Vorträge und Thesen
Die Aktualität der Philosophie
Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen. Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich selbst in einer Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt; allein polemisch bietet sie dem Erkennenden als ganze Wirklichkeit sich dar, während sie nur in Spuren und Trümmern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten. Philosophie, die sie heute dafür ausgibt, dient zu nichts anderem, als die Wirklichkeit zu verhüllen und ihren gegenwärtigen Zustand zu verewigen. Vor aller Antwort ist solche Funktion bereits in der Frage gelegen; jener Frage, die man heute die radikale nennt und die doch die unradikalste von allen ist: der Frage nach Sein schlechthin, wie sie die neuen ontologischen Entwürfe ausdrücklich formulieren und wie sie trotz aller Gegensätze auch den idealistischen Systemen zugrunde lag, die man überwunden meint. Denn diese Frage setzt als Möglichkeit ihrer Beantwortung voraus, daß Sein schlechthin dem Denken angemessen und zugänglich, daß die Idee des Seienden erfragbar sei. Die Angemessenheit von Denken an Sein als Totalität aber hat sich zersetzt, und damit ist die Idee des Seienden selber unerfragbar geworden, die einzig über einer runden und geschlossenen Wirklichkeit als Stern in klarer Transparenz stehen könnte und die vielleicht für alle Zeit dem menschlichen Auge verblaßt ist, seitdem die Bilder unseres Lebens allein noch durch Geschichte verbürgt sind. Die Idee des Seins ist in der Philosophie ohnmächtig geworden; mehr nicht als ein leeres Formalprinzip, dessen archaische Würde beliebige Inhalte umkleiden hilft. Weder läßt die Fülle des Wirklichen, als Totalität, der Seinsidee sich unterstellen, die ihr den Sinn zuwiese; noch läßt die Idee des Seienden aus den Elementen des Wirklichen sich aufbauen. Sie ist für die Philosophie verloren und damit deren Anspruch auf die Totalität des Wirklichen im Ursprung getroffen.
Davon legt die Geschichte der Philosophie selbst Zeugnis ab. Die Krise des Idealismus kommt einer Krise des philosophischen Totalitätsanspruches gleich. Die autonome ratio – das war die Thesis aller idealistischen Systeme – sollte fähig sein, den Begriff der Wirklichkeit und alle Wirklichkeit selber aus sich heraus zu entwickeln. Diese Thesis hat sich aufgelöst. Der Neukantianismus der Marburger Schule, der am strengsten trachtete, aus logischen Kategorien den Gehalt der Wirklichkeit zu gewinnen, hat zwar seine systematische Geschlossenheit gewahrt, dafür aber jeden Rechtes über die Wirklichkeit sich begeben und sieht sich in eine formale Region verwiesen, in der jede inhaltliche Bestimmung zum virtuellen Endpunkt eines unendlichen Prozesses sich verflüchtigt. Die Gegenposition zur Marburger Schule im Umkreis des Idealismus, die Lebensphilosophie Simmels, psychologistisch und irrationalistisch orientiert, hat zwar den Kontakt mit der Wirklichkeit behalten, die sie behandelt, aber dafür jedes sinngebende Recht über die andrängende Empirie verloren und im blinden und unerhellten Naturbegriff des Lebendigen resigniert, den sie vergebens zur unklaren, scheinhaften Transzendenz des Mehr-als-Lebens zu steigern suchte. Die südwestdeutsche Schule Rickerts endlich, die zwischen den Extremen vermittelt, meint in den Werten über konkretere und handlichere philosophische Maßstäbe zu verfügen, als die Marburger in ihren Ideen sie besitzen, und hat eine Methode ausgebildet, die zu jenen Werten die Empirie in eine wie immer auch fragliche Beziehung setzt. Aber Ort und Ursprung der Werte bleiben unbestimmt; zwischen logischer Notwendigkeit und psychologischer Mannigfaltigkeit liegen sie irgendwo; unverbindlich im Wirklichen, undurchsichtig im Geistigen; eine Scheinontologie, die die Frage des Woher-Geltens so wenig zu tragen vermag wie die des Wofür-Geltens. – Abseits der großen Lösungsversuche der idealistischen Philosophie arbeiten die wissenschaftlichen Philosophien, die von Anbeginn auf die idealistische Grundfrage nach der Konstitution des Wirklichen verzichten, sie allein noch im Rahmen einer Propädeutik der ausgeführten Einzelwissenschaften, der Naturwissenschaften zumal, gelten lassen und dafür meinen, in den Gegebenheiten, sei es des Bewußtseinszusammenhanges, sei es der einzelwissenschaftlichen Forschung, sicheren Grund zu besitzen. Während sie den Zusammenhang mit den historischen Problemen der Philosophie verloren, vergaßen sie, daß ihre eigenen Feststellungen in jeder Voraussetzung mit den historischen Problemen und der Problemgeschichte unauflöslich verknüpft sind und unabhängig von ihnen sich nicht lösen lassen.
In dieser Situation setzt die Anstrengung des philosophischen Geistes ein, die uns unter dem Namen der Phänomenologie gegenwärtig ist: die Anstrengung, nach dem Zerfall der idealistischen Systeme und mit dem Instrument des Idealismus, der autonomen ratio, eine übersubjektiv verbindliche Seinsordnung zu gewinnen. Es ist die tiefe Paradoxie aller phänomenologischen Intentionen, daß sie vermittels der gleichen Kategorien, die das subjektive, nachcartesianische Denken hervorgebracht hat, eben jene Objektivität zu gewinnen trachteten, der diese Intentionen im Ursprung widersprechen. Daß die Phänomenologie in Husserl gerade vom transzendentalen Idealismus ihren Ausgang nahm, ist darum kein Zufall, und die späten Produkte der Phänomenologie können diesen Ursprung um so weniger verleugnen, je mehr sie ihn zu verbergen trachten. Es war die eigentliche produktive Entdeckung Husserls – wichtiger als die nach außen wirksamere Methode der »Wesensschau« –, daß er den Begriff der unableitbaren Gegebenheit, wie ihn die positivistischen Richtungen ausgebildet hatten, in seiner Bedeutung für das Fundamentalproblem des Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit erkannte und fruchtbar machte. Er hat den Begriff der originär gebenden Anschauung der Psychologie entrissen und in der Ausbildung der deskriptiven Methode der Philosophie eine Zuverlässigkeit der begrenzten Analyse zurückgewonnen, die sie längst an die Einzelwissenschaften verloren hatte. Aber es läßt sich nicht verkennen – und daß Husserl es offen aussprach, erweist die große und reine Aufrichtigkeit des Denkers –, daß die Husserlschen Gegebenheitsanalysen allesamt auf ein unausdrückliches System des transzendentalen Idealismus bezogen bleiben, dessen Idee bei Husserl schließlich auch formuliert ist; daß die »Rechtsprechung der Vernunft« die letzte Instanz für das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit bleibt; daß darum alle Husserlschen Deskriptionen dem Umkreis dieser Vernunft angehören. Husserl hat den Idealismus von jedem spekulativen Zuviel gereinigt und ihn auf das Maß der höchsten ihm erreichbaren Realität gebracht. Aber er hat ihn nicht gesprengt. In seinem Bereich herrscht wie bei Cohen und Natorp der autonome Geist; nur hat er dem Anspruch der produktiven Kraft des Geistes, der Kantischen und Fichteschen Spontaneität entsagt und bescheidet sich, wie nur Kant selber noch sich beschied, die Sphäre dessen in Besitz zu nehmen, was ihm adäquat erreichbar ist. Die übliche Auffassung der philosophischen Geschichte der letzten dreißig Jahre will in dieser Selbstbescheidung der Husserlschen Phänomenologie ihre Begrenztheit sehen und betrachtet sie als Beginn einer Entwicklung, die schließlich zum ausgeführten Entwurf eben jener Seinsordnung führt, der in Husserls Beschreibung der noetisch-noematischen Beziehung nur formal angelegt sei. Ich muß dieser Auffassung ausdrücklich widersprechen. Der Übergang in die »materiale Phänomenologie« ist nur scheinhaft geraten und um den Preis jener Zuverlässigkeit des Befundes, die allein den Rechtsgrund der phänomenologischen Methode gewährte. Wenn in der Entwicklung Max Schelers die ewigen Grundwahrheiten in jähem Wechsel sich ablösten, um schließlich in die Ohnmacht ihrer Transzendenz verbannt zu werden, so mag man darin gewiß den unermüdlich fragenden Drang eines Denkens erblicken, das einzig in der Bewegung von Irrtum zu Irrtum der Wahrheit teilhaftig wird. Aber die rätselhafte und beunruhigende Entwicklung Schelers will strenger verstanden werden als bloß unter der Kategorie individuellen geistigen Schicksals. Sie zeigt vielmehr an, daß der Übergang der Phänomenologie aus der formal-idealistischen in die materiale und objektive Region nicht sprunglos und zweifelsfrei gelingen konnte, sondern daß die Bilder übergeschichtlicher Wahrheit, die einmal jene Philosophie auf dem Hintergrund der geschlossenen katholischen Lehre so verführerisch entwarf, sich verwirrten und zersetzten, sobald sie einmal in eben jener Wirklichkeit aufgesucht wurden, deren Erfassung ja gerade das Programm der »materialen Phänomenologie« ausmacht. Die letzte Wendung Schelers scheint mir ihr eigentliches exemplarisches Recht daher zu besitzen, daß er den Sprung zwischen den ewigen Ideen und der Wirklichkeit, den zu überwinden die Phänomenologie sich in die materiale Sphäre hineinbegab, nun selber material-metaphysisch anerkannte und die Wirklichkeit einem blinden »Drang« überließ, dessen Beziehung zum Ideenhimmel dunkel und problematisch ist und nur gerade der schwächsten Spur von Hoffnung noch Raum läßt. In Scheler hat die materiale Phänomenologie sich selber dialektisch zurückgenommen: von ihrem ontologischen Entwurf ist ihr bloß die Metaphysik des Dranges übrig; die letzte Ewigkeit, über die seine Philosophie verfügt, ist die der grenzenlosen und unbeherrschten Dynamik. Unter dem Aspekt dieser Selbst-Zurücknahme der Phänomenologie wird auch die Lehre Martin Heideggers sich anders darstellen, als das Pathos des Beginnes sie erscheinen läßt, das ihre Außenwirkung erklärt. Anstelle der Frage nach den objektiven Ideen und dem objektiven Sein ist bei Heidegger, wenigstens in den publizierten Schriften, die subjektive getreten; die Forderung der materialen Ontologie ist auf das Bereich der Subjektivität reduziert und sucht in deren Tiefe, was sie in der offenen Fülle der Wirklichkeit nicht aufzufinden vermag. Es ist darum kein Zufall, auch im philosophie-historischen Sinne kein Zufall, daß Heidegger gerade auf den letzten Entwurf einer subjektiven Ontologie zurückgreift, den das abendländische Denken hervorbrachte: die Existentialphilosophie Sören Kierkegaards. Aber Kierkegaards Entwurf ist zerbrochen und unwiederherstellbar. Kein fest gegründetes Sein vermochte Kierkegaards rastlose Dialektik in der Subjektivität zu erlangen; die letzte Tiefe, die sich ihr erschloß, war die der Verzweiflung, in der die Subjektivität zerfällt; eine objektive Verzweiflung, die den Entwurf des Seins in Subjektivität zu einem Entwurf der Hölle verzaubert; aus diesem Höllenraum weiß sie sich nicht anders zu retten als durch einen »Sprung« in die Transzendenz, der uneigentlich, inhaltslos und selber subjektiver Denkakt bleibt und seine höchste Bestimmung in der Paradoxie findet, daß hier der subjektive Geist sich selber opfern muß und dafür einen Glauben zurückbehält, dessen Inhalte, zufällig für die Subjektivität, allein dem Bibelwort entspringen. Nur durch die Annahme einer prinzipiell undialektischen und geschichtlich vordialektischen, »zurhandenen« Wirklichkeit vermag solcher Konsequenz Heidegger sich zu entziehen. Aber Sprung und dialektisches Negat des subjektiven Seins machen auch hier dessen einzige Rechtfertigung aus: nur daß die Analyse des Vorfindlichen, in der Heidegger der Phänomenologie verbunden bleibt und von Kierkegaards idealistischer Spekulation sich prinzipiell unterscheidet, die Transzendenz des Glaubens und ihre spontane Ergreifung im Opfer des subjektiven Geistes verwehrt und stattdessen allein noch eine Transzendenz zum vitalen Sosein, blind und dunkel, anerkennt: im Tode. Mit Heideggers Metaphysik des Todes besiegelt die Phänomenologie eine Entwicklung, die Scheler bereits mit der Lehre vom Drang inaugurierte. Es kann nicht verschwiegen werden, daß damit die Phänomenologie im Begriff ist, bei eben jenem Vitalismus zu enden, dem sie im Ursprung den Kampf ansagte: die Transzendenz des Todes bei Simmel unterscheidet von der Heideggerschen sich allein dadurch, daß sie in psychologischen Kategorien verbleibt, wo Heidegger in ontologischen redet, ohne daß in der Sache – etwa der Analyse des Angstphänomens – ein sicheres Mittel der Unterscheidung mehr auffindbar wäre. Es stimmt zu dieser Auffassung – der des Überganges der Phänomenologie in Vitalismus –, daß Heidegger der zweiten großen Bedrohung der phänomenologischen Ontologie, der durch den Historismus, sich nur dadurch zu entziehen wußte, daß er die Zeit selber ontologisierte, als Konstituens des Wesens Mensch ansetzte: wodurch das Bemühen der materialen Phänomenologie, das Ewige im Menschen aufzusuchen, paradox sich auflöst: als Ewiges bleibt allein die Zeitlichkeit übrig. Dem ontologischen Anspruch genügen einzig noch die Kategorien, deren Alleinherrschaft die Phänomenologie das Denken entheben wollte: bloße Subjektivität und bloße Zeitlichkeit. Mit dem Begriff der »Geworfenheit«, der als letzte Bedingung menschlichen Seins angesetzt ist, wird das Leben so blind und sinnleer bei sich selber, wie es nur in der Lebensphilosophie war, und der Tod weiß ihm einen positiven Sinn hier so wenig zuzumessen wie dort. Der Totalitätsanspruch des Denkens ist aufs Denken selber zurückgeworfen und schließlich auch dort zerbrochen. Es bedarf allein der Einsicht in die Enge der Heideggerschen Existentialkategorien Geworfenheit, Angst und Tod, die ja die Fülle des Lebendigen nicht zu bannen vermögen, und der pure Lebensbegriff reißt den Heideggerschen Ontologieentwurf vollends an sich. Wenn nicht alles trügt, bereitet mit dieser Erweiterung bereits der endgültige Zerfall der phänomenologischen Philosophie sich vor. Zum zweiten Male steht Philosophie ohnmächtig vor der Frage nach dem Sein. Sie hat so wenig das Sein als eigenständig und fundamental zu beschreiben wie zuvor aus sich zu entfalten vermocht.
Ich bin auf die jüngste Philosophiegeschichte eingegangen nicht um der allgemeinen geistesgeschichtlichen Orientierung willen, sondern weil einzig aus der geschichtlichen Verflechtung der Fragen und Antworten die philosophische Aktualitätsfrage präzis sich ergibt. Und zwar nach dem Scheitern der Bemühungen um große und totale Philosophien in der schlichten Form: ob Philosophie selber überhaupt aktuell sei. Unter Aktualität wird dabei nicht ihre vage »Fälligkeit« oder Nichtfälligkeit auf Grund unverbindlicher Vorstellungen von der allgemeinen geistigen Situation verstanden, sondern vielmehr: ob nach dem Scheitern der letzten großen Anstrengungen überhaupt noch eine Angemessenheit zwischen den philosophischen Fragen und der Möglichkeit ihrer Beantwortung besteht: ob nicht vielmehr das eigentliche Ergebnis der jüngsten Problemgeschichte die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der philosophischen Kardinalfragen sei. Die Frage ist keineswegs rhetorisch, sondern sehr buchstäblich zu nehmen; jede Philosophie, der es heute nicht auf Sicherheit des bestehenden geistigen und gesellschaftlichen Zustandes, sondern auf Wahrheit ankommt, sieht sich dem Problem einer Liquidation der Philosophie selber gegenüber. Die Liquidation der Philosophie ist mit kaum je dagewesenem Ernst von der Wissenschaft, zumal der logischen und mathematischen, in Angriff genommen; einem Ernst, der sein eigentliches Gewicht darum hat, weil längst die Einzelwissenschaften, auch die mathematischen Naturwissenschaften, der naturalistischen Begriffsapparatur sich entledigt haben, die sie im neunzehnten Jahrhundert gegenüber den idealistischen Erkenntnistheorien unterlegen machte, und den Sachgehalt der Erkenntniskritik sich vollständig einverleibten. Mit Hilfe geschärfter erkenntniskritischer Methoden unternimmt es die fortgeschrittenste Logik – ich denke an die neue Wiener Schule, wie sie von Schlick ausging, heute von Carnap und Dubislav weitergeführt wird und in engem Zusammenhang mit den Logistikern und mit Russell operiert –, alle eigentliche, weiterführende Erkenntnis der Erfahrung ausschließlich vorzubehalten und alle Sätze, die irgend über den Umkreis der Erfahrung und deren Relativität hinausgreifen, allein in Tautologien, in analytischen Sätzen zu suchen. Danach wäre die Kantische Frage nach der Konstitution synthetischer Urteile a priori schlechterdings gegenstandslos, weil es solche Urteile überhaupt nicht gibt; jedes Hinausgehen über das kraft der Erfahrung Verifizierbare wird verwehrt; Philosophie wird allein zur Ordnungs- und Kontrollinstanz der Einzelwissenschaften, ohne aus Eigenem den einzelwissenschaftlichen Befunden Wesentliches hinzufügen zu dürfen. Dem Ideal solcher schlechterdings wissenschaftlichen Philosophie ist – nicht zwar für die Wiener Schule, aber für jegliche Auffassung, die Philosophie gegenüber dem Anspruch ausschließlicher Wissenschaftlichkeit verteidigen möchte und diesen Anspruch doch selber anerkennt – als Ergänzung und Anhang zugeordnet ein Begriff von philosophischer Dichtung, dessen Unverbindlichkeit vor der Wahrheit allein noch von seiner Kunstfremdheit und ästhetischen Inferiorität übertroffen wird; man sollte schon lieber die Philosophie bündig liquidieren und in Einzelwissenschaften auflösen, als mit einem Dichtungsideal ihr zu Hilfe kommen, das nichts anderes als eine schlechte ornamentale Verkleidung falscher Gedanken bedeutet.
Es muß nun gesagt sein, daß immerhin die Thesis der prinzipiellen Auflösbarkeit aller philosophischen Fragestellungen in einzelwissenschaftliche auch heute keineswegs zweifelsfrei sichergestellt, vor allem, daß sie selber philosophisch keineswegs so voraussetzungslos ist, wie sie sich gibt. Ich möchte lediglich an zwei Probleme erinnern, die auf Grund jener Thesis sich nicht bewältigen ließen: einmal das Problem des Sinnes von »Gegebenheit« selber, der Fundamentalkategorie alles Empirismus, bei der die Frage nach dem zugehörigen Subjekt je und je bestehen bleibt und nur geschichtsphilosophisch sich beantworten läßt: denn das Subjekt von Gegebenheit ist kein geschichtslos identisches, transzendentales, sondern nimmt mit Geschichte wechselnde und geschichtlich einsichtige Gestalt an. Dies Problem ist im Rahmen des Empiriokritizismus, auch des modernsten, überhaupt nicht gestellt worden, sondern er hat an dieser Stelle den Kantischen Ausgangspunkt naiv übernommen. Das andere Problem ist ihm geläufig, aber nur willkürlich und ohne alle Stringenz gelöst worden: das des fremden Bewußtseins, des fremden Ich, das für den Empiriokritizismus allein durch Analogie erschlossen, auf Grund eigener Erlebnisse nachträglich komponiert werden kann; während doch die empiriokritizistische Methode bereits in der Sprache, über die sie verfügt, und im Postulat der Verifizierbarkeit notwendig fremdes Bewußtsein voraussetzt. Allein schon durch die Stellung dieser beiden Probleme wird die Lehre der Wiener Schule in eben jene philosophische Kontinuität hereingezogen, die sie von sich fernhalten möchte. Jedoch das besagt nichts gegen die außerordentliche Wichtigkeit dieser Schule. Ich erblicke ihre Bedeutung weniger darin, daß ihr nun tatsächlich die projektierte Überführung von Philosophie in Wissenschaft gelungen wäre, als darin, daß sie durch die Schärfe, mit der sie formuliert, was an Philosophie Wissenschaft ist, die Konturen alles dessen hervortreibt, was an Philosophie anderen Instanzen als den logischen und den einzelwissenschaftlichen untersteht. Die Philosophie wird nicht in Wissenschaft sich verwandeln, aber sie wird unter dem Druck des empiristischen Angriffs alle die Fragestellungen aus sich verbannen, die als spezifisch wissenschaftliche den Einzelwissenschaften gebühren und die philosophischen Problemstellungen trüben. Ich meine das nicht so, als ob die Philosophie den Kontakt mit den Einzelwissenschaften, den sie endlich wiedergewonnen hat und den erlangt zu haben zu den glücklichsten Resultaten der jüngsten Geistesgeschichte rechnet, wieder aufgeben oder auch nur lockern sollte. Im Gegenteil. Materiale Fülle und Konkretion der Probleme wird die Philosophie allein dem jeweiligen Stand der Einzelwissenschaften entnehmen können. Sie wird sich auch nicht dadurch über die Einzelwissenschaft erheben dürfen, daß sie deren »Resultate« als fertig hinnimmt und in sicherer Distanz über sie meditiert. Sondern es liegen die philosophischen Probleme stets, und in gewissem Sinne unablöslich, in den bestimmtesten einzelwissenschaftlichen Fragen beschlossen. Philosophie unterscheidet sich von Wissenschaft nicht, wie die banale Meinung heute noch annimmt, durch einen höheren Grad von Allgemeinheit. Weder durch Abstraktheit der Kategorien noch durch die Beschaffenheit des Materials sondert sie sich von Wissenschaften. Die Differenz liegt vielmehr zentral darin: daß die Einzelwissenschaft ihre Befunde, jedenfalls ihre letzten und tiefsten Befunde als unauflöslich und in sich ruhend hinnimmt, während Philosophie den ersten Befund bereits, der ihr begegnet, als Zeichen auffaßt, das zu enträtseln ihr obliegt. Schlicht gesagt: die Idee der Wissenschaft ist Forschung, die der Philosophie Deutung. Dabei bleibt das große, vielleicht das immerwährende Paradoxen: daß Philosophie stets und stets und mit dem Anspruch auf Wahrheit deutend verfahren muß, ohne jemals einen gewissen Schlüssel der Deutung zu besitzen; daß ihr mehr nicht gegeben sind als flüchtige, verschwindende Hinweise in den Rätselfiguren des Seienden und ihren wunderlichen Verschlingungen. Die Geschichte der Philosophie ist nichts anderes als die Geschichte solcher Verschlingungen; darum sind ihr so wenig »Resultate« gegeben; darum muß sie stets von neuem anheben; darum kann sie doch des geringsten Fadens nicht entraten, den die Vorzeit gesponnen hat und der vielleicht gerade die Lineatur ergänzt, die die Chiffern in einen Text verwandeln könnte. Es fällt danach also die Idee der Deutung keineswegs mit dem Problem eines »Sinnes« zusammen, mit dem sie meist verwirrt wird. Einmal ist es nicht die Aufgabe der Philosophie, einen solchen Sinn als positiv gegeben, die Wirklichkeit als »sinnvoll« darzutun und zu rechtfertigen. Jede solche Rechtfertigung des Seienden ist durch die Brüchigkeit im Sein selbst verwehrt; mögen immer unsere Wahrnehmungsbilder Gestalten sein, die Welt, in der wir leben und die sich anders konstituiert als aus bloßen Wahrnehmungsbildern, ist es nicht; der Text, den Philosophie zu lesen hat, ist unvollständig, widerspruchsvoll und brüchig und vieles daran mag der blinden Dämonie überantwortet sein; ja vielleicht ist das Lesen gerade unsere Aufgabe, gerade damit wir lesend die dämonischen Gewalten besser erkennen und bannen lernen. Zum andern fordert die Idee der Deutung nicht die Annahme einer zweiten, einer Hinterwelt, die durch die Analyse der erscheinenden erschlossen werden soll. Der Dualismus des Intelligiblen und Empirischen, wie Kant ihn statuiert hat und wie er wohl erst aus der nachkantischen Perspektive an Platon behauptet ward, dessen Ideenhimmel ja dem Geiste noch unverstellt und offen liegt – dieser Dualismus rechnet eher der Idee der Forschung als der Deutung zu – der Idee der Forschung, die die Reduktion der Frage auf gegebene und bekannte Elemente erwartet, wo nichts notwendig wäre als allein die Antwort. Wer deutet, indem er hinter der phänomenalen Welt eine Welt an sich sucht, die ihr zugrunde liegt und sie trägt, der verhält sich wie einer, der im Rätsel das Abbild eines dahinter liegenden Seins suchen wollte, welches das Rätsel spiegelt, wovon es sich tragen läßt: während die Funktion der Rätsellösung es ist, die Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen und aufzuheben, nicht hinter dem Rätsel zu beharren und ihm zu gleichen. Echte philosophische Deutung trifft nicht einen hinter der Frage bereit liegenden und beharrenden Sinn, sondern erhellt sie jäh und augenblicklich und verzehrt sie zugleich. Und wie Rätsellösungen sich bilden, indem die singulären und versprengten Elemente der Frage so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, während die Frage verschwindet –, so hat Philosophie ihre Elemente, die sie von den Wissenschaften empfängt, so lange in wechselnde Konstellationen, oder, um es mit einem minder astrologischen und wissenschaftlich aktuelleren Ausdruck zu sagen: in wechselnde Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet. Aufgabe der Philosophie ist es nicht, verborgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist [vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928, S. 9–44, besonders S. 21 und S. 33]; eine Aufgabe, an die Philosophie stets gebunden bleibt, weil anders als an jenen harten Fragen ihre Leuchtkraft sich nicht zu entzünden vermag. Man mag hier die scheinbar so erstaunliche und befremdende Affinität aufsuchen, die zwischen der deutenden Philosophie und jener Art von Denken besteht, die die Vorstellung des Intentionalen, des Bedeutenden von der Wirklichkeit am strengsten abwehrt: dem Materialismus. Deutung des Intentionslosen durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung des Wirklichen kraft solcher Deutung: das ist das Programm jeder echten materialistischen Erkenntnis; ein Programm, dem das materialistische Verfahren um so gerechter wird, je weiter es sich von jeglichem »Sinn« seiner Gegenstände distanziert und je weniger es sich selbst auf einen impliziten, etwa religiösen Sinn bezieht. Denn längst hat Deutung von aller Frage nach dem Sinn sich geschieden oder, was das gleiche besagt: die Symbole der Philosophie sind verfallen. Wenn Philosophie lernen muß, auf die Totalitätsfrage zu verzichten, dann heißt das vorab, daß sie lernen muß, ohne die symbolische Funktion auszukommen, in welcher bislang, wenigstens im Idealismus, das Besondere das Allgemeine zu repräsentieren schien; die großen Probleme preiszugeben, deren Größe vordem die Totalität verbürgen wollte, während heute zwischen den weiten Maschen der großen Probleme die Deutung zerrinnt. Wenn wahrhaft Deutung allein durch Zusammenstellung des Kleinsten gerät, dann hat sie an den großen Problemen im herkömmlichen Sinn keinen Anteil mehr oder allein in der Weise, daß sie in einem konkreten Befund die totale Frage niederschlägt, die er vordem symbolisch zu repräsentieren schien. Die Auskonstruktion kleiner und intentionsloser Elemente rechnet demnach zu den gründenden Voraussetzungen philosophischer Deutung; die Wendung zum »Abhub der Erscheinungswelt«, die Freud proklamierte, hat Geltung übers Bereich der Psychoanalyse hinaus, ebenso wie die Wendung der fortgeschrittenen Sozialphilosophie zur Ökonomie nicht bloß aus der empirischen Übermacht der Ökonomie, sondern ebensowohl aus der immanenten Forderung philosophischer Deutung selber hervorgeht. Würde Philosophie heute nach dem absoluten Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung fragen oder, um eine aktuellere Formulierung aufzugreifen, nach dem Sinn von Sein schlechtweg – sie bliebe entweder in formaler Unverbindlichkeit stehen oder spaltete sich in eine Vielheit möglicher und beliebiger weltanschaulicher Standpunkte. Gesetzt jedoch – ich gebe gedanken-experimentell ein Beispiel, ohne dessen tatsächliche Durchführbarkeit zu behaupten –, gesetzt, es sei möglich, die Elemente einer gesellschaftlichen Analyse derart zu gruppieren, daß ihr Zusammenhang eine Figur ausmacht, in der jedes einzelne Moment aufgehoben ist; eine Figur, die freilich nicht organisch vorliegt, sondern die erst hergestellt werden muß: die Warenform. Dann wäre damit zwar keineswegs das Ding an sich-Problem gelöst; auch nicht in der Weise, daß etwa die gesellschaftlichen Bedingungen aufgewiesen wären, unter denen das Ding an sich-Problem zustande kommt, wie noch Lukács die Lösung dachte; denn der Wahrheitsgehalt eines Problems ist von den historischen und psychologischen Bedingungen, aus welchen es erwächst, prinzipiell verschieden. Aber es wäre möglich, daß vor einer zureichenden Konstruktion der Warenform das Ding an sich-Problem schlechterdings verschwände: daß die geschichtliche Figur der Ware und des Tauschwertes gleich einer Lichtquelle die Gestalt einer Wirklichkeit freilegte, um deren Hintersinn die Erforschung des Ding an sich-Problems vergebens sich mühte, weil sie keinen Hintersinn hat, der von ihrem einmaligen und erstmaligen geschichtlichen Erscheinen ablösbar wäre. Ich möchte hier keine materialen Behauptungen aufstellen, sondern allein die Richtung anzeigen, in welcher ich die Aufgaben philosophischer Deutung erblicke. Wären aber diese Aufgaben richtig formuliert, so wäre damit immerhin auch einiges für die philosophischen Prinzipienfragen ausgemacht, deren explizite Stellung ich vermeiden möchte. Nämlich dies: daß die Funktion, die die herkömmliche philosophische Frage von übergeschichtlichen, symbolisch bedeuteten Ideen erwartet, von innergeschichtlich konstituierten und unsymbolischen geleistet wird. Damit aber wäre auch das Verhältnis von Ontologie und Geschichte prinzipiell anders gestellt, ohne daß man darum des Kunstgriffes bedürfte, Geschichte als Totalität, in Gestalt bloßer »Geschichtlichkeit« zu ontologisieren, wobei jede spezifische Spannung zwischen Deutung und Gegenstand verloren und lediglich ein maskierter Historismus zurückgeblieben wäre. Stattdessen wäre nach meiner Auffassung Geschichte nicht mehr der Ort, aus dem die Ideen aufsteigen, selbständig sich abheben und wieder verschwinden, sondern die geschichtlichen Bilder wären selber gleichsam Ideen, deren Zusammenhang intentionslos Wahrheit ausmacht, anstatt daß Wahrheit als Intention in Geschichte vorkäme. Allein ich breche den Gedanken hier ab: weil nirgends allgemeine Aussagen fragwürdiger sind als für eine Philosophie, die abstrakte und allgemeine Aussagen aus sich ausschließen möchte und ihrer einzig in der Not des Überganges bedarf. Dafür möchte ich einen zweiten wesentlichen Zusammenhang von deutender Philosophie und Materialismus bezeichnen. Ich sagte: die Rätselantwort sei nicht der »Sinn« des Rätsels in der Weise, daß beide zugleich bestehen könnten; daß die Antwort im Rätsel enthalten sei; daß das Rätsel lediglich seine Erscheinung bilde und als Intention die Antwort in sich beschließe. Vielmehr steht die Antwort in strenger Antithesis zum Rätsel; bedarf der Konstruktion aus den Rätselelementen und zerstört das Rätsel, das nicht sinnvoll, sondern sinnlos ist, sobald die Antwort ihm schlagend erteilt ward. Die Bewegung, die hier im Spiel sich vollzieht, vollzieht der Materialismus im Ernst. Ernst heißt dort: daß der Bescheid nicht im geschlossenen Raum von Erkenntnis verbleibt, sondern daß ihn Praxis erteilt. Die Deutung der vorgefundenen Wirklichkeit und ihre Aufhebung sind auf einander bezogen. Nicht zwar wird im Begriff die Wirklichkeit aufgehoben; aber aus der Konstruktion der Figur des Wirklichen folgt allemal prompt die Forderung nach ihrer realen Veränderung. Die verändernde Geste des Rätselspiels – nicht die bloße Lösung als solche gibt das Urbild der Lösungen ab, über welche die materialistische Praxis einzig verfügt. Dies Verhältnis hat der Materialismus mit einem Namen benannt, der philosophisch beglaubigt ist: Dialektik. Einzig dialektisch scheint mir philosophische Deutung möglich. Wenn Marx den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern, so ist der Satz nicht bloß aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen Theorie legitimiert. In der Vernichtung der Frage bewährt sich erst die Echtheit philosophischer Deutung und reines Denken vermag sie von sich aus nicht zu vollziehen: darum zwingt sie die Praxis herbei. Es ist überflüssig, eine Auffassung vom Pragmatismus ausdrücklich zu sondern, in welcher Theorie und Praxis derart sich verschränken wie in der dialektischen.
So genau ich mir der Unmöglichkeit bewußt bin, das Programm auszuführen, das ich Ihnen gab – einer Unmöglichkeit, die nicht bloß von der Enge der Stunde herrührt, sondern generell besteht, weil gerade als Programm, in Vollständigkeit und Allgemeinheit dies Programm sich nicht ausführen läßt –: so deutlich sehe ich die Verpflichtung, Ihnen einige Hinweise zu geben. Zunächst: die Idee philosophischer Deutung weicht nicht vor jener Liquidation der Philosophie zurück, die mir durch den Zusammenbruch der letzten philosophischen Totalitätsansprüche signalisiert erscheint. Denn der strenge Ausschluß aller im herkömmlichen Sinne ontologischen Fragen, die Vermeidung invarianter Allgemeinbegriffe – auch etwa des des Menschen –, die Ausschaltung jeder Vorstellung einer selbstgenügsamen Totalität des Geistes, auch einer in sich geschlossenen »Geistesgeschichte«; die Konzentration der philosophischen Fragen auf konkrete innerhistorische Komplexe, von denen sie nicht abgelöst werden sollen: diese Postulate werden einer Auflösung dessen, was man bislang Philosophie nannte, überaus ähnlich. Da das philosophische Denken der Gegenwart, jedenfalls das offizielle, bislang diese Forderungen von sich fernhält oder allenfalls einzelne gemildert sich zu assimilieren trachtet, so scheint eine der ersten und aktuellsten Aufgaben die radikale Kritik des herrschenden philosophischen Denkens. Ich fürchte nicht den Vorwurf unfruchtbarer Negativität – einen Ausdruck, den Gottfried Keller einmal als »Pfefferkuchenausdruck« charakterisierte. Wenn tatsächlich philosophische Deutung allein dialektisch gedeihen kann, dann bietet ihr den ersten dialektischen Angriffspunkt eine Philosophie, die eben jene Probleme kultiviert, deren Beseitigung dringender notwendig scheint als die Hinzufügung einer neuen Antwort zu so viel alten. Nur eine prinzipiell undialektische, auf geschichtslose Wahrheit gerichtete Philosophie könnte wähnen, es ließen die alten Probleme sich beseitigen, indem man sie vergißt und frischweg von vorn beginnt. Ja, der Trug des Beginnes ist es gerade, der an Heideggers Philosophie zuerst der Kritik untersteht. Nur in strengster dialektischer Kommunikation mit den jüngsten Lösungsversuchen der Philosophie und der philosophischen Terminologie vermag eine wirkliche Veränderung des philosophischen Bewußtseins sich durchzusetzen. Diese Kommunikation wird ihr einzelwissenschaftliches Material vorwiegend der Soziologie zu entnehmen haben, die kleine, intentionslose und dennoch mit dem philosophischen Material verbundene Elemente auskristallisiert, wie die deutende Gruppierung sie nötig hat. Einer der wirksamsten akademischen Philosophen der Gegenwart soll auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Soziologie etwa geantwortet haben: während der Philosoph, einem Baumeister gleich, den Entwurf eines Hauses gebe und ausführe, sei der Soziologe der Fassadenkletterer, der von außen die Wände erklimme und heraushole, was ihm erreichbar sei. Ich wäre geneigt, den Vergleich anzuerkennen und zugunsten der Funktion von Soziologie für Philosophie auszulegen. Denn das Haus, dies große Haus ist längst baufällig geworden in den Fundamenten und droht nicht bloß alle die zu erschlagen, die darin sind, sondern es drohen auch alle die Dinge verloren zu gehen, die darin aufbewahrt werden und von denen manches unersetzlich ist. Wenn der Fassadenkletterer diese Dinge, einzelne, oft wohl halbvergessene Dinge stiehlt, tut er ein gutes Werk, wofern sie nur gerettet werden; er wird sie kaum lange behalten, denn ihm sind sie nur wenig wert. Freilich bedarf die Anerkennung der Soziologie durch die philosophische Deutung einiger Einschränkung. Es kommt der deutenden Philosophie darauf an, Schlüssel zu konstruieren, vor denen die Wirklichkeit aufspringt. Um das Maß der Schlüsselkategorien ist es nun sonderbar bestellt. Der alte Idealismus wählte sie zu groß; so drangen sie gar nicht ins Schlüsselloch. Der pure philosophische Soziologismus wählt sie zu klein; der Schlüssel dringt zwar ein, aber die Tür öffnet sich nicht. Ein großer Teil der Soziologen treibt den Nominalismus so weit, daß die Begriffe zu klein werden, um die andern auf sich auszurichten, mit ihnen in Konstellation zu treten. Ein unübersehbarer, konsequenzenloser Zusammenhang bloßer Diesda-Bestimmungen bleibt zurück, der jeder Organisation durch Erkenntnis spottet und keinerlei kritisches Maß mehr hergibt. So hat man etwa den Begriff der Klasse aufgehoben und durch zahllose Deskriptionen einzelner Gruppen ersetzt, ohne sie mehr zu übergreifenden Einheiten anordnen zu können, wiewohl sie doch in der Empirie als solche in Erscheinung treten; oder man hat einen der wichtigsten Begriffe, den der Ideologie, um alle Schärfe gebracht, indem man ihn formal als Zuordnung bestimmter Bewußtseinsinhalte an bestimmte Gruppen bestimmte, ohne die Frage nach Wahrheit oder Unwahrheit der Inhalte selbst mehr aufkommen zu lassen. Diese Art von Soziologie ordnet sich einer Art von allgemeinem Relativismus ein, dessen Allgemeinheit so wenig mehr von der philosophischen Deutung anerkannt werden kann wie jede andere und den zu korrigieren sie in der dialektischen Methode ein zureichendes Mittel besitzt. Bei der Handhabung des Begriffsmaterials durch Philosophie rede ich nicht ohne Absicht von Gruppierung und Versuchsanordnung, von Konstellation und Konstruktion. Denn die geschichtlichen Bilder, die nicht den Sinn des Daseins ausmachen, aber dessen Fragen lösen und auflösen –, diese Bilder sind keine bloßen Selbstgegebenheiten. Sie liegen nicht organisch in Geschichte bereit; es bedarf keiner Schau und keiner Intuition ihrer gewahr zu werden, sie sind keine magischen Geschichtsgottheiten, die hinzunehmen und zu verehren wären. Vielmehr: sie müssen vom Menschen hergestellt werden und legitimieren sich schließlich allein dadurch, daß in schlagender Evidenz die Wirklichkeit um sie zusammenschießt. Hier scheiden sie sich zentral von den archaischen, den mythischen Urbildern, wie die Psychoanalyse sie vorfindet, wie Klages sie als Kategorien unserer Erkenntnis zu bewahren hofft. Mögen sie ihnen in hundert Zügen gleichkommen; dort sondern sie sich, wo jene ihre schicksalhafte Bahn zu Häupten des Menschen beschreiben; sie sind handlich und faßlich, Instrumente der menschlichen Vernunft selbst dort noch, wo sie als magnetische Zentren objektives Sein objektiv auf sich auszurichten scheinen. Sie sind Modelle, mit denen die ratio prüfend, probierend einer Wirklichkeit sich nähert, die dem Gesetz sich versagt, das Schema des Modelles aber je und je nachahmen mag, wofern es recht geprägt ist. Man mag hier einen Versuch sehen, jene alte Konzeption der Philosophie wieder aufzunehmen, die Bacon formulierte und um die Leibniz zeitlebens leidenschaftlich sich mühte: eine Konzeption, die der Idealismus als Schrulle verlachte: die der ars inveniendi. Jede andere Auffassung der Modelle wäre gnostisch und nicht zu verantworten. Organon dieser ars inveniendi aber ist Phantasie. Eine exakte Phantasie; Phantasie, die streng in dem Material verbleibt, das die Wissenschaften ihr darbieten, und allein in den kleinsten Zügen ihrer Anordnung über sie hinausgreift: Zügen freilich, die sie ursprünglich und von sich aus geben muß. Wenn die Idee philosophischer Deutung zu Recht besteht, die ich Ihnen zu entwickeln unternahm, dann läßt sie sich aussprechen als Forderung, je und je den Fragen einer vorgefundenen Wirklichkeit Bescheid zu tun durch eine Phantasie, die die Elemente der Frage umgruppiert, ohne über den Umfang der Elemente hinauszugehen, und deren Exaktheit kontrollierbar wird am Verschwinden der Frage.
Ich weiß wohl, daß viele, vielleicht die meisten von Ihnen mit dem nicht einverstanden sind, was ich hier vorbringe. Nicht bloß das szientifische Denken, sondern mehr noch die Fundamentalontologie widerspricht meiner Überzeugung von den aktuellen Aufgaben der Philosophie. Nun pflegt ein Denken, das auf Sachbeziehungen und nicht auf isolierte Stimmigkeit bei sich selber ausgeht, sein Daseinsrecht nicht dadurch zu erweisen, daß es die Einwände widerlegt, die dagegen laut werden, und sich als unwiderleglich behauptet, sondern durch seine Fruchtbarkeit in jenem Sinne, in dem Goethe den Begriff handhabte. Immerhin darf ich vielleicht noch ein Wort zu den aktuellsten Einwänden sagen, wie ich sie nicht konstruierte, sondern wie Repräsentanten der Fundamentalontologie sie aussprachen und die mich erstmals zur Formulierung einer Theorie brachten, nach der ich bislang lediglich in der Praxis der philosophischen Interpretation verfuhr. Es ist zentral der Einwand: auch meiner Auffassung liege ein Begriff des Menschen, ein Entwurf des Daseins zugrunde; nur scheute ich mich, aus blinder Angst vor der Macht der Geschichte, diese Invarianten deutlich und konsequent hervorzutreiben und lasse sie im Trüben; stattdessen verliehe ich der geschichtlichen Faktizität oder deren Anordnung die Macht, die eigentlich den Invarianten, den ontologischen Grundstücken gebühre, treibe Götzendienst mit dem geschichtlich produzierten Sein, bringe die Philosophie um jeden konstanten Maßstab, verflüchtige sie in ein ästhetisches Bilderspiel und verwandle die prima philosophia in philosophischen Essayismus. Ich kann mich diesen Einwänden gegenüber wiederum nur so verhalten, daß ich das meiste, was sie inhaltlich besagen, anerkenne, aber als philosophisch legitim vertrete. Ich will nicht darüber entscheiden, ob meiner Theorie eine bestimmte Auffassung vom Menschen und vom Dasein zugrunde liegt. Aber ich bestreite die Notwendigkeit, auf diese Auffassung zu rekurrieren. Es ist eine idealistische Forderung, die vom absoluten Beginn, wie nur reines Denken bei sich selber ihn vollziehen kann; eine cartesianische, die Denken auf die Form seiner Denkvoraussetzungen, seiner Axiome glaubt bringen zu müssen. Philosophie aber, die die Annahme der Autonomie nicht mehr macht; die nicht mehr die Wirklichkeit in der ratio begründet glaubt, sondern stets und stets die Durchbrechung der autonom-rationalen Gesetzgebung durch ein Sein annimmt, das ihr nicht adäquat und nicht als Totalität rational zu entwerfen ist, wird den Weg zu den rationalen Voraussetzungen nicht zu Ende gehen, sondern dort stehen bleiben, wo irreduzible Wirklichkeit einbricht; begibt sie sich weiter in die Region der Voraussetzungen, so wird sie diese allein formal und um den Preis jener Wirklichkeit erlangen können, in welcher ihre eigentlichen Aufgaben gelegen sind. Der Einbruch des Irreduziblen aber vollzieht sich konkret geschichtlich und darum gebietet Geschichte der Denkbewegung zu den Voraussetzungen hin halt. Die Produktivität des Denkens vermag sich allein an der geschichtlichen Konkretion dialektisch zu bewähren. Beide kommen zur Kommunikation in den Modellen. Für das Bemühen um die Form solcher Kommunikation nehme ich den Vorwurf des Essayismus gerne in Kauf. Die englischen Empiristen ebenso wie Leibniz haben ihre philosophischen Schriften Essays genannt, weil die Gewalt der frisch erschlossenen Wirklichkeit, auf die ihr Denken aufprallte, ihnen allemal das Wagnis des Versuchs aufzwang. Erst das nachkantische Jahrhundert hat mit der Gewalt der Wirklichkeit das Wagnis des Versuchs verloren. Darum ist der Essay aus einer Form der großen Philosophie zu einer kleinen der Ästhetik geworden, in deren Schein sich immerhin eine Konkretion der Deutung flüchtete, über welche die eigentliche Philosophie in den großen Dimensionen ihrer Probleme längst nicht mehr verfügte. Wenn mit dem Zerfall aller Sicherheit in der großen Philosophie dort der Versuch seinen Einzug nimmt; wenn er dabei an die begrenzten, konturierten und unsymbolischen Deutungen des ästhetischen Essays anknüpft, so scheint mir das nicht verdammenswert, wofern die Gegenstände richtig gewählt: wofern sie wirklich sind. Denn wohl vermag der Geist es nicht, die Totalität des Wirklichen zu erzeugen oder zu begreifen; aber er vermag es, im kleinen einzudringen, im kleinen die Maße des bloß Seienden zu sprengen.
Die Idee der Naturgeschichte
Vielleicht darf ich vorausschicken, daß das, was ich sagen werde, nicht ein »Vortrag« ist in eigentlichem Sinne, nicht eine Mitteilung von Resultaten oder eine bündige systematische Ausführung, sondern daß es auf der Ebene des Versuches steht, daß es nichts ist als eine Bemühung, die Problematik der sogenannten Frankfurter Diskussion aufzunehmen und weiterzuführen. Ich bin mir bewußt, wieviel Schlechtes man dieser Diskussion nachsagt, aber auch, daß der Zentralpunkt dieser Diskussion doch richtig angesetzt ist, und daß es falsch wäre, immer wieder ganz von vorn zu beginnen.
Ich darf einiges zur Terminologie anmerken. Wenn von Naturgeschichte die Rede ist, handelt es sich dabei nicht um jene Auffassung von Naturgeschichte, wie sie im herkömmlichen vorwissenschaftlichen Sinn gemeint ist, nicht etwa um die Geschichte der Natur, so wie die Natur Gegenstand der Naturwissenschaften ist. Der Naturbegriff, der hier verwendet wird, hat mit dem Naturbegriff der mathematischen Naturwissenschaften überhaupt nichts zu tun. Ich kann nicht vorweg entfalten, was Natur und was Geschichte im folgenden heißen soll. Ich verrate aber nicht zuviel, wenn ich sage, daß die eigentliche Absicht dessen, was ich sagen will, dahin geht, die übliche Antithesis von Natur und Geschichte aufzuheben; daß also überall da, wo ich mit den Begriffen Natur und Geschichte operiere, nun nicht letztgültige Wesensbestimmungen gemeint sind, sondern daß ich die Intention verfolge, diese beiden Begriffe zu einem Punkt zu treiben, an dem sie in ihrem puren Auseinanderfallen aufgehoben sind. Zur Erläuterung des Naturbegriffes, den ich auflösen möchte, ist soviel zu sagen, daß es sich dabei um einen Begriff handelt, der, wenn ich ihn in die übliche philosophische Begriffssprache übersetzen wollte, am ehesten mit dem Begriff des Mythischen übersetzt werden könnte. Auch dieser Begriff ist ganz vage und seine genaue Bestimmung kann sich nicht in vorgängigen Definitionen, sondern erst in der Analyse ergeben. Es ist damit gemeint das, was von je da ist, was als schicksalhaft gefügtes, vorgegebenes Sein die menschliche Geschichte trägt, in ihr erscheint, was substantiell ist in ihr. Das, was mit diesen Ausdrücken abgegrenzt wird, ist das, was ich hier mit Natur meine. Die Frage, die sich stellt, ist die nach dem Verhältnis dieser Natur zu dem, was wir unter Geschichte verstehen, wobei Geschichte besagt jene Verhaltensweise der Menschen, jene tradierte Verhaltensweise, die charakterisiert wird vor allem dadurch, daß in ihr qualitativ Neues erscheint, daß sie eine Bewegung ist, die sich nicht abspielt in purer Identität, purer Reproduktion von solchem, was schon immer da war, sondern in der Neues vorkommt und die ihren wahren Charakter durch das in ihr als Neues Erscheinende gewinnt.
Ich möchte das, was ich die Idee der Naturgeschichte nenne, entwickeln auf Grund einer Analyse oder richtiger Überschau über die ontologische Fragestellung innerhalb der heutigen Diskussion. Das meint einen Ausgang vom »Naturhaften«. Denn die Frage nach der Ontologie, wie sie heute gestellt wird, ist nichts anderes als das, was ich unter Natur gemeint habe. – Ich werde dann an einem andern Punkt ansetzen und aus der geschichtsphilosophischen Problematik heraus den Begriff der Naturgeschichte zu entwickeln versuchen, wobei dieser Begriff bereits erheblich sich verinhaltlichen und konkretisieren wird. Nachdem diese beiden Fragestellungen in der Andeutung durchgeführt worden sind, werde ich versuchen, den Begriff der Naturgeschichte selber zu artikulieren und Ihnen die Momente auseinanderzulegen, durch die sie charakterisiert erscheint.
I. Zunächst die Frage nach der gegenwärtigen ontologischen Situation. Wenn Sie die ontologische Fragestellung verfolgen, wie sie zumal im Raum der sogenannten Phänomenologie sich entfaltet hat, und zwar vor allem im Raum der nach-Husserlschen Phänomenologie, also von Scheler an, so kann man sagen, es sei die eigentliche Ausgangsintention dieser ontologischen Fragestellung die Überwindung des subjektivistischen Standpunktes der Philosophie, die Ersetzung einer Philosophie, die alle Seinsbestimmungen trachtet in Denkbestimmungen aufzulösen, und die alle Objektivität in bestimmten Grundstrukturen der Subjektivität glaubt gründen zu können, durch eine Fragestellung derart, daß ein anderes, prinzipiell anderes Sein, eine prinzipiell andere Seinsregion gewonnen wird, eine transsubjektive, eine ontische Seinsregion. Und von Ontologie ist insofern die Rede, als von diesem on der logos gewonnen werden soll. Es ist nun die Grundparadoxie aller ontologischen Fragestellung in der gegenwärtigen Philosophie, daß das Mittel, mit dem versucht wird, transsubjektives Sein zu gewinnen, nichts anderes ist als die gleiche subjektive ratio, die zuvor das Gefüge des kritischen Idealismus zustande gebracht hat. Die phänomenologisch-ontologischen Bemühungen stellen sich dar als ein Versuch einer Gewinnung transsubjektiven Seins mit den Mitteln der autonomen ratio und mit der Sprache der ratio, denn andere Mittel und eine andere Sprache stehen nicht zu Gebote. Nun artikuliert sich diese ontologische Frage nach dem Sein doppelt: Einmal als die Frage nach dem Sein selber, als das, was seit Kants Kritik als das Ding an sich hinter die philosophische Fragestellung zurückgeschoben worden ist und wieder herausgeholt wird. Sie artikuliert sich aber zugleich als Frage nach dem Sinn von Sein, nach der Sinnhaftigkeit des Seienden oder als Sinn von Sein als Möglichkeit schlechterdings. Gerade diese Doppeltheit spricht tief für jene These, die ich vertrete, daß die ontologische Fragestellung, mit der wir es heute zu tun haben, die Ausgangsposition der autonomen ratio innehält; nur dort nämlich, wo die ratio die Wirklichkeit, die ihr gegenüber liegt, als ein ihr Fremdes, ihr Verlorenes, Dinghaftes anerkennt, nur dort, wo sie nicht mehr unmittelbar zugänglich ist und wo der Wirklichkeit und ratio der Sinn nicht gemeinsam ist, nur dort kann die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt gestellt werden. Die Sinnfrage ergibt sich durch die Ausgangsposition der ratio, zugleich aber produziert diese Frage nach dem Sinn von Sein, die in den frühen Phasen der Phänomenologie (Scheler) im Mittelpunkt steht, durch ihren subjektivistischen Ursprung eine sehr weite Problematik; da diese Sinngebung nichts ist als ein Einlegen von Bedeutungen, wie sie von der Subjektivität her gesetzt sind. Die Einsicht darein, daß die Sinnfrage nichts anderes ist als ein Einlegen von subjektiven Bedeutungen in das Seiende, führt zur Krisis jenes ersten Stadiums. Der drastische Ausdruck dafür ist die Tatsache der Unbeständigkeit der ontologischen Grundbestimmungen, die die ratio in ihrem Versuch der Gewinnung einer Seinsordnung als Erfahrung machen muß. Indem sich gezeigt hat, daß die als gründend und sinnhaft anerkannten Faktoren, wie etwa bei Scheler, aus einer andern Sachsphäre bereits stammen, gar nicht selbst Möglichkeiten in dem Sein sind, sondern von Seiendem hergenommen sind und damit der Fragwürdigkeit des Seienden inhärieren, wird die ganze Frage nach Sein problematisch innerhalb der Phänomenologie. Soweit die Frage nach dem Sinn noch vorkommen kann, bedeutet sie nicht die Gewinnung einer dem Empirischen gegenüber sichergestellten Sphäre von Bedeutungen, die gültig und immer zugänglich wäre, sondern heißt nichts anderes mehr als die Frage ti hn on, die Frage nach dem, was das Sein selbst eigentlich ist. Die Ausdrücke Sinn (oder Bedeutung) sind hier äquivok belastet. Sinn kann heißen ein transzendenter Inhalt, der von dem Sein bedeutet wird, hinter dem Sein liegt und durch Analyse herausgehoben wird. Andererseits kann aber Sinn auch seinerseits die Auslegung von Seiendem selbst nach dem hin, was es als Sein charakterisiert, sein, ohne daß dies ausgelegte Sein damit als ein Sinnvolles bereits erwiesen wäre. Es ist also möglich, daß nach dem Sinn von Sein als der Bedeutung der Kategorie Sein, nach dem, was Sein eigentlich ist, gefragt wird, daß aber im Sinn jener ersten Frage das Seiende sich nicht als ein sinnvolles, sondern als Sinnloses herausstellt, wie weithin im Sinn der heutigen Entwicklung gelegen ist.
Wenn diese Umwendung der Frage nach dem Sein geschehen ist, verschwindet die eine Ausgangsintention der ursprünglichen ontologischen Umwendung, nämlich die einer Wendung in Geschichtslosigkeit. Bei Scheler war es so, wenigstens beim frühen Scheler (und das ist der maßgebend wirksame gewesen), daß er versucht hat, einen Ideenhimmel zu konstruieren auf Grund einer rein rationalen Schau der geschichtslosen und ewigen Gehalte, der über allem Empirischen leuchtet, der normativen Charakter hat und zu dem das Empirische durchlässig ist. Aber zugleich ist im Ursprung der Phänomenologie eine prinzipielle Spannung gesetzt zwischen diesem Sinnhaften, Wesenhaften, das hinter dem geschichtlich Erscheinenden liegt, und der Sphäre der Geschichte selbst. Es ist in den Ursprüngen der Phänomenologie eine Zweiheit von Natur und Geschichte gesetzt. Diese Zweiheit (hier unter Natur jenes Geschichtslose, platonisch Ontologische gemeint), und die in ihr gelegene Ausgangsintention der ontologischen Umwendung, hat sich korrigiert. Die Frage nach dem Sein hat nicht mehr die Bedeutung einer platonischen Frage nach dem Umfang statischer und qualitativ differenter Ideen, die dem Seienden gegenüber, als der Empirie, in einem normativen oder Spannungsverhältnis standen. Sondern die Spannung verschwindet: das Seiende wird sich selbst zum Sinn, und anstelle einer geschichtsjenseitigen Begründung des Seins tritt der Entwurf des Seins als Geschichtlichkeit.
Damit ist die Problemlage verschoben. Zunächst verschwindet scheinbar die Problematik zwischen Ontologie und Historismus. Vom Standpunkt der Geschichte, der historistischen Kritik aus erscheint die Ontologie als bloß formaler Rahmen, der über den Inhalt der Geschichte gar nichts besagt, der in beliebiger Weise um das Konkrete gespannt werden kann, oder aber es erschien die ontologische Intention, wenn sie wie bei Scheler materiale Ontologie war, als willkürliche Verabsolutierung innergeschichtlicher Tatsachen, die vielleicht sogar zu ideologischen Zwecken den Rang ewiger und allgemeingültiger Werte erhalten sollten. Umgekehrt hat es sich für die ontologische Position so dargestellt, und diese Antithetik ist die, die unsere Frankfurter Diskussion beherrschte, daß alles radikal geschichtliche Denken, also alles Denken, das entstehende Gehalte ausschließlich zurückzuführen sucht auf historische Bedingungen, einen Entwurf des Seins selber voraussetze, durch den Geschichte als Seinsstruktur vorgegeben sei; nur so, im Rahmen eines solchen Entwurfs sei die geschichtliche Zuordnung einzelner Phänomene und Gehalte überhaupt möglich.
Nun hat die jüngste Umwendung der Phänomenologie – – wenn man das noch Phänomenologie nennen darf – hier eine Korrektur durchgeführt, nämlich dadurch, daß sie die pure Antithesis von Geschichte und Sein beseitigte. Dadurch, daß sie also von der einen Seite verzichtete auf den platonischen Ideenhimmel, daß sie, indem sie das Sein betrachtet, es betrachtet als ein Lebendiges – dadurch ist mit der falschen Statik auch der Formalismus beseitigt, denn die Fülle der Seinsbestimmungen scheint der Entwurf aufzunehmen, und auch der Verdacht gegen die Verabsolutierung eines Zufälligen schwindet. Denn jetzt ist ja die Geschichte selber in ihrer äußersten Bewegtheit zur ontologischen Grundstruktur geworden. Auf der andern Seite scheint das geschichtliche Denken selbst eine prinzipielle Umwendung erfahren zu haben, da es reduziert ist auf eine philosophisch es tragende Struktur von Geschichtlichkeit als einer Grundbestimmung von Dasein, menschlichem Dasein wenigstens, die überhaupt erst möglich macht, daß es so etwas wie Geschichte gibt, ohne daß das, was Geschichte »ist«, ihr als ein Fertiges, Starres, Fremdes sich gegenüberstellte. Dies ist der Stand der Diskussion, von dem ich ausgehe. Hier setzen die kritischen Motive ein.
Es scheint mir so, als ob auch der hier erreichte Ansatz, der ontologische und historische Frage vereint unter der Kategorie Geschichtlichkeit, ebenfalls zur Bewältigung der konkreten Problematik nicht ausreicht, oder nur dadurch, daß er seine eigene Konsequenz modifiziert, und daß er als Inhalte Motive in sich aufnimmt, die aus dem entworfenen Prinzip nicht notwendigerweise entspringen. Dies will ich nur an zwei Punkten zeigen.
Zunächst bleibt auch dieser Entwurf in allgemeinen Bestimmungen. Das Problem der historischen Kontingenz ist von der Kategorie der Geschichtlichkeit her nicht zu meistern. Es läßt sich eine allgemeine Strukturbestimmung der Lebendigkeit aufstellen, aber wenn man ein einzelnes Phänomen, etwa die französische Revolution, interpretiert, kann man zwar alle möglichen Momente dieser Lebendigkeit dort auffinden, wie z.B. daß das Gewesene wiederkehrt, aufgenommen wird, man kann die Bedeutung der aus dem Menschen sich erhebenden Spontaneität verifizieren, kausale Zusammenhänge usw. finden, aber es wird nicht gelingen, nun die Faktizität der französischen Revolution in ihrem äußersten Faktisch-Sein auf diese Bestimmungen zu bringen, sondern es wird im weitesten Umfang einen Bereich von »Faktizität« geben, der herausfällt. Es ist dies selbstverständlich keine Entdeckung von mir, sondern wurde im Rahmen der ontologischen Diskussion längst dargetan. Aber es ist nicht mit der Brutalität ausgesprochen worden wie hier, oder vielmehr, es ist auf eine ausweghafte Weise in der Problematik verarbeitet worden: dadurch, daß alle die Faktizität, die nicht eingeht in den ontologischen Entwurf selbst, unter eine Kategorie gebracht wird, die der Kontingenz, der Zufälligkeit, und daß diese als Bestimmung des Geschichtlichen in den Entwurf aufgenommen wird. Dies aber, so konsequent es ist, enthält das Zugeständnis in sich, daß die Meisterung des empirischen Materials nicht gelungen ist. Zugleich bietet diese Wendung das Schema für eine Wendung innerhalb der ontologischen Frage. Dies ist die Wendung zur Tautologie.
Ich meine nichts anderes, als daß der Versuch des neu-ontologischen Denkens, sich mit der Unerreichbarkeit des Empirischen abzufinden, stets und stets nach dem Schema verfährt, daß gerade da, wo irgendwelche Momente nicht eingehen in Denkbestimmungen, nicht durchsichtig zu machen sind, sondern in ihrer puren Daheit stehenbleiben, daß gerade dies Stehenbleiben der Phänomene selbst in einen Allgemeinbegriff verwandelt wird und dem Stehenbleiben als solchem ontologische Würde aufgeprägt wird. So ist es mit dem Begriff des Seins zum Tode bei Heidegger und auch mit dem Begriff der Geschichtlichkeit selber. Das Problem der Versöhnung von Natur und Geschichte ist in der neu-ontologischen Fragestellung nur scheinbar in der Struktur der Geschichtlichkeit gelöst, weil hier zwar anerkannt wird, daß es ein Grundphänomen Geschichte gibt, weil aber nun die ontologische Bestimmung dieses Grundphänomens Geschichte oder die ontologische Auslegung dieses Grundphänomens Geschichte dadurch vereitelt wird, daß es selbst zur Ontologie verklärt wird. Für Heidegger ist es so, daß Geschichte, als eine umfassende Struktur des Seins verstanden, gleichbedeutend ist mit dessen eigener Ontologie. Daher solche matten Antithesen wie Geschichte und Geschichtlichkeit, in denen nichts steckt, als daß irgendwelche am Dasein beobachteten Seinsqualitäten dadurch, daß sie vom Seienden weggenommen, transponiert werden in das Bereich der Ontologie und zur ontologischen Bestimmung werden, zur Auslegung dessen beitragen sollen, was im Grunde nur noch einmal gesagt wird. Dies Moment der Tautologie hängt nicht mit Zufälligkeiten der Sprachform zusammen, sondern adhäriert mit Notwendigkeit der ontologischen Fragestellung selbst, die am ontologischen Bemühen festhält, aber durch ihre rationale Ausgangsposition nicht vermag, sich selbst ontologisch als das auszulegen, was sie ist: nämlich als produziert von, sinnbezogen auf die Ausgangsposition der idealistischen ratio. Das wäre zu explizieren. Wenn es einen Weg gibt, der weiter führen kann, dann kann er tatsächlich nur vorgezeichnet sein in einer »Revision der Frage«. Allerdings ist diese Revision nicht nur anzuwenden auf die historistische, sondern auch auf die neu-ontologische Fragestellung selber. Wenigstens mag im Hinweis hier angedeutet sein, warum es mir scheint, daß diese Problematik daher rührt, daß die idealistische Ausgangsposition auch im neu-ontologischen Denken nicht verlassen worden ist. Nämlich: weil hier zwei Bestimmungen vorliegen, die spezifisch dem idealistischen Denken zukommen.
Die eine ist die Bestimmung der umfassenden Ganzheit gegenüber den darunter befaßten Einzelheiten; nicht mehr gefaßt als Ganzheit des Systems, sondern jetzt unter der Kategorie der Strukturganzheit, der Struktureinheit oder Totalität. Aber indem man die gesamte Wirklichkeit glaubt, wenn auch in einer Struktur, eindeutig zusammenschließen zu können, steckt in der Möglichkeit eines solchen Zusammenschließens aller gegebenen Wirklichkeit unter einer Struktur der Anspruch, daß der, der alles Seiende unter diese Struktur zusammenfaßt, das Recht und die Kraft hat, das Seiende an sich adäquat zu erkennen und in die Form aufzunehmen. Im Augenblick, wo dieser Anspruch nicht erhoben wird, in diesem Augenblick ist die Rede von einer Strukturganzheit nicht mehr möglich. Ich weiß, daß die Inhalte der neuen Ontologie sehr anders geartet sind als das, was ich eben behauptete. Gerade nicht rationalistisch sei ja die jüngste Wendung der Phänomenologie, würde man sagen, sondern der Versuch, unter »Lebendigkeit« das irrationale Moment ganz anders hereinzuziehen als bisher. Aber es scheint doch ein großer Unterschied, ob irrationale Inhalte in eine prinzipiell im Prinzip der Autonomie fundierte Philosophie eingebaut werden, oder ob die Philosophie nicht mehr davon ausgeht, daß die Wirklichkeit adäquat zugänglich ist. Ich erinnere nur daran, daß eine Philosophie wie die Schopenhauers zu ihrem Irrationalismus kommt durch nichts anderes als durch die strikte Festhaltung der Grundmotive des rationalen Idealismus, des Fichteschen transzendentalen Subjektes. Dies scheint mir für die Möglichkeit von Idealismus bei irrationalistischen Inhalten zu zeugen. Das andere Moment ist das Moment der Betonung der Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit. Es ist so, daß im Rahmen der neu-ontologischen Fragestellung ja selbst dies Problem des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit als die größte Schwierigkeit empfunden wird. Ich will hier vorsichtig sein und will nicht die neue Ontologie auf Positionen festlegen, die in ihr selber kontrovers sind. Jedenfalls ist das eine doch durchgehend, daß der »Entwurf« des Seins allemal eine Priorität behauptet gegenüber der darunter behandelten Faktizität, daß der Sprung gegenüber der Faktizität mit einem solchen Prius angenommen wird; die Faktizität soll sich nachträglich einfügen, und wenn nicht, verfällt sie der Kritik. In der Vorherrschaft des Reiches der Möglichkeiten sehe ich idealistische Momente, denn der Gegensatz von Möglichkeit und Wirklichkeit ist im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft kein anderer als der des kategorialen subjektiven Gefüges gegenüber der empirischen Mannigfaltigkeit. Durch diese Zuordnung der neuen Ontologie zur idealistischen Position ist nicht nur erklärbar der Formalismus, die notwendige Allgemeinheit der neu-ontologischen Bestimmungen, denen die Faktizität sich nicht einfügt, sondern sie ist auch der Schlüssel für das Problem der Tautologie. Heidegger sagt, es sei kein Fehler, einen Zirkel zu begehen, es käme nur darauf an, auf die rechte Weise in den Zirkel hineinzukommen. Ich bin hier geneigt, Heidegger recht zu geben. Aber wenn die Philosophie ihrer eigenen Aufgabe getreu bleibt, kann dieses richtige Hineinkommen nichts anderes besagen, als daß das Sein, das sich selbst als Sein bestimmt oder sich selbst auslegt, im Akt der Auslegung die Momente klarmacht, durch die es sich als solches auslegt. Die tautologische Tendenz scheint sich mir durch nichts anderes zu erklären als durch das alte idealistische Motiv der Identität. Sie entsteht dadurch, daß ein Sein, das geschichtlich ist, gebracht wird unter eine subjektive Kategorie Geschichtlichkeit. Das unter der subjektiven Kategorie Geschichtlichkeit befaßte geschichtliche Sein soll mit Geschichte identisch sein. Es soll sich den Bestimmungen fügen, die von Geschichtlichkeit ihm aufgeprägt werden. Die Tautologie scheint mir weniger ein sich selbst Ergründen der mythischen Tiefe der Sprache zu sein als eine neue Verdeckung der alten klassischen These der Identität von Subjekt und Objekt. Und wenn neuerdings bei Heidegger eine Wendung zu Hegel vorliegt, scheint das diese Deutung zu bestätigen.
Nach dieser Revision der Frage ist der Ansatz selbst zu revidieren. Festzuhalten bleibt, daß das Auseinanderfallen der Welt in Natur- und Geistsein oder Natur- und Geschichtesein, wie es gebräuchlich ist vom subjektivistischen Idealismus her, aufgehoben werden muß und daß an seine Stelle eine Fragestellung zu treten hat, die die konkrete Einheit von Natur und Geschichte in sich bewirkt. Aber die konkrete Einheit, eine, die nicht orientiert ist an dem Gegensatz von möglichem Sein und wirklichem Sein, sondern eine, die geschöpft wird aus den Bestimmungen des wirklichen Seins selber. Der Entwurf der Geschichte in der neuen Ontologie hat nur dann die Chance, ontologische Würde zu gewinnen, die Aussicht, zur wirklichen Auslegung des Seins zu kommen, wenn er sich radikal richtet nicht auf Möglichkeiten des Seins, sondern auf das Seiende als solches in seiner konkreten innergeschichtlichen Bestimmtheit. Jede Aussonderung naturhafter Statik aus der historischen Dynamik führt zu falschen Verabsolutierungen, jede Absonderung der historischen Dynamik von dem in ihr unaufhebbar gesetzten Naturalen führt zu schlechtem Spiritualismus. Es ist das Verdienst der ontologischen Fragestellung, das unaufhebbare Ineinander der Elemente von Natur und Geschichte radikal herausgearbeitet zu haben. Dagegen ist es notwendig, diesen Entwurf zu reinigen von der Vorstellung einer umfassenden Ganzheit, und weiter notwendig, die Sonderung von Wirklichkeit und Möglichkeit von der Wirklichkeit her zu kritisieren, während bisher beide auseinander fallen. Dies sind zunächst allgemeine methodologische Forderungen. Aber weit mehr ist zu postulieren. Wenn die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte ernsthaft gestellt werden soll, bietet sie nur dann Aussicht auf Beantwortung, wenn es gelingt, das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen, oder wenn es gelänge, die Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein. Es kommt nicht mehr darauf allein an, die Tatsache der Geschichte allgemein unter der Kategorie Geschichtlichkeit als eine Naturtatsache toto coelo zu konzipieren, sondern die Gefügtheit der innergeschichtlichen Ereignisse in ein Gefügtsein von Naturereignissen zurückzuverwandeln. Nicht ist ein dem geschichtlichen Sein unterliegendes oder ein in ihm liegendes reines Sein aufzusuchen, sondern das geschichtliche Sein selber ist als ontologisches, d.h. als Natur-Sein zu verstehen. Die Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur ist die Aufgabe der ontologischen Umorientierung der Geschichtsphilosophie: die Idee der Naturgeschichte.
II. Ich gehe nun aus von der geschichtsphilosophischen Problematik, wie sie zur Ausbildung des Begriffes von Naturgeschichte tatsächlich bereits geführt hat. Die Konzeption der Naturgeschichte ist nicht vom Himmel gefallen, sondern sie hat ihren verbindlichen Ausweis im Rahmen der geschichtsphilosophischen Arbeit an bestimmtem Material, vor allem bislang an ästhetischem. Das einfachste, um eine Vorstellung zu geben dieser Art von geschichtlicher Konzeption der Natur, ist, wenn ich die Quellen angebe, in denen dieser Begriff von Naturgeschichte entspringt. Ich berufe mich auf die Arbeiten von Georg Lukács und Walter Benjamin. Lukács hat in der »Theorie des Romans« einen Begriff verwandt, der hierhin leitet, den der zweiten Natur. Der Rahmen des Begriffs der zweiten Natur ist der: Lukács hat eine allgemeine geschichtsphilosophische Vorstellung von sinnerfüllter und sinnentleerter Welt (unmittelbarer Welt und entfremdeter Welt, Welt der Ware) und sucht diese entfremdete Welt darzustellen. Diese Welt, als Welt der vom Menschen geschaffenen und ihm verlorenen Dinge, nennt er die Welt der Konvention. »Wo keine Ziele unmittelbar gegeben sind, verlieren die Gebilde, die die Seele bei ihrer Menschwerdung als Schauplatz und Substrat ihrer Tätigkeit unter den Menschen vorfindet, ihr evidentes Wurzeln in überpersönlichen, seinsollenden Notwendigkeiten; sie sind etwas einfach Seiendes, vielleicht Machtvolles, vielleicht Morsches, tragen aber weder die Weihe des Absoluten an sich, noch sind sie die naturhaften Behälter für die überströmende Innerlichkeit der Seele. Sie bilden die Welt der Konvention: eine Welt, deren Allgewalt nur das Innerste der Seele entzogen ist; die in unübersichtlicher Mannigfaltigkeit überall gegenwärtig ist; deren strenge Gesetzlichkeit, sowohl im Werden wie im Sein, für das erkennende Subjekt notwendig evident wird, die aber bei all dieser Gesetzmäßigkeit sich weder als Sinn für das zielsuchende Subjekt noch in sinnlicher Unmittelbarkeit als Stoff für das handelnde darbietet. Sie ist eine zweite Natur; wie die erste« – »erste Natur« ist für Lukács, ebenfalls als entfremdete, die Natur im Sinn der Naturwissenschaft – »nur als der Inbegriff von erkannten, sinnesfremden Notwendigkeiten bestimmbar und deshalb in ihrer wirklichen Substanz unerfaßbar und unerkennbar.«1 Diese Tatsache der Welt der Konvention, wie sie geschichtlich produziert ist, der uns fremd gewordenen Dinge, die nicht entziffert werden können, aber als Chiffern begegnen, das ist der Ausgang der Problematik, die ich hier vortrage. Von der Geschichtsphilosophie aus gesehen stellt sich das Problem der Naturgeschichte zunächst als die Frage, wie es möglich ist, diese entfremdete, dinghafte, gestorbene Welt zu erkennen, zu deuten. Dies Problem hat in seiner Fremdheit und in seinem Rätselcharakter Lukács bereits gesehen. Wenn es mir gelingen soll, Ihnen eine Vorstellung von der Idee der Naturgeschichte zu geben, müßten Sie zunächst etwas von dem taymazein erfahren, das diese Frage bedeutet. Naturgeschichte ist nicht eine Synthese natürlicher und geschichtlicher Methoden, sondern eine Perspektivenänderung. Die Stelle, an der Lukács dieser Problematik am nächsten kommt, lautet: »Die zweite Natur der Menschengebilde hat keine lyrische Substantialität: ihre Formen sind zu starr, um sich dem symbolschaffenden Augenblick anzuschmiegen; der inhaltliche Niederschlag ihrer Gesetze ist zu bestimmt, um die Elemente, die in der Lyrik zu essayistischen Veranlassungen werden müssen, je verlassen zu können; diese Elemente aber leben so ausschließlich von der Gnade der Gesetzlichkeiten, haben so gar keine von ihnen unabhängige sinnliche Valenz des Daseins, daß sie ohne sie in Nichts zerfallen müssen. Diese Natur ist nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd, wie die erste: sie ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten und wäre deshalb – wenn dies möglich wäre – nur durch den metaphysischen Akt einer Wiedererweckung des Seelischen, das sie in ihrem früheren oder sollenden Dasein erschuf oder erhielt, erweckbar, nie aber von einer anderen Innerlichkeit erlebbar.«2 Das Problem dieser Erweckung, das hier als metaphysische Möglichkeit zugestanden wird, ist das Problem, das ausmacht, was hier unter Naturgeschichte verstanden wird. Gesichtet ist von Lukács die Verwandlung des Historischen als des Gewesenen in die Natur, die erstarrte Geschichte ist Natur, oder das erstarrt Lebendige der Natur ist bloße geschichtliche Gewordenheit. In der Rede von der Schädelstätte liegt das Moment der Chiffre; daß all dies etwas bedeutet, was aber erst herausgeholt werden muß. Diese Schädelstätte kann Lukács nicht anders denken als unter der Kategorie der theologischen Wiedererweckung, unter dem eschatologischen Horizont. Es ist die entscheidende Wendung gegenüber dem Problem der Naturgeschichte, die Benjamin vollzogen hat, daß er die Wiedererweckung der zweiten Natur aus der unendlichen Ferne in die unendliche Nähe geholt und zum Gegenstand der philosophischen Interpretation gemacht hat. Und indem Philosophie dies Motiv der Erweckung des Chiffernhaften, Erstarrten aufgreift, ist sie dazu gekommen, den Begriff der Naturgeschichte schärfer auszubilden. Es sind zunächst zwei Stellen aus Benjamin, die sich komplementär zu Lukács' Stelle verhalten. »Natur schwebt ihnen (den allegorischen Dichtern) vor als ewige Vergängnis, in der allein der saturnische Blick jener Generationen die Geschichte erkannte.«3 »Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, so tut sie es als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht ›Geschichte‹ in der Zeichenschrift der Vergängnis.«4 Es kommt gegenüber der Lukács'schen Geschichtsphilosophie etwas prinzipiell anderes hinzu, beide Male kam das Wort Vergängnis und Vergänglichkeit vor. Der tiefste Punkt, in dem Geschichte und Natur konvergieren, ist eben in jenem Moment der Vergänglichkeit gelegen. Wenn Lukács das Historische als Gewesenes in Natur sich zurückverwandeln läßt, so gibt sich hier die andere Seite des Phänomens: Natur selber stellt als vergängliche Natur, als Geschichte sich dar. –
Die naturgeschichtlichen Fragestellungen sind nicht als generelle Strukturen möglich, sondern nur als Deutung der konkreten Geschichte. Benjamin geht davon aus, daß die Allegorie kein Verhältnis von bloßen sekundären Zufälligkeiten ist; das Allegorische ist nicht ein zufälliges Zeichen für einen darunter befaßten Inhalt; sondern zwischen Allegorie und allegorisch Gemeintem besteht eine Sachbeziehung, ›Allegorie sei Ausdruck‹5. Allegorie heißt gewöhnlich sinnliche Darstellung eines Begriffes, und darum nennt man sie abstrakt und zufällig. Die Beziehung des allegorisch Erscheinenden und des Bedeuteten aber ist keine zufällige zeichenhafte, sondern ein Besonderes spielt sich ab, sie ist Ausdruck, und was sich in ihrem Raum abspielt, was sich ausdrückt, ist nichts anderes als ein geschichtliches Verhältnis. Das Thema des Allegorischen ist schlechterdings Geschichte. Daß es sich um ein geschichtliches Verhältnis handelt, zwischen dem Erscheinenden, der erscheinenden Natur und dem Bedeuteten, nämlich der Vergänglichkeit, wird so expliziert: »Unter der entscheidenden Kategorie der Zeit, welche in dieses Gebiet der Semiotik getragen zu haben die große romantische Einsicht dieser Denker war, läßt das Verhältnis von Symbol und Allegorie eindringlich und formelhaft sich festlegen. Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopfe aus. Und so wahr alle ›symbolische‹ Freiheit des Ausdrucks, alle klassische Harmonie der Gestalt, alles Menschliche einem solchen fehlt – es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus. Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls. Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit, weil am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt.«6 Was soll hier die Rede von Vergänglichkeit besagen und was heißt Urgeschichte des Bedeutens? Ich kann diese Begriffe nicht in der herkömmlichen Weise auseinander entwickeln. Das, worum es sich hier handelt, ist von einer prinzipiell anderen logischen Form als Entwicklung aus einem »Entwurf«, dem Momente von allgemeinbegrifflicher Struktur konstitutiv zugrunde liegen. Diese andere logische Struktur selber ist hier nicht zu analysieren. Es ist die der Konstellation. Es handelt sich nicht um ein Erklären von Begriffen aus einander, sondern um Konstellation von Ideen, und zwar der Idee von Vergänglichkeit, des Bedeutens und der Idee der Natur und der Idee der Geschichte. Auf diese wird nicht als »Invarianten« rekurriert; sie aufzusuchen ist nicht die Frageintention, sondern sie versammeln sich um die konkrete historische Faktizität, die im Zusammenhang jener Momente in ihrer Einmaligkeit sich erschließt. Wie hängen diese Momente hier miteinander zusammen? Die Natur als Schöpfung ist von Benjamin selbst gedacht als gezeichnet mit dem Mal der Vergänglichkeit. Natur selbst ist vergänglich. So hat sie aber das Moment der Geschichte in sich. Wann immer Geschichtliches auftritt, weist das Geschichtliche zurück auf das Natürliche, das in ihm vergeht. Umgekehrt, wann immer »zweite Natur« erscheint, jene Welt der Konvention an uns herankommt, dechiffriert sie sich dadurch, daß als ihre Bedeutung klar wird eben ihre Vergänglichkeit. Bei Benjamin ist das zunächst so gefaßt – und hier ist weiter zu gehen –, daß es irgendwelche urgeschichtlichen Grundphänomene gibt, die ursprünglich da waren, die vergangen sind und im Allegorischen bedeutet werden, die im Allegorischen wiederkehren, als das Buchstabenhafte wiederkehren. Es kann sich nicht bloß darum handeln zu zeigen, daß in der Geschichte selbst urgeschichtliche Motive immer wieder vorkommen, sondern daß Urgeschichte selbst als Vergänglichkeit das Motiv der Geschichte in sich hat. Die Grundbestimmung der Vergänglichkeit des Irdischen bedeutet nichts anderes als ein solches Verhältnis von Natur und Geschichte; daß alles Sein oder alles Seiende zu fassen ist nur als Verschränkung von geschichtlichem und naturhaftem Sein. Als Vergänglichkeit ist Urgeschichte absolut präsent. Sie ist es im Zeichen von »Bedeutung«. Der Terminus »Bedeutung« heißt, daß die Momente Natur und Geschichte nicht ineinander aufgehen, sondern daß sie zugleich auseinanderbrechen und sich so verschränken, daß das Natürliche auftritt als Zeichen für Geschichte und Geschichte, wo sie sich am geschichtlichsten gibt, als Zeichen für Natur. Alles Sein oder wenigstens alles gewordene Sein, alles gewesene Sein verwandelt sich in Allegorie, und damit hört Allegorie auf, eine bloß kunstgeschichtliche Kategorie zu sein. Ebenso wird das »Bedeuten« selber aus einem Problem der geschichtsphilosophischen Hermeneutik oder gar dem des transzendenten Sinnes zu dem Moment, das konstitutiv Geschichte in Urgeschichte transsubstanziiert. Darum »Urgeschichte des Bedeutens«. Der Fall eines Tyrannen etwa ist nach barocker Sprache gleich dem Untergang der Sonne. Diese allegorische Relation umschließt in sich bereits die Ahnung eines Verfahrens, dem es gelingen könnte, die konkrete Geschichte in ihren Zügen als Natur auszulegen und die Natur im Zeichen der Geschichte dialektisch zu machen. Die Ausführung dieser Konzeption ist wiederum die Idee der Naturgeschichte.
III. Nachdem ich so den Ursprung der Idee der Naturgeschichte angedeutet habe, will ich weiter gehen. Das Verbindende dieser drei Stellen liegt in der Vorstellung der Schädelstätte. Bei Lukács ist es etwas bloß Rätselhaftes, bei Benjamin wird es zur Chiffre, die zu lesen ist. Unter dem radikalen naturgeschichtlichen Denken aber verwandelt sich alles Seiende in Trümmer und Bruchstücke, in eine solche Schädelstätte, in der die Bedeutung aufgefunden wird, in der sich Natur und Geschichte verschränken, und Geschichtsphilosophie gewinnt die Aufgabe intentionalen Auslegung. Es ist also eine doppelte Wendung gemacht. Ich habe auf der einen Seite die ontologische Problematik auf die geschichtliche Formel gebracht, zu zeigen versucht, in welcher Weise die ontologische Fragestellung konkret geschichtlich zu radikalisieren ist. Auf der anderen Seite habe ich unter dem Zeichen der Vergänglichkeit gezeigt, wie die Geschichte selber hindrängt zu einer in gewissem Sinn ontologischen Wendung. Das, was ich hier unter ontologischer Wendung verstehe, ist etwas völlig Verschiedenes von dem, was heute üblicher Weise darunter verstanden wird. Daher will ich diesen Ausdruck nicht dauernd dafür reklamieren, sondern führe ihn lediglich dialektisch ein. Das, was mir als Naturgeschichte vorschwebt, ist nun nicht »historistische Ontologie«, nicht der Versuch, einen Zusammenhang historischer Tatbestände herauszugreifen und ontologisch zu hypostasieren, die als Sinn oder Grundstruktur einer Epoche das Ganze umfassen sollen, wie es etwa Dilthey tat. Dieser Diltheysche Versuch einer historistischen Ontologie ist gestrandet, weil er mit der Faktizität nicht Ernst genug gemacht hat, verblieben ist im Bereich der Geistesgeschichte und, nach der Weise von unverbindlichen Denkstilbegriffen, die material-gefüllte Realität überhaupt nicht ergriffen hat. Statt dessen muß es sich darum handeln, nicht epochenweise Konstruktionen geschichtlicher Urbilder zu gewinnen, sondern die geschichtliche Faktizität in ihrer Geschichtlichkeit selbst als naturgeschichtlich einzusehen.
Zur Artikulation der Naturgeschichte nehme ich ein zweites Problem auf; von der entgegengesetzten Seite her. (Dies liegt in direkter Sinnfortsetzung der Frankfurter Diskussion.) Man könnte sagen, es sei eine Art von Verzauberung der Geschichte von mir gemeint. Hier würde das Geschichtliche in allen seinen Zufälligkeiten für das Natürliche und Urgeschichtliche selber ausgegeben. Es soll, weil es allegorisch erscheint, das geschichtlich Begegnende verklärt werden als etwas Sinnhaftes. Das liegt nicht in meinem Sinn. Allerdings ist der Ausgang der Fragestellung, der Naturcharakter der Geschichte, das befremdende. Aber wollte die Philosophie nichts anderes bleiben als eine solche Hinnahme des Choks, daß das, was Geschichte ist, sich zugleich jeweils als Natur darstellt – dann wäre es so, wie Hegel es Schelling vorwarf, wie die Nacht der Indifferenz, in der alle Katzen grau sind. Wie entgeht man dieser Nacht? Das möchte ich noch andeuten.
Es ist hier davon auszugehen, daß die Geschichte, wie sie uns vorliegt, sich gibt als ein durchaus Diskontinuierliches, nicht nur insoweit als sie disparate Tatbestände und Tatsachen, sondern auch Disparatheiten struktureller Art enthält. Wenn Riezler von drei einander entgegenstehenden und ineinander gefalteten Bestimmungen der Geschichtlichkeit, Tyche, Ananke, Spontaneität redet, würde ich nicht versuchen, diese Aufteilung der Struktur der Geschichte in diese Bestimmungen durch eine sogenannte Einheit zu synthetisieren. Ich glaube gerade, daß die neue Ontologie in der Konzeption dieses Gefügtseins etwas sehr Fruchtbares geleistet hat. Nun stellt sich diese Diskontinuität – die ich, wie gesagt, in eine Strukturganzheit überzuführen kein Recht sehe – zunächst einmal dar als eine zwischen dem mythisch-archaischen, natürlichen Stoff der Geschichte, des Gewesenen und dem, was dialektisch neu in ihr auftaucht, neu im prägnanten Sinn. Dies sind Kategorien, deren Problematik mir klar ist. Aber das differentielle Verfahren, zur Naturgeschichte zu kommen, ohne Naturgeschichte als Einheit vorwegzunehmen, ist dies, daß man diese beiden problematischen und unbestimmten Strukturen in ihrer Gegensätzlichkeit, wie sie in der Sprache der Philosophie vorkommen, zunächst annimmt und hinnimmt. Das darf man um so eher, als es sich zeigt, daß die Geschichtsphilosophie auf eine solche Verschränkung des ursprünglich Daseienden und des neu Werdenden je und je kommt durch die von der Forschung dargebotenen Befunde. Ich erinnere aus dem Bereich der Forschung daran, daß in der Psychoanalyse dieser Gegensatz in aller Deutlichkeit vorliegt: in dem Unterschied der archaischen Symbole, an die sich kein Assoziationen anschließen, und der innersubjektiven, dynamischen, innergeschichtlichen Symbole, die sich alle eliminieren lassen und die in psychische Aktualität, in gegenwärtiges Wissen umgesetzt werden können. Nun ist zunächst die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, diese beiden Momente herauszuarbeiten, zu sondern und einander gegenüberzustellen, und erst wo diese Antithesis expliziert ist, ist eine Chance, daß man zu der Auskonstruktion der Naturgeschichte gelangen kann. Den Hinweis dazu bieten wieder die pragmatischen Befunde, die sich darstellen, wenn man einmal das Archaisch-Mythische selber betrachtet und das Geschichtlich-Neue. Dabei zeigt sich, daß das zugrunde liegende Mythisch-Archaische, dies angeblich substantielle beharrende Mythische gar nicht in einer solchen Weise statisch zugrunde liegt, sondern daß in allen großen Mythen, wohl auch in allen mythischen Bildern, die unser Bewußtsein noch hat, das Moment der geschichtlichen Dynamik bereits angelegt ist, und zwar in dialektischer Form, so, daß die mythischen Grundgegebenheiten in sich selbst widerspruchsvoll sind und sich widerspruchsvoll bewegen (erinnert sei an das Phänomen der Ambivalenz, den »Gegensinn« der Urworte). Der Kronosmythos ist ein solcher, in dem die äußerste Schöpferkraft des Gottes zugleich in eins gesetzt wird damit, daß er der ist, der seine Geschöpfe, seine Kinder vernichtet. Oder es ist so, daß die Mythologie, die der Tragödie zugrunde liegt, allemal in sich dialektisch ist, weil sie auf der einen Seite das Verfallensein des schuldigen Menschen an den Naturzusammenhang in sich hat und zugleich dies Schicksal aus sich selbst heraus versöhnt; daß der Mensch aus dem Schicksal als Mensch sich erhebt. Das Moment der Dialektik liegt darin, daß die tragischen Mythen in sich mit der Verfallenheit in Schuld und Natur zugleich das Moment der Versöhnung, das prinzipielle Hinausgehen über den Naturzusammenhang enthalten. Die Vorstellung einer statischen undialektischen Ideenwelt nicht bloß, sondern auch undialektischer, die Dialektik abbrechender Mythen weist auf Platon als ihren Ursprung zurück7. Bei Platon liegt die Welt der Erscheinungen selbst eigentlich brach. Sie ist verlassen, aber sie wird von den Ideen sichtbar beherrscht. Jedoch die Ideen haben an ihr keinen Anteil, und da sie an der Bewegung der Welt keinen Anteil haben, durch diese Entfremdung der menschlichen Erfahrungswelt von den Ideen, werden die Ideen zwangsläufig, um sich gegenüber dieser Dynamik überhaupt halten zu können, unter die Sterne versetzt. Sie werden statisch: erstarrt. Aber das ist bereits der Ausdruck für einen Stand des Bewußtseins, in dem das Bewußtsein seine natürliche Substanz als Unmittelbarkeit verloren hat. In dem Augenblick Platons ist das Bewußtsein bereits der Versuchung des Idealismus verfallen: der Geist, aus der Welt verbannt und der Geschichte entfremdet, wird zur Absolutheit um den Preis der Lebendigkeit. Und der Trug des statischen Charakters der mythischen Elemente ist es, dessen wir uns zu entledigen haben, wenn wir zu einem konkreten Bild von Naturgeschichte kommen wollen.
Andererseits stellt das »jeweilig Neue«, dialektisch Produzierte in der Geschichte in Wahrheit als archaisch sich dar. Die Geschichte ist »dort am mythischsten, wo sie am geschichtlichsten ist«. Hier liegen die größten Schwierigkeiten. Statt den Gedanken generell auszuführen, gebe ich ein Beispiel: das des Scheines; und zwar spreche ich von Schein in dem Sinne einer zweiten Natur, von der die Rede war. Diese zweite Natur ist, indem sie sich als sinnvoll gibt, eine des Scheines, und der Schein an ihr ist geschichtlich produziert. Sie ist scheinhaft, weil die Wirklichkeit uns verloren ist, und wir sie glauben sinnvoll zu verstehen, während sie entleert ist, oder weil wir in diese fremd gewordene subjektive Intentionen als ihre Bedeutung einlegen wie in der Allegorie. Nun ist aber das Merkwürdige, daß das innergeschichtliche Wesen Schein selber mythischer Artung ist. Wie allen Mythen das Moment des Scheines inhäriert, ja wie die Dialektik des mythischen Schicksals, unter den Formen von Hybris und Verblendung, allemal von Schein inauguriert wird, so sind die geschichtlich produzierten Schein-Gehalte allemal mythischer Art, und nicht nur so, daß sie auf Archaisch-Urgeschichtliches zurückgreifen und daß in der Kunst alles Scheinhafte es mit Mythen zu tun hat (man denke an Wagner), sondern daß der Charakter des Mythischen selber in diesem geschichtlichen Phänomen des Scheines wiederkehrt. Dessen Herausarbeitung wäre ein echt naturgeschichtliches Problem. Es würde sich z.B. darum handeln zu zeigen, daß, wenn Sie bei gewissen Wohnungen den Charakter des Scheines feststellen, mit diesem Schein verschwistert ist der Gedanke des von je Gewesenseins, und daß es nur wiedererkannt wird. Das Phänomen des déjà-vu, des Wiedererkennens wäre hier zu analysieren. Weiter kehrt vor solch innergeschichtlichem entfremdeten Schein das mythische Urphänomen der Angst wieder. Es befällt eine archaische Angst überall da, wo diese Scheinwelt der Konvention uns gegenübertritt. Weiter das Moment der Bedrohlichkeit, das diesem Schein immer eigen ist; daß der Schein den Charakter hat, alles wie in einen Trichter in sich hineinzuziehen, ist auch ein solches mythisches Moment des Scheines. Oder das Moment der Wirklichkeit von Schein gegenüber seiner bloßen Bildlichkeit: daß wir Schein überall da, wo er uns begegnet, als Ausdruck empfinden, daß er nicht bloß zu beseitigendes Scheinhaftes ist, sondern etwas ausdrückt, was in ihm erscheint, was aber unabhängig von ihm nicht zu beschreiben ist. Dies ist ebenfalls ein mythisches Moment am Schein. Und schließlich: das entscheidende, transzendierende Motiv des Mythos, das der Versöhnung, eignet auch dem Schein. Ich erinnere daran, daß die Rührung allemal den mindersten Kunstwerken beigesellt ist und nicht den höchsten. Ich meine das Moment der Versöhnung, das überall da ist, wo die Welt am scheinhaftesten sich darstellt; daß da das Versprechen der Versöhnung am vollkommensten gegeben ist, wo zugleich die Welt von allem »Sinn« am dichtesten vermauert ist. Damit weise ich Sie auf die Struktur des Urgeschichtlichen am Schein selber zurück, wo der Schein in seinem Sosein als ein geschichtlich Produziertes sich erweist: in der üblichen Sprache der Philosophie: wo Schein von der Subjekt-Objekt-Dialektik gezeitigt wird. Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste. Die geschichtliche Dialektik ist nicht bloß Wiederaufnahme umgedeuteter urgeschichtlicher Stoffe, sondern die geschichtlichen Stoffe selber verwandeln sich in Mythisches und Naturgeschichtliches.
Über das Verhältnis dieser Dinge zum historischen Materialismus wollte ich noch sprechen, kann aber hier nur soviel sagen: es ist nicht das der Ergänzung einer Theorie durch eine andere, sondern das der immanenten Auslegung einer Theorie. Ich stelle mich sozusagen als der richterlichen Instanz der materialistischen Dialektik. Es wäre zu zeigen, daß das Vorgetragene nur eine Auslegung von gewissen Grundelementen der materialistischen Dialektik ist.
Fußnoten
1 Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Berlin 1920, S. 52.
2 a.a.O., S. 54.
3 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928, S. 178.
4 a.a.O., S. 176.
5 Vgl. a.a.O., S. 160.
6 a.a.O., S. 164f.
7 Zum folgenden vgl. Sören Kierkegaard, Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, übers. von Hans Heinrich Schaeder, München, Berlin 1929, S. 78ff.
Thesen über die Sprache des Philosophen
1. Die Unterscheidung von Form und Inhalt der philosophischen Sprache ist keine Disjunktion in geschichtsloser Ewigkeit. Sie gehört spezifisch dem idealistischen Denken zu: entspricht der idealistischen Unterscheidung von Form und Inhalt der Erkenntnis. Ihr liegt zugrunde die Meinung, es seien die Begriffe und mit ihnen die Worte Abbreviaturen einer Vielheit von Merkmalen, deren Einheit Bewußtsein bloß konstituiere. Wenn dem Mannigfaltigen seine Einheit als Form subjektiv aufgeprägt wird, ist solche Form notwendig gedacht als ablösbar vom Inhalt. Im Sachbereich wird solche Ablösbarkeit geleugnet, da die Sachen selber ja einzig Produkte der Subjektivität sein sollen. Im Sprachraum läßt sie sich nicht verbergen. Es ist Zeichen aller Verdinglichung durch idealistisches Bewußtsein, daß die Dinge beliebig benannt werden können: angesichts der Sprache bleibt die vorgebliche Objektivität ihrer geistigen Konstitution formal und vermag die Sprachgestalt nicht zu prägen. Für ein Denken, das die Dinge ausschließlich als Funktionen von Denken faßt, sind die Namen beliebig geworden: sie sind freie Setzungen des Bewußtseins. Die ontische »Zufälligkeit« der subjektiv konstituierten Einheit der Begriffe wird in der Vertauschbarkeit von deren Namen evident. Im Idealismus stehen die Namen nur in bildlicher, nicht in konkret sachlicher Beziehung zu dem damit Gemeinten. Für ein Denken, das Autonomie und Spontaneität als Rechtsgrund der Erkenntnis anzuerkennen nicht mehr willens ist, wird die Zufälligkeit der signifikativen Zuordnung von Sprache und Sachen radikal problematisch.
2. Philosophische Sprache, die Wahrheit intendiert, kennt keine Signa. Durch Sprache gewinnt Geschichte Anteil an Wahrheit, und die Worte sind nie bloß Zeichen des unter ihnen Gedachten, sondern in die Worte bricht Geschichte ein, bildet deren Wahrheitscharaktere, der Anteil von Geschichte am Wort bestimmt die Wahl jeden Wortes schlechthin, weil Geschichte und Wahrheit im Worte zusammentreten.
3. Die Sprache der Philosophie ist durch die Sachhaltigkeit vorgezeichnet. Der Philosoph hat nicht wählend Gedanken auszudrücken, sondern muß die Worte finden, die nach dem Stande der Wahrheit in ihnen einzig legitimiert sind, die Intention zu tragen, die der Philosoph aussprechen will und nicht anders aussprechen kann, als indem er das Wort trifft, dem zur geschichtlichen Stunde solche Wahrheit innewohnt.
4. Die Forderung der »Verständlichkeit« der philosophischen Sprache, ihrer gesellschaftlichen Kommunizierbarkeit, ist idealistisch, geht notwendig vom signifikativen Charakter der Sprache aus, setzt, daß die Sprache vom Gegenstand ablösbar sei, darum der gleiche Gegenstand auf verschiedene Weisen adäquat gegeben sein könne. Gegenstände werden aber durch die Sprache überhaupt nicht adäquat gegeben, sondern haften an der Sprache und stehen in geschichtlicher Einheit mit der Sprache. In einer homogenen Gesellschaft ist Verständlichkeit der philosophischen Sprache niemals gefordert, allenfalls jedoch vorgegeben: wenn die ontologische Macht der Worte so weit reicht, daß ihnen in der Gesellschaft objektive Dignität zukommt. Diese Objektivität resultiert niemals aus einer Angleichung der philosophischen Sprache ans Verständnis der Gesellschaft. Vielmehr ist die Objektivität, die die Sprache »verständlich« macht, die gleiche, die dem Philosophen die Worte eindeutig zuordnet. Sie kann nicht gefordert werden; wo sie problematisch wurde, ist sie inexistent schlechthin und so wenig für den Philosophen vorbestimmt wie in der Gesellschaft nur zu vernehmen. Die abstrakt idealistische Forderung der Adäquation der Sprache an Gegenstand und Gesellschaft ist das genaue Widerspiel wirklicher Sprachrealität. In einer atomisierten, zerfallenen Gesellschaft die Sprache bilden mit Rücksicht aufs Vernommensein, heißt romantisch einen Stand der ontologischen Verbindlichkeit der Worte vortäuschen, der sogleich dementiert wird durch die Ohnmacht der Worte selber. Ohne geschlossene Gesellschaft gibt es keine objektive, damit keine wahrhaft verständliche Sprache.
5. Die intendierte Verständlichkeit philosophischer Sprache ist heute in allen Stücken als Trug zu enthüllen. Sie ist entweder banal: setzt also naiv Worte als vorgegeben und gültig, deren Beziehung zum Gegenstand in Wahrheit problematisch wurde; oder ist unwahr, indem sie unternimmt, jene Problematik zu verbergen; benutzt das Pathos von Worten, die der geschichtlichen Dynamik enthoben scheinen, um den Worten geschichtslose Gültigkeit und in eins damit Verständlichkeit zu vindizieren. Die einzig berechtigte Verständlichkeit philosophischer Sprache ist heute die in getreuer Übereinstimmung mit den gemeinten Sachen und im getreuen Einsatz der Worte nach dem geschichtlichen Stand der Wahrheit in ihnen. Jede absichtsvoll erstrebte verfällt radikal der Sprachkritik.
6. Dagegen: es ist ein Verfahren, das wohl die geschichtliche Problematik der Worte ermißt, jedoch ihr auszuweichen trachtet, indem es eine neue Sprache der Philosophie vom Einzelnen aus zu errichten trachtet, in gleicher Weise unzulässig. Heideggers Sprache flüchtet aus der Geschichte, ohne ihr doch zu entrinnen. Die Plätze, die seine Terminologie besetzt, sind allesamt Örter der herkömmlichen philosophischen – und theologischen – Terminologie, die durchschimmert und die Wörter präformiert, ehe sie anheben; während die manifeste Sprache Heideggers versäumt, in dialektischem Zusammenhang mit der überkommenen Sprache der Philosophie deren Zerfall vollends aufzudecken. Die frei gesetzte Sprache erhebt die Prätention einer Freiheit des Philosophen vom Zwange der Geschichte, die immanent bereits bei Heidegger widerlegt wird durch die Einsicht in die Notwendigkeit, sich zu jener Sprache kritisch zu verhalten, da ihre aktuelle Problematik ja allein in Geschichte ihren Grund hat. Die herkömmliche Terminologie, und wäre sie zertrümmert, ist zu bewahren, und neue Worte des Philosophen bilden sich heute allein aus der Veränderung der Konfiguration der Worte, die in Geschichte stehen, nicht durch Erfindung einer Sprache, die zwar die Macht der Geschichte über das Wort anerkennt, ihr aber auszuweichen trachtet in eine private »Konkretheit«, die nur scheinbar vor Geschichte sichergestellt ist.
7. Es steht heute der Philosoph der zerfallenen Sprache gegenüber. Sein Material sind die Trümmer der Worte, an die Geschichte ihn bindet; seine Freiheit ist allein die Möglichkeit von deren Konfiguration nach dem Zwange der Wahrheit in ihnen. Er darf so wenig ein Wort als vorgegeben denken wie ein Wort erfinden.
8. Das sprachliche Verfahren des Philosophen, abstrakt heute kaum zu benennen, ist jedenfalls einzig dialektisch zu denken. Seiner eigenen Intention sind im gesellschaftlichen Zustande heute keine Worte vorgegeben, und die objektiv vorhandenen Worte der Philosophie sind seinsentleert, für ihn unverbindlich. Der Versuch, neue Gehalte in der alten Sprache verdeutlichend mitzuteilen, krankt an der idealistischen Voraussetzung der Abtrennbarkeit von Form und Inhalt und ist darum sachlich illegitim; verfälscht die Gehalte. Es bleibt ihm keine Hoffnung als die, die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, daß deren bloße Konfiguration die neue Wahrheit ergibt. Dies Verfahren ist nicht zu identifizieren mit der Absicht, neue Wahrheit durch herkömmliche Worte zu »erklären«; die konfigurative Sprache wird vielmehr das explizite Verfahren, das die ungebrochene Dignität von Worten voraussetzt, durchaus zu meiden haben. Gegenüber den herkömmlichen Worten und der sprachlosen subjektiven Intention ist die Konfiguration ein Drittes. Ein Drittes nicht durch Vermittlung. Denn es wird nicht etwa die Intention durch das Mittel der Sprache objektiviert. Sondern es bedeutet konfigurative Sprache ein Drittes als dialektisch verschränkte und explikativ unauflösliche Einheit von Begriff und Sache. Die explikative Unauflöslichkeit solcher Einheit, die sich umfangslogischen Kategorien entzieht, bedingt heute zwingend die radikale Schwierigkeit aller ernsthaften philosophischen Sprache.
9. In der Sphäre der Form-Inhalt-Dualität mochte die Sprache der Philosophie sich vergleichgültigen, weil eben ihre Irrelevanz von der spezifischen Struktur des verdinglichten Denkens vorgezeichnet war. Heute ist ihr gründender Anteil an der Erkenntnis – der latent auch zur idealistischen Zeit bestand insofern, als die Sprachlosigkeit jener Epoche jede echte Sachhaltigkeit hintertrieb – wieder manifest. Alle philosophische Kritik ist heute möglich als Sprachkritik. Diese Sprachkritik hat sich nicht bloß auf die »Adäquation« der Worte an die Sachen zu erstrecken, sondern ebensowohl auf den Stand der Worte bei sich selber; es ist bei den Worten zu fragen, wie weit sie fähig sind, die ihnen zugemuteten Intentionen zu tragen, wieweit ihre Kraft geschichtlich erloschen ist, wie weit sie etwa konfigurativ bewahrt werden mag. Kriterium dessen ist wesentlich die ästhetische Dignität der Worte. Als kraftlose Worte sind kennbar solche, die im sprachlichen Kunstwerk – das allein gegenüber der szientifischen Dualität die Einheit von Wort und Sache bewahrte – der ästhetischen Kritik bündig verfielen, während sie sich bislang der philosophischen Gunst ungeschmälert erfreuen durften. Es ergibt sich damit konstitutive Bedeutung der ästhetischen Kritik für die Erkenntnis. Ihr entspricht: daß echte Kunst heute nicht mehr den Charakter des Metaphysischen hat, sondern unvermittelt der Darstellung realer Seinsgehalte sich zuwendet. Es läßt sich die wachsende Bedeutung philosophischer Sprachkritik formulieren als beginnende Konvergenz von Kunst und Erkenntnis. Während Philosophie sich der bislang nur ästhetisch gedachten, unvermittelten Einheit von Sprache und Wahrheit zuzukehren hat, ihre Wahrheit dialektisch an der Sprache ermessen muß, gewinnt Kunst Erkenntnischarakter: ihre Sprache ist ästhetisch nur dann stimmig, wenn sie »wahr« ist: wenn ihre Worte dem objektiven geschichtlichen Stande nach existent sind.
10. Die sachliche Struktur eines philosophischen Gebildes mag mit seiner Sprachstruktur, wo nicht zusammenfallen, zumindest doch in einem gestalteten Spannungsverhältnis stehen. Ein Denken etwa, das mit dem Anspruch auftritt, ontologische Gehalte zu geben, sich dabei aber der Form umfangslogischer Definitionen, idealistisch-systematischer Deduktionen, abstrakter Oberflächenzusammenhänge bedient, hat nicht bloß inadäquate Sprachform, sondern ist auch sachlich unwahr: weil die behaupteten ontologischen Befunde nicht die Kraft haben, den Zug der Gedanken nach sich auszurichten, sondern als freischwebende Intentionen gegenüber der Denkform transzendent bleiben. Das läßt sich bis in die kleinsten Zellen der sprachlichen Haltung verfolgen: der Sprache kommt rechtsausweisende Bedeutung zu. Es wäre, zunächst unter Absehung von aller »Sachhaltigkeit«, an Scheler etwa Kritik zu üben derart, daß man zeigt, der von ihm gelehrten ontologischen Abgesetztheit der Ideen gegeneinander widerstreite ein Darstellungsverfahren, das stets mit den logischen Mitteln von Deduktion und Syllogismus verfährt, abstrakte Antinomien zwischen den Ideen »konstruiert« und ungebrochen zumal in den materialen Untersuchungen die ausgeleierte Sprache eben jener nominalistischen Wissenschaft anwendet, als deren Todfeind er sich philosophisch deklariert. Bei einer Sprachanalyse Schelers wäre zu zeigen die Unangemessenheit seiner ontologischen Absicht an den tatsächlich bei ihm vorliegenden Erkenntnisstand oder, minder psychologisch: die Unmöglichkeit der Konstitution einer reinen Seinsordnung mit den Mitteln der emanzipierten ratio. Alle trügende Ontologie ist sprachkritisch zumal zu entlarven.