielcharakter der Musik; die Idee des Konzerts im älteren Sinn bietet das liebste Vorbild des Neoklassizismus, wie denn auch die neoklassizistische Bewegung zahllose Konzerte produziert hat. Die Tonsprache jedoch, auf welche jene Modelle angewandt werden, besteht wesentlich aus dem Vokabular, das die moderne Musikgeschichte dem Neoklassizismus hinterließ. Überall wirken teils Elemente der Emanzipation von der Tonalität und der dissonierenden Harmonik, teils des Impressionismus nach. Diese Elemente sind aber gewissermaßen stillgestellt oder gefroren: sie werden nicht länger im Sinn des Übergangsprinzips mit andern verknüpft, sondern atomisiert und durch einen architektonischen Plan in pointierter Härte und Kälte nebeneinander gesetzt. Der Neoklassizismus in seiner konsequenten Gestalt – die freilich von den meisten Gefolgsleuten sei's mißverstanden sei's bequem abgemildert wurde – bedeutet die Rekonstruktion der vorbürgerlichen und vordynamischen Musikformen durch das Diktat eines musikalischen Ingenieurs, der jene Formen durch die Montage der beziehungslos gemachten Fragmente der gegenwärtigen Tonsprache herstellt. Die Wirkung des echten Neoklassizismus beruht gerade in dem Widerspiel zwischen der vorgesetzten Form und der atomistischen, oft chokhaften Entfremdung der Elemente voneinander. Es erhellt daraus, daß der Neoklassizismus nicht einfach als eine kunstgewerbliche Wiederaufwärmung entschwundener Objektivität, sondern als der sehr genaue, zeitgemäße und avancierte Ausdruck der verhängnisvollsten und drohendsten, aber höchst realen gesellschaftlichen Tendenzen der gegenwärtigen Situation zu betrachten ist. Die Wahrheit des Neoklassizismus liegt in der Rücksichtslosigkeit, mit der er jene Drohung einbekennt.
Die hier entwickelte extreme Idee des Neoklassizismus ist streng nur von Strawinsky vertreten. Der größte Teil seiner Werke gehört dem Neoklassizismus an. Als sein Klavierkonzert erschien, sah man eine radikale Abwendung von den vermeintlich radikalen Tendenzen seiner früheren Perioden. Rückblickend zeigt sich, daß sich zwar der Gestus der Werke, kaum aber die eigentlich musikalische Substanz geändert hat. Die Harmonik etwa des Oktetts und der Noces oder selbst der Histoire du soldat ist von der verschobenen, dissonant versetzten der neo-klassizistischen Periode gar nicht so sehr verschieden. Die Änderung, die sich vollzogen hat, besteht eigentlich nur darin, daß eine Tonsprache, die ursprünglich dem Ausdruck der Negativität und des Zerfalls diente, fast ohne eine Änderung zu erfahren, mit einem Mal so präsentiert wird, daß die vordem desillusionierten Formen als positiv und als Bindung vorgestellt werden, die jenes aufgelöste Material umfangen sollen, das zuvor eben der Denunziation jener Formen diente. Es ist überaus bezeichnend, daß bei zwei andern berühmten Repräsentanten des Neoklassizismus fast genau die gleiche Umdeutung der Negativität ins vorgebliche Gesetz sich ereignete wie bei Strawinsky: bei Hindemith, nach Werken wie dem Nusch-Nuschi und der Kammermusik op. 24, No. 1, mit dem Marienleben; bei Kurt Weill nach der Dreigroschenoper und Mahagonny mit dem Jasager und der Bürgschaft. Freilich mag in diesen beiden Fällen die Abhängigkeit vom Vorbild Strawinskys mitspielen.
Eine eingehende technische Analyse der neo-klassizistischen Kompositionsweise steht noch aus. Wesentlich ist die Handhabung der Tonalität so, daß alle ›organizistischen‹, vermittelnden Tendenzen ausgeschlossen werden. Die Harmonik ist durch Dissonanzen getrübt, die meist aus ›harmoniefremden‹ Tönen gebildet sind, deren ›Auflösung‹ abgebogen oder ausgespart wird. Die Kadenzen werden gleichsam auseinandergezupft. Die Melodiebildung beschränkt sich oft auf kleine und nicht entwickelte, sondern wiederholte Tongruppen. Darin wirkt deutlich der Impressionismus nach, ebenso wie in dem entwicklungslosen Aneinanderfügen von Komplexen, nur daß diese nicht länger solche des schwebenden, vagen Klangs, sondern vielmehr überdeutliche abgesetzte Figurationen sind. Die Kontrapunktik des Neoklassizismus blieb bei Strawinsky auffallend lange unentfaltet; die kontrapunktischen Neigungen Hindemiths weisen auf andere Zusammenhänge zurück (Reger). In der Bildung der größeren Form sind die vorklassischen Modelle am deutlichsten, freilich bei Strawinsky auch diese fast stets verschoben und kunstvoll entfremdet. Der Instrumentationsstil strebt Deutlichkeit und Nüchternheit an, ohne wie der des späten Schönberg die Differenziertheit der Komposition selber auszudrücken. Statt dessen bemüht sich die neo-klassizistische Instrumentation, darin wieder dem Gegenbild des Neoklassizismus, dem Impressionismus verwandt, darum, möglichst instrumentengerecht, aus der besonderen Spielweise jedes einzelnen Instruments heraus zu setzen, nicht aus Klangphantasie neue Wirkungen und Mischungen zu erproben.
Der Neoklassizismus war literarisch vorbereitet durch den Kampf Nietzsches gegen Wagner und durch die Schriften von Busoni und Cocteau (»Le coq et l'arlequin«, 1919), die beide auf Nietzsche zurückgehen. Von großem Einfluß waren weiter die Ballettkunst von Diaghilew und die späte Malweise von Picasso, die freilich niemals zu jener Art von Konformismus sich hergab wie die neo-klassizistische Musik. Im Gegensatz zu Picasso hat Strawinsky am Neoklassizismus festgehalten, ohne sich auch nur die leiseste anarchische Abweichung zu gestatten. Die äußersten Konsequenzen aus der neo-klassizistischen Doktrin – mit starken Rückverbindungen zum Dadaismus – hat Erik Satie gezogen, dessen »Socrate« (1918) heute noch vielen als reinstes Paradigma des Neoklassizismus gilt. Strawinsky hat den Neoklassizismus ins Bereich meisterlichen, voll über die Mittel verfügenden Komponierens versetzt. Doch sind auch im Rahmen des einmal etablierten Stils seine neo-klassizistischen Werke überaus ungleich: sehr schwachen und substanzlosen wie der Klavierserenade, dem Apollon Musagète und dem Duo Concertante stehen sehr reiche und artikulierte Gebilde wie das Capriccio für Klavier und Orchester und das Konzert für zwei Klaviere oder die überaus hintergründige Tschaikowsky-Phantasmagorie Le baiser de la fée gegenüber. Soweit sich von einer Entwicklungstendenz des neo-klassizistischen Strawinsky reden läßt, geht sie fraglos in der Richtung, der kahlen und zuweilen die Langeweile streifenden Verfahrungsweise reichere und vielfältigere Kompositionsmittel zuzuführen. Hindemith hat den Neoklassizismus der deutschen Kompositionstradition assimiliert und ihn aus seiner Starrheit gelöst, damit aber die Idee ins ›Musikantische‹ gemildert und die provokatorischen Züge ganz abgestoßen. Meister wie Bartók (1. Klavierkonzert) und Ravel in seiner letzten Zeit zeigten sich vom Neoklassizismus beeinflußt. Die jungen Komponisten fast aller Länder haben sich der Richtung verschrieben; seit Debussy ist kein Komponist soviel imitiert worden wie Strawinsky. Der gefährliche Anreiz des Neoklassizismus liegt darin, daß er den bequemen Weg darstellt, zugleich harmlos traditionalistisch und mit dem Anschein der Modernität zu komponieren. Dadurch bedroht fraglos der Neoklassizismus heute die Sauberkeit des technischen Kompositionsniveaus einer ganzen Generation.