Aus dem Ersten Mahler-Vortrag
Das Werk, das Sie heute, nach diesem ersten des auf drei Vorträge berechneten Zyklus*, hören werden, ist Gustav Mahlers Neunte. Sie auszuwählen, hat uns die Erwägung veranlaßt, daß, im Gegensatz zur landläufigen Meinung, die ihrer geistigen und technischen Zusammensetzung nach der eigenen Zeit nahe stehenden Werke leichter verständlich sind als die älteren, von der Geschichte bereits entrückten. Gewiß ist jede Note, die Mahler geschrieben hat, aktuell, unmittelbar einleuchtend aber wird diese Aktualität an den Gebilden seiner Spätphase.
Ich denke dabei gar nicht einmal so sehr an das in der Neunten Symphonie verwendete Material, obwohl es an scharfen dissonanten Zusammenstößen so wenig fehlt wie an sehr polyphonen Partien im ersten und dritten Satz. Modern an dem Werk ist vielmehr die völlige Freiheit seines Aufbaus, die Abwendung von den überkommenen Formtypen, so, wie es dann erst von der neuen Musik ganz eingelöst worden ist. Aktuell vor allem aber ist der Gehalt, ein Gefühl von der Wirklichkeit, das diese nicht verklärt, nicht tröstet sondern ohne Reservat der Erfahrung von Trauer, Verlassenheit, Negativität sich stellt und dabei doch ohne Haß, mit hoffnungsloser Zärtlichkeit auf das blickt, wovon die Musik scheidet.
Unkonventionell ist die Organisation der gesamten Form. Die beiden Ecksätze sind langsam; in der Mitte steht ein Scherzo und dann das Rondo, das von seinem traditionellen Platz am Ende entfernt wird. Diese ungewohnte symphonische Disposition hat Alban Berg fortgesetzt, dessen Lulu-Symphonie mit einem Rondo beginnt und mit einem Adagio schließt.
Die beiden Mahlerschen Ecksätze korrespondieren nicht nur durchs Tempo, sondern auch durch gewisse strukturelle Elemente, wie dadurch, daß sie beide symphonische Dialoge über zwei stets miteinander abwechselnde und sich wandelnde Hauptthemen sind, und dadurch, daß beide nicht im herkömmlichen Sinn gesammelt, definitiv schließen, sondern sich in Partikeln auflösen und verklingen. Form in der Musik braucht nicht durch handgreifliche Identitäten wiederkehrender Themen gestiftet zu werden, sondern auch solche Analogien der Struktur können architektonisch gliedern, ohne daß mit handgreiflichen und oft ein wenig literarischen Themenreminiszenzen gearbeitet würde. Dabei ist der Charakter der beiden Sätze doch auch wiederum ganz verschieden. Der erste, ein Andante, hat die Neigung, Allegro zu werden und ist gestaltenreich wie ein solches, eine vielfach verschlungene Geschichte. Der letzte dagegen ist als Adagio angelegt, etwa wie die Brucknerschen langsamen Sätze, an die er mehr als alles andere aus Mahlers Hand erinnert, und trotz seiner Länge eher eine Strophenfolge, ohne eigentliche Durchführung.
Von den beiden Mittelsätzen exponiert das Scherzo drei sehr deutlich kontrastierende Komplexe, einen Ländler, einen in kräftigen Ganztonfortschreitungen harmonisierten Walzer, und abermals einen diesmal überlangsamen Ländler. Diese Bestandteile sind, wie in allen Scherzi des reifen Mahler, unablässig miteinander kombiniert, kaleidoskopisch herumgeschüttelt. Neu jedoch ist die montagehafte Behandlung des ersten Ländlerthemas: als wäre ein normaler Ländler in Stücke geschlagen und diese kunstvoll-brüchig aneinander gefügt. Von dieser verfremdeten Volksmusik geht ein Choc aus, ängstigend wie manche früheren Gebilde Strawinskys, den Mahler, im Hauptthemenkomplex des Scherzos, dies eine Mal merkwürdig antezipiert: eine der frühesten Manifestationen von musikalischem Surrealismus.
Der dritte Satz, das Rondo, ist »Burleske« überschrieben, ein wild virtuoses Stück, virtuos fürs Orchester, virtuos auch in der Kontrapunktik wie nichts anderes von Mahler. Außer den eigentlichen Rondothemen gibt es einen Gang, im Zweivierteltakt, der wie in tödlichem Leichtsinn am Rande eines Abgrunds zu taumeln scheint. Ein fast unbemerkt entgleitender Kontrapunkt gegen Ende der großen Durchführung wird überraschend festgehalten und zu einer großen, lyrischen Episode ausgesponnen, deren doppelbödige Süße an den Gesang des Trunkenen im Frühling aus dem Lied von der Erde mahnt. Dies neu gewonnene Thema kehrt dann im letzten Satz wieder, der dadurch mit den Mittelsätzen verklammert ist. In ihm jedoch wird das Thema ganz langsam gebracht, wie durch die Zeitlupe. Mahler hat solche Techniken, wie sie dem Film eigentümlich sind, der Komposition zugeführt, längst ehe man die Zeitdimension in die musikalische Konstruktion einbezog.
Entscheidend aber sind die Ecksätze. Am ersten ist das Wichtigste das merkwürdige Dialogisieren. Nennt man ihn polyphon, so darf man nicht an den Bachischen oder Schönbergischen Begriff von Polyphonie denken. Insgesamt bleibt das Stück homophon im Bereich des Generalbasses. Aber in seinen Akkorden kreuzen sich die Stimmen, reiben sich aneinander, übertönen sich, manchmal wie wenn eine Menge murmelte. Dies Ineinanderreden der Stimmen intensiviert sich dann bis zum Höhepunkt, wo die Musik in sich zusammenstürzt, um danach nur noch einmal epilogisch anzusetzen, ehe sie, schmeichelnd und todtraurig, verschwebt.
Der korrespondierende letzte Satz ist von nicht geringerer Originalität der Konzeption. Sein Gegenthema nämlich, in Moll, ist ursprünglich nur eine zweitaktige Interpolation; sooft es wiederkehrt, entfaltet es sich mehr, breitet sich aus, bis der Satz seine Wendestelle erreicht. Mahler bezeichnet sie mit »heftig ausbrechend«; der Charakter des Ausbruchs, der seine Symphonien insgesamt durchherrscht, ist wohl nie von ihm drastischer getroffen worden. Das Hauptthema tritt an dieser Stelle in den Streichern nicht mit seinem Anfang, sondern mit seinem zweiten Teil wieder ein, der ursprünglich auf die zwei interpolierten Takte folgte. Erst nach einer äußersten Anspannung kommt es zur eigentlichen, harmonisch unerschöpflich abgewandelten, herzbrechenden Reprise. Durch die Umstellung der beiden Abschnitte des Hauptthemas wirkt der Satz, als ob er von seiner Zentralstelle aus rückwärts sich wendete; die Idee krebsgängiger Disposition großer Strukturen, die später wiederum bei Alban Berg so wesentlich wurde, scheint in Mahler auf, ohne daß er dem Buchstaben nach daran sich hielte. Allmählich verliert sich dann das Orchester wie in Haydns Abschiedssymphonie; unbeschreiblich rührend der letzte Bläsertakt darin, ein Motiv des englischen Horns. Dann bleiben nur noch die Streicher für eine lange Coda übrig. Sie ist voll von Beziehungen und Anspielungen, zumal auf eines der Kindertotenlieder. Nicht nur dynamisch erstirbt das Stück, auch thematisch kommt es zur Ruhe. Ohne daß ein Punkt gesetzt wäre, blickt es eher fragend als traurig, aber auch ohne Jasagen, ins Ungewisse. Die Musik hält so den Atem an, wie sie es von ihren Hörern erwartet: als wäre ihr Ende der letzte Atemzug.
Fußnoten
* Adorno hielt im September und November 1960 im Norddeutschen Rundfunk drei Vorträge über Mahler; der erste ist identisch mit der Wiener Gedenkrede zu Mahlers hundertstem Geburtstag (vgl. GS 16, s. S. 323ff.); hier gelangt der in der Gedenkrede fehlende Teil zum Abdruck, der sich auf die Aufführung der Neunten Symphonie bezieht.