Dritter Teil
Monographien zur Qualitativen Analyse der Diskussionen
Vorbemerkung
Warum wir einen wesentlichen Teil der Auswertungsarbeit der qualitativen Analyse haben zukommen lassen, ist in der Einleitung dargelegt. Die Fülle und Konkretion des Materials, das unsere Gruppenversuche gezeitigt haben, wäre sonst der Darstellung verloren gegangen. Von jener Fülle vermögen auch die qualitativen Analysen trotz aller Belege nur eine recht fragmentarische Vorstellung zu geben. Eigentlich war es unsere Absicht, als Anhang die wörtliche Übertragung einiger typischer Protokolle der Publikation beizufügen. Nur Raumbeschränkung hat uns daran gehindert. Die eigentliche Überzeugungskraft der qualitativen Befunde, ihr Zwingendes, teilt sich, solange nicht die Auswertungsmethoden weit über den gegenwärtigen Stand hinaus entwickelt sind, nur durch die Kenntnis des primären Materials mit: erst der lebendigen Erfahrung ganzer zusammenhängender Diskussionen zergeht der Schein von Willkür, der an der Auslegung von Einzelbelegen haftet, solange sie nicht im Strukturzusammenhang gesehen werden.
Es bedarf kaum des ausdrücklichen Hinweises darauf, daß uns die Einwände der orthodoxen amerikanischen Sozialforschung gegen die qualitative Analyse wohlvertraut sind. Man kann sie nachlesen etwa in Dorwin P. Cartwright, Analysis of Qualitative Material, in Leon Festinger and Daniel Katz (ed.), Research Methods in the Behavioral Sciences, New York 1953, S. 434ff. Der Schwerpunkt jener Einwände ist das Argument, es könnten qualitative Analysen zwar an sich richtig sein, blieben aber solange bloße »Expertenmeinungen«, bis der Analytiker anderen Schritt für Schritt dartun könne, auf welche Weise er seine Einsichten gewonnen hat. Die dabei zugrunde liegende Hypothese, daß in den Sozialwissenschaften jeder qualifizierte Gelehrte gleichsam durch den anderen austauschbar sein müsse, daß jeder jeden gleichsam kontrolliere, vermögen wir nicht zu teilen: sie sieht daran vorbei, daß die subjektiven Bedingungen gesellschaftlicher Erkenntnis weit differenzierter, auf sedimentiertes Wissen und theoretische Einsicht bezogen sind als beim stillschweigend als Vorbild anerkannten naturwissenschaftlichen Experiment. Die Forderung der Austauschbarkeit in der Soziologie setzt stillschweigend eine Identität der Geister voraus, und diese Fiktion verurteilte die Erkenntnis zur Sterilität.
Nichts aber wäre unseren Intentionen entgegengesetzter, als daraus etwa eine Art soziologischer Esoterik ableiten zu wollen und die gesellschaftliche Einsicht zu einem Privileg jener Art von Intuition zu machen, die meist einzig in der Phantasie derjenigen besteht, die Erfahrungen von anderer Art als Zählen und Messen nur als magische Akte sich vorstellen können. Wir haben darum die qualitativen Analysen nicht nur mit mehr Belegen belastet, als der Darstellung vielleicht zuträglich ist, sondern auch allenthalben versucht, die Momente im Material herauszuarbeiten, auf welche die Analyse jeweils sich stützt, und die theoretischen Hintergründe zumindest soweit aufzudecken, wie notwendig ist, um verstehen zu lassen, wie wir zu den vorgetragenen Interpretationen gelangten.
Die qualitativen Analysen wurden als Monographien angelegt. Es wurde Gestalt und Dynamik der Einstellung unserer Diskussionsteilnehmer zu einigen Themen untersucht, die für das Forschungsziel der Studie besonders relevant dünkten. Der erhebliche Umfang dieser Monographien nötigte uns zur Auswahl: wir mußten uns mit zwei vollständigen Texten begnügen. Die Auswahl bereitete Schwierigkeiten. Wir konnten weder systematisch noch nach der Wichtigkeit der untersuchten Themen verfahren. Die Untersuchung über Integrationsphänomene[1] mußte auf jeden Fall eingeschlossen werden, nicht bloß, weil sie sich auf die Gesamtstruktur der Diskussionen bezieht, sondern auch, weil sie gleichsam den formalen Rahmen erstellt für das Problem des Konformismus, die Identifikation mit dem Kollektiv, die inhaltlich zu den wichtigsten Ergebnissen zählt.
Für die Monographie Schuld und Abwehr haben wir uns entschieden, weil sie erlaubt zu konkretisieren, daß die Gruppenmethode affektbesetzte, aus tieferen Schichten der Befragten stammende Äußerungen auslöst, an welche die traditionellen Fragemethoden nicht heranreichen. Zudem gibt die Studie eine Art Phänomenologie dessen, was die Diskussionsteilnehmer selbst so gerne deutsche Neurose nennen, und was sich erst dann wird heilen lassen, wenn es seiner Struktur nach erkannt, ins Bewußtsein gehoben ist. Dies Ergebnis scheint uns weit wichtiger als die oft befremdenden Ansichten, welche unsere Versuchsteilnehmer zu jenen heikelsten Gegenständen geäußert haben und die, isoliert genommen und aus der psychischen Dynamik herausgelöst, falsch eingeschätzt würden. Gerade hier ist nochmals nachdrücklich daran zu erinnern, daß die qualitative Analyse ihr Wesen daran hat, Typen von Einstellungen und Meinungen herauszuarbeiten und nicht deren Distribution. Wir fragen nicht, wieviele Menschen etwa über die Schuldfrage nun auch wirklich so denken, »wie man halt in Deutschland denkt«, sondern auf welche charakteristischen Weisen sie versuchen, mit dem Komplex fertig zu werden, welche Rolle dabei die politische Ideologie spielt und wie umgekehrt die politische Ideologie nach den Bedürfnissen jener Bewältigung sich richtet. Vor allem aber wollten wir in der Beschreibung des in der Luft Liegenden den allgegenwärtigen Grundreiz bloßlegen, dem jeder damals in Deutschland Lebende ausgesetzt war.
Fußnoten
[1 Vgl. Gruppenexperiment, a.a.O., VI. Kapitel (Integrationsphänomene in Diskussionsgruppen), S. 429ff.]