Der mißbrauchte Barock
Für Nicolas Nabokov
Barock ist ein Prestigebegriff. Durch den Namen hielt wie durch ein Tor die Kulturindustrie, spätestens seit dem Rosenkavalier, Einzug in die Kultur. 1925 schon veröffentlichte Karl Kraus in der ›Fackel‹ einen Aufsatz, ›Aus der Barockzeit‹, in dem er an den Memoiren einer Diplomatengattin die Sphäre denunzierte, die das Wort ausschlachtet und die mittlerweile vollends auf den Film gekommen ist. »Was sich nun gar im Sommer in Salzburg tut mit Barock, scharlachroten Herolden, ›goldschimmernden Fanfaren‹, Kirchenglocken, Orgeln und rauschenden Schwingungen, spottet so jeder Beschreibung, daß keine Beschreibung mehr dessen spotten kann.«1 Das Stichwort für eine ursprünglich von Wölfflin und Riegl in ihrer Verfahrungsart genau präzisierte kunsthistorische Epoche hat seit deren Veröffentlichungen weithin ideologische Funktion angenommen. Wer heutzutage von Barock schwärmt, stellt dadurch unter Beweis, daß er zur Kultur und überhaupt dazugehört. Seine Begeisterung ist vielfach die eines neutralisierten Bewußtseins, dem es gar nicht so sehr darauf ankommt, wofür es sich begeistert. Am deutlichsten wird das an der Musik. Auf sie wurde der Terminus Barock nachträglich transponiert, zuerst von Curt Sachs, dann, mit breitester Wirkung, von Friedrich Blume. Dieser empfiehlt, den Begriff eines musikalischen Barocks nicht zu sehr einzuengen. Reiche Materialkenntnis lehrt ihn, wieviel Heterogenes musikalisch unter der Bezeichnung läuft. Folgt man seiner eigenen Darstellung, so bleibt von der vermeintlichen Einheit wenig mehr übrig als das allgemeine Prinzip von Gegensätzlichkeit. Dennoch verteidigt er die Nomenklatur, zögert nicht zu behaupten, im Barock hätten Dichtung und Musik analog zur Technik der Behandlung des Nackten in der Malerei »eine glitzernde Sprache sensueller Reizbarkeit und schmerzvoll-süßer Schmiegsamkeit«2 ausgebildet, obwohl das nicht nur der Rolle widerspricht, die die Vorstellung von Barockmusik bei ihren gegenwärtigen Liebhabern spielt, sondern dem Sachverhalt selbst. Jene Musik war nicht Tristan, Salome oder Debussy, ihrem Gesamthabitus nach keineswegs differenziert; ihre jüngste, beklemmende Popularität hat sie eher dem blockhaft Simplen zu verdanken. Auf der Identität barocken Geistes im Akustischen und Visuellen zu bestehen, setzt sich allzu rasch über die Unvereinbarkeit der konkreten künstlerischen Gestalt hier und dort hinweg. Doch wäre die damalige Musik schwerlich auferstanden, hätte nicht der Barockbegriff auf Tunder und Buxtehude, auf Schein, Biber und ungezählte andere einen Abglanz der Architektur von Fischer von Erlach und Balthasar Neumann geworfen. Nur das Unspezifische und Vage, wozu der Barock dem gegenwärtigen Bewußtsein sich verdünnte, erlaubt den universalen Gebrauch des Namens.
Dies Bewußtsein paßt gut zu der Kultur, auf die es schwört. Bequem vermag einer als Anhänger der Barockmusik sich zu bekennen, ohne in deren Vorrat viel zwischen den einzelnen Autoren und Werken zu unterscheiden. Tatsächlich sind sie in der Breite der Produktion durch das Unspezifische, akademisch gesagt: durchs Zurücktreten des Personalstils einander fatal ähnlich. Zum Entscheidenden, der Wahrnehmung der Qualitäten, wie sie die Kunstgeschichte in der Behandlung des Barocks immer noch bewährt, ist musikalisch wenig Anlaß. Womöglich werden die Mängel des Objekts diesem auch noch gutgeschrieben als Bürgschaft überpersonalen Seins, noch nicht zerrüttet vom subjektivistischen Sündenfall, während man gleichzeitig an der Idee des Barocken selbst den Durchbruch der Subjektivität aus dem Gehege der Renaissance unverdrossen feiert. Die modische Faszination durch Langeweile dürfte durch ein genormtes Aha-Erlebnis vermittelt sein, durch Kinderseligkeit beim Wiedererkennen von Immergleichem. Zirpt im Radio ein Cembalo oder Clavichord, exerzieren dazu die Instrumente ihr emsig wiederholsames Motivspiel, so flammt das Licht Barockmusik auf wie bei Orgelklängen das Religion oder bei quäkenden Synkopen das Jazz. Beim Barock paßt jene Reaktionsweise zu dem, was Jürgen Habermas die Ideologie des absinkenden Mittelstands nannte. Wer sich für Generalbaßmusik, womöglich gegen das neunzehnte Jahrhundert und die Romantik, mit hochgezogenen Brauen erklärt, der spielt sich als wählerisch, strengen Geschmacks auf, ohne diesen in sachlicher Unterscheidungsfähigkeit auf die Probe stellen zu müssen. Soweit reicht die Neutralisierung, daß eine Dame, die man als Barock-fan bezeichnen könnte, solche Musik erotisch besonders anregend fand, während die Sprecher ihrer Wiederbelebung diese asketisch, gerade mit Scheu vor expressiverotischem Ausdruck begründen. Daß in Musik der Wortsinn von Barock, wie man weiß das »Schiefrunde«, die Invasion der Asymmetrie ins Symmetrischeste, keinerlei Basis hat, stört niemand. Geht man unvermeidlicherweise über jene einer optischen Grundform geltende und auch dort nicht besonders treffende Charakteristik hinaus, so gerät man an das, was Riegl gleich anderen »wunderlich, ungewöhnlich, außerordentlich«3 nennt. Der bedeutende Kunsthistoriker wird sogleich der Unzulänglichkeit der Allerweltsdefinition inne: »Das Außerordentliche schlechtweg ist aber auch Ziel aller klassischen und romanischen Kunst, auch der Renaissance.«4 Kunst hebt durch ihre bloße Existenz vom Grau bürgerlich normaler Selbsterhaltung sich ab; das Nichtnormale ist ihr Apriori, ihre eigene Norm. Riegl konkretisiert die Idee des Außerordentlichen im Barock durch die des in sich Widerspruchsvollen, man darf wohl sagen: Dialektischen. Musik aber, wie sie am Ruhm des Barocks parasitär teilhat, hält es vorweg mit dem Ordentlichen, nicht mit Außerordentlichem; sie strahlt Anti-sex-appeal aus.
Relationen zwischen der bildenden Kunst und der Musik aus dem Zeitraum vom späten sechzehnten Jahrhundert bis etwa 1740 sind durchaus nicht generell zu leugnen. Analoga wie die Neigung zum Pomp oder die in sich übergangslos-antithetische Gestaltungsweise drängen sich auf. Auch wer der Ungleichzeitigkeit der Kunstgattungen, zumal des durchweg verspäteten Wesens der Musik sich versichert weiß, wird soviel an Einheit jedenfalls erwarten dürfen, wie die Epochen selbst ihren konstitutiven Zügen, ihren geschichtlichen Apriorien nach in sich einheitlich sind. Plausibel auf den ersten Blick ist die Ähnlichkeit der von Riegl schon bei Michelangelo herausgearbeiteten Technik mehrerer nach der Tiefendimension gegen einander abgesetzter Ebenen mit der sogenannten Terrassendynamik, überhaupt der Schichtung je in sich einheitlicher und unvermittelt kontrastierender Komplexe im barocken Konzert. Aber eben nur auf den ersten Blick. Die Analogien haben eine Tendenz, sich zu verflüchtigen, sobald man ihnen nachgeht; die barocke Malerei kennt mindestens ebensosehr wie das Mittel der Kontrastbildung bereits die Technik des Übergangs, des atmosphärischen Ineinander, der Auflösung des bestimmt Konturierten: das sfumato. Nichts davon in der gleichzeitigen Musik. Die allgemeine Rede vom Barock ist Ideologie im genauen Sinn falschen Bewußtseins, gewalttätige Vereinfachung der Phänomene, deren Propaganda sie besorgt.
Die Autorität des Barock ist zentral die der Idee von Stil. Barock war der letzte machtvolle und exemplarische, den die Kunstgeschichte verzeichnet; das Rokoko, dessen Äquivalent in der Musik der galante Stil wäre, wird als Appendix mitgeschleift; dem Empire und dem Biedermeier dann eignet gegenüber der kollektiven Kraft des Barocks entweder ein Fiktives oder ein resignierend ins privat Enge sich Zurückziehendes. Man tut den authentischen Gebilden des Barocks, und der in ihnen sich darstellenden Stilidee, keinen Abtrag, wenn man den Kultus des Barocks dem des Stils schlechthin gleichsetzt. Er kam auf mit der These vom Erlöschen der stilbildenden Kraft. Sie war ein Reflex auf den Wilhelminischen und Franz-Josephinischen Synkretismus. Stil allein aber garantiert nicht den ästhetischen Rang, obwohl seine Präponderanz es zuweilen erschwert, jenen zu erkennen. Unbefangene Augen brauchen nur gesehen zu haben, wieviel an minderwertigen Barockbauten es auch in Süddeutschland, Österreich, Italien gibt, wieviele mit Atelierroutine gefertigte allegorische Schinken, nicht selten mit großen Namen signiert, die Museen verstopfen, um darauf aufmerksam zu werden, wie wenig mit Stil allein getan ist. Er erlangte seinen Nimbus erst, als er mit Grund und eigener Schuld zergangen war. Die Gewalt des Stils war stets, vermutlich schon in der hochgotischen Architektur, zugleich Gewalttat, sprudelte nicht nur spontan aus dem Zeitgeist, sondern wurde auch diktiert und organisiert. Die Restauratoren mittelalterlicher Kirchen, die überall auf die Verwüstungen der Barockisierungswelle stoßen, dürften darüber einiges zu berichten haben. Soweit der Barock mit der Gegenreformation zusammengeht, ist ein Wille unverkennbar, der kein Kunstwollen war. Die der Kirche entlaufenden Massen sollten beeindruckt und wiedereingefangen werden. Das Surplus an Effekt, an Wirkung ohne Ursache, wie es Kritik am Barock hervorgehoben hat, solange sie noch zu urteilen sich getraute, leitet von jenem Willen sich her; wo er überwiegt, wird die immanente Qualität fragwürdig. Insofern ist die Barockisierungswelle, trotz des Niveau-Unterschieds, peinlich der vergleichbar, die man heute, unter dem Impressum der Kulturindustrie und schwerlich mit Stilansprüchen, als Neonisierung bezeichnen könnte; jenem offenbar unwiderstehlichen Bedürfnis, einem vag gefühlten Vorbild des amerikanischen up-to-date-Seins ohne Rücksicht auf konstruktive und strukturelle Forderungen nachzueifern, etwa jedes Lokal zu modernisieren in einer Weise, die weder einer Logik der Sache gehorcht noch auch nur dem Komfort der anbetroffenen Gäste, sondern einzig der Furcht, es könne etwas von den Tönen der Juke box oder vom Coca Cola-Geschmack abstechen und gar die Gäste zu verweilen und zu Gesprächen ermutigen. Angesichts des heute erneut ausbrechenden Stils, eines Anti-Stils vielmehr, dessen Einheit das Monopol verordnet, nicht die zu Unrecht gepriesene Weltanschauung, wird das Urteil über Stil zu revidieren sein. Nicht länger ist Stillosigkeit ästhetisch das radikal Böse, sondern eher die ominöse Einheit. Das hat rückwirkende Kraft auch den Epochen gegenüber, in denen Stil noch nicht die Parodie seiner selbst war. Stil als Ideologie, dessen gängige Formel Barock heißt, steht in strengem Kontrapost zur gegenwärtigen Situation. Diese fordert von Kunst ein Äußerstes an Nominalismus, den Vorrang des einzelnen, in sich stimmig durchgebildeten Produkts vor jeglicher allgemeinen, abstrakten Anweisung, jeglichem vorgegebenen Formkanon. Nach der Kritik, die das ästhetische Subjekt an der Objektivität der nicht durch es hindurchgegangenen Form übte, ist diese nur noch repressiven Unwesens. Die Verherrlichung des Barocks als Stil antwortet auf einen Drang, der ebenso hinter der gesellschaftlichen und innerästhetischen Entwicklung zurückgeblieben ist, wie die gesellschaftliche Entwicklung selbst solchen Rückschritt befördert.
Abgespalten vom Wahrheitsgehalt des Stils, leistet die heute gängige Barockideologie mühelos ein in sich Widerspruchsvolles. Die clichéhafte Überdehnung des Begriffs erlaubt es, ihm einerseits einen ersehnten sinnerfüllten und überwölbten Weltstand zu unterschieben, andererseits eine Kühnheit von subjektiver Emanzipation und von Unendlichkeitsdrang, darin man sich selbst samt unausweichlichen Zügen des Modernen wiederzuerkennen schmeichelt. Diese Doppelfunktion sagt mehr über das gegenwärtige Zeitalter als über den Barock. Sie spiegelt die anwachsende Heteronomie des Bewußtseins. Die Subjekte werden ihrer formalen Freiheit, der keine materiale entspricht und auch nicht ihre eigene Beschaffenheit, nicht froh. Desperat winseln sie nach jenen Bindungen, die von der bürgerlichen Gesellschaft unwiderruflich aufgelöst wurden. Gleichwohl können sie ihr eigenes spätbürgerliches Bewußtsein nicht überspringen, dem keine solche Bindung mehr substantiell ist und das, soweit es Produktivkraft hat, über das geistig Vorgegebene, die Ontologie jeglicher Gestalt, hinausdrängt. Der molluskenhafte Barockbegriff, insbesondere seine Anwendung auf die Musik, ist nach Belieben aufs Kontradiktorische anzuwenden, von der angeblich ausschweifenden Phantasie und jenen quasi surrealistischen Schocks, wie sie die imaginären Gefängnisse des Piranesi bereiten, bis zum unbeirrten Stampfen von Generalbaßpiècen, deren sturem Ablauf man mit ebensoviel Lust parieren kann wie dem ground beat des Jazz; daß gerade sogenannte vorklassische Musik so gern verjazzt wird, ist kein Zufall.
Fraglos gibt es in der Geschichte des Geistes authentische correspondances. Als man während des Expressionismus auf Greco ansprach, spürte man Wahlverwandtschaft mit einem antinaturalistischen Impuls, den bis dahin die Malerei kaum ganz rezipiert hatte. Das jüngste Interesse am Manierismus ist davon gründlich verschieden; eher mit der Ratlosigkeit der akademisch etablierten Geistesgeschichte vor den jüngsten Phänomenen zusammenzudenken. Trotz gewisser Ähnlichkeiten mit denen des Manierismus ist eine Denkweise untriftig, die das Befremdende, der erledigenden Zuordnung sich Widersetzende der neuen Kunst abwertet und zugleich akkommodiert durch historische Reminiszenzen. Die spezifische Erkenntnis dessen, was heute sich zuträgt, wird ihren Angriffspunkt gerade in der Verschiedenheit des Gehalts hier und dort zu suchen und aus ihr auch die der Phänomene selbst abzuleiten haben. In der Kunst auseinanderliegender Epochen kann, was sinnlich sich ähnelt, gänzlich Konträres bedeuten. Die Grundschicht der Moderne erreicht der Blick, der am tiefsten in ihr zeitlich Spezifisches sich versenkt, nicht die überschauende Nivellierung auf einen allgemeinen Begriff, der verschiedene Epochen deckt auf Kosten ihres Eigentümlichen. Wo aber, wie neuerdings von manchen ergreisten, ehemals modernen Malern, Barock sei's unmittelbar durch den malerischen Vortrag, sei's Kommentatoren zufolge ambitioniert ist, handelt es sich um Pseudomorphose, nicht um correspondance. Unter den Verdiensten von Alois Riegl ist nicht das kleinste, daß er, bereits an Michelangelo, die Prinzipien des Barocks als »struktiv«, also in der Konstruktion nachgewiesen hat. Daß der Barock, dessen Neigung zum Dekorativen in allen Bereichen man monoton immer wieder beteuert, gleichwohl Stil ist und trotz allen verschwendeten Gipses kein bloßer Aufputz, hat in jenen struktiven Momenten seinen Grund. Kaum geht die Hypothese fehl, es seien die überlebenden Gebilde des visuellen Barocks in allen Sphären die, in denen die sinnlichen Wirkungen am zwingendsten aus der Konstruktion folgen, am tiefsten mit ihr versöhnt sind. Nichts davon in den barocken Gesten moderner Malerei. Sie werden sich, auf der Flucht vor den seit Cézanne unwiderstehlich vordringenden Konstruktionsfragen, zum Absoluten. Weil der Gestus allein, ohne subkutane Skelettierung, es nicht mehr leistet, macht man Bildungsanleihen beim Barock. Solche Malerei ist Dekorationsmalerei, selbst wenn sie nicht ausdrücklich für Festspiele bestellt ward, mit all den Insignien des Sekundären und Abgeleiteten, deren offenbar die Dekorationsmalerei nicht sich entäußern kann, solange sie an dem Wirkungszusammenhang sich mißt, von dem wiederum bei szenischen Werken nicht abzusehen ist. Neubarock taugt nicht mehr als die Neugotik des neunzehnten Jahrhunderts. Die Mixtur aus moderner Auflösung und historisch ehrwürdigem Schwung, die beim Repräsentationspublikum nach dem Zweiten Krieg wie dem der Reinhardt-Ära soviel Resonanz hat, ist brüchig bis ins Innerste, zerfressen von jenem Kunstgewerbe, das noch vor fünfzig Jahren mit offenbaren Stilkopien in harmloser Ohnmacht sich zufrieden gab. Die Kerzenbeleuchtung, zu der damals malerisch drapierte Cembalistinnen in Schloßkulissen Stimmung machten, ist unterdessen in die peinture großer alter Männer eingewandert, die eben damit aufhören, es zu sein. Ihre Praktiken konvergieren mit der Kulturindustrie, die ohnehin die Tendenz zur Totalität hat und, was ihr Kulturgut heißt, zu Verwertungszwecken antastet und verschluckt. Schauplatz dieses Absorptionsprozesses ist die Kulturlandschaft. Gegenden ohne Fabriken, zumal solche eines einigermaßen unerschütterten Katholizismus, gewinnen durch ihren Seltenheitswert Monopolcharakter und werden selber Luxuswaren, Komplement zum Industrialismus, in dessen Mitte sie gedeihen. Ihr Barock ist zur Affiche totaler Kultur für den Fremdenverkehr geworden, und das beschädigt noch seine eigene Schönheit. Sie könnte erst wiederhergestellt werden, wenn der Kommerzialisierung des Unkommerziellen ihre gesellschaftliche und ökonomische Basis entzogen wäre. Kaum ist es zu weit hergeholt, die Barockideologie sei auch politisch zu beargwöhnen. Ein Musiker, der sich in Abenteuer mit der Avantgarde eingelassen hatte, aber dann Angst vor der eigenen Courage bekam und seine Versprechungen brach, rechtfertigte das damit, er sei zu tief im süddeutschen Barock verwurzelt. Seine Reaktion ist verwandt jener, die nicht lange Zeit davor an dem sich austobte, was sie wurzellos schalt.
Dem Wurzelmann ging es freilich um Musik. In ihr ergänzt der Barockbegriff die bildende Kunst durchs Gegenteil. Das Ideal ist nicht das sinnlicher Kultur, nicht kulinarisch, sondern versagend. Barock hätte nicht zur Ideologie für so Divergentes werden können, lauerte nicht im Gebrauch des Begriffs objektive Unwahrheit. Das viel zu wenig bekannte Buch ›Fragen an die Kunst‹ des ehemaligen Leiters der Mannheimer Kunsthalle, G.F. Hartlaub, hat das erstmals mit allem Nachdruck herausgestellt. Seine Überzeugungskraft ist um so größer, als er die Wahrheitsmomente eines umfassenden Begriffs von Barock konzediert, um die bestimmenden Differenzen plastisch sichtbar zu machen. Der Text, dessen Titel hinter das Wort Barockmusik, dem übrigens schon Riemann mißtraute, ein Fragezeichen setzt, ist auf eine These zu bringen, die der Autor selber, mit äußerster Bescheidenheit, in Frageform ausspricht: »Ob nicht in der Tonkunst alles, was an das Barock der bildenden Künste ihres Zeitalters gemahnt, viel mehr auf einer ›archäobarocken‹ Stufe steht?«5 Den Kern von Hartlaubs Argumentation bildet der Nachweis, daß Wölfflins von Sachs auf die Musik übertragene antithetische Begriffspaare auf diese nicht zutreffen, wie es denn auch die musikhistorische Forschung an Einzelkategorien nachgewiesen hat. Für Hartlaub ist es wahrscheinlich, »daß man die Musik von etwa 1570 bis 1745, wenn überhaupt eine zunächst an der Kunstgeschichte gewonnene Stilkategorie auf sie angewendet werden soll, nur richtig verstehen kann als letzte großartige Entfaltung einer im ganzen noch archaischen Ausdrucksweise«6. Worum es in der Kontroverse geht, macht Hartlaub an einem Modell klar: »Wer würde, der die Malereien des Salvator Rosa kennt, nicht zunächst, ohne historische Vorkenntnis, bei ihm als Madrigalkomponisten eine ganz anders geartete Musik erwarten! Die stilistische Diskrepanz zwischen dem Werk des Musikers und dem des Malers erscheint ungeheuer; man bezweifelt geradezu, daß derselbe schöpferische Mensch dahinterstehen soll.«7 Zu steigern wäre das durch einen Vergleich zwischen der imago von Musik bei Shakespeare – wie der im letzten Akt des ›Kaufmanns von Venedig‹ – und den dagegen höchst primitiven Stücken der elisabethanischen Virginalisten. Das ungeheure Werk Bachs als Gegenbeispiel zu zitieren, hülfe gar nichts; Bach ist, auch nach Ansicht solcher, die den Barockbegriff in der Musik so beredt advozieren wie Blume, doch unter diesem Begriff nicht zu fassen. Das genügt dazu, die Vormacht des Stilbegriffs selbst zu erschüttern: was wohl soll er leisten, wenn die größten Exponenten einer Kunstgattung als dem Stil ihrer Epoche inkommensurabel sich erweisen. Stil wäre dann der Mediokrität vorbehalten, und manchmal wird man bei denjenigen, die ihn als ästhetischen Passepartout handhaben, das Gefühl ihrer Sympathie mit dem Mediokren nicht los. Nur allzu leicht sind Kantoreien und lokale Malerschulen, mit kollektivistischen Vermittlungen, gegenüber großer Kunst als das Objektivere zu präsentieren; als ob es künstlerische Objektivität gäbe, die anders sich realisierte als vermöge des kraftvoll sich entringenden Subjekts. Hartlaub redet mit allem Recht von der Enttäuschung durch die alte Affektenmusik »trotz Chromatik, Vorhaltsdissonanzen und kühnen Modulationen, die ja alle, wenn man mit Nachklassisch-Romantischem vergleicht, doch nur Keim oder Knospe geblieben sind – sehr im Gegensatz zu den extremen Mitteln der Maler und Bildhauer! Mindestens an einem Pol des bildnerischen Barock wohnt die geheime, selbstzerstörerische Sehnsucht nach völliger Auflösung, Aufquellung, nach einem sich selbst Verlieren aller begrenzten Form in ein bewegtes, stoffliches Chaos.«8 Dann sollte aber auch für die weniger abundierende denn disziplinierende Musik des Generalbaßzeitalters der Terminus Barock vermieden werden. Er führt mit sich, was zumindest dem norddeutschen Protestantismus anathema war, der das gegenwärtige Bild von Barockmusik prägte.
Hartlaub greift dort an, wo der erweiterte Barockbegriff, bündiger technischer Kriterien ermangelnd, seine Domäne beansprucht, beim Geist des Barocks. Er weist nach, die Musik der Epoche impliziere fürs historisch unvoreingenommene, lebendige Bewußtsein das Gegenteil jenes Geistes. Die Divergenz, die auf nicht weniger hinausläuft als auf die Ablehnung des Barockbegriffs für die Musik insgesamt, wird begründet mit der Ungleichzeitigkeit der Künste, und diese wieder aus deren eigener Beschaffenheit: »Das tief innerliche Wesen, das im Menschenherzen der Musik entspricht, war noch in einem Zustande der Bindung, während das mehr Peripherische, das in bildenden Künsten zum Ausdruck kommt, bereits nach Übersteigerung und Auflösung drängte. Ein Impuls, der hier schon echt barocke Erscheinungen hervorbringen mußte (und damit auch Ermüdungssymptome), konnte dort nur erst archaische Zusammenfassungen und Ordnungen vollenden.«9 Zwar ist die These vom »tief innerlichen Wesen« der Musik, die doch ihrerseits ohne den Drang zu sinnlicher Entäußerung nicht wäre, anfechtbar wie der Kultus von Innerlichkeit insgesamt. Subjektivierung ist nach Hartlaubs eigener Argumentation historisches Produkt, sicherlich keine Invariante. Gleichwohl behält die Einsicht in den verspäteten Charakter der Musik, an der einst Busoni sein Vertrauen auf deren Jugend nährte, ihre Kraft. Die Dialektik zwischen den Künsten und der Kunst waltet die Geschichte hindurch. Sie verleiht den einzelnen Phänomenen Ambivalenz in sich. Fraglos reichen die Strukturbeziehungen zwischen Musik und bildender Kunst, gegen deren Mißbrauch Hartlaub revoltierte, weiter, als er sah. Anfechtbar ist ein Satz wie dieser: »Wer fühlte« – gegenüber den täuschenden Wirkungen im Visuellen – »nicht jenes Vertrauenerweckende, für Echtheit, handwerkliche Solidität Zeugende, wie es für das gesamte Generalbaß-Zeitalter kennzeichnend ist – selbst wo das Schema, das Schablonenhafte (zum Beispiel in den Sequenzen) unverkennbar wird!«10 Dekorative Momente lassen bis in die Verfahrungsweise Bachs hinein sich aufdecken, Brüche zwischen der musikalischen Erscheinung und der real vollzogenen motivischen Arbeit, die Bachs eigener, wenn man will, archaistischer Absage an den galanten Stil widersprechen. Die cis-moll-Tripelfuge im ersten Band des ›Wohltemperierten Klaviers‹, ein fünfstimmiges Stück, kennt eine Engführung, die man pseudozehnstimmig genannt hat; durch immer erneut sich überschneidende Themeneinsätze wird eine Vielheit nichtexistenter Stimmen vorgespiegelt. Der Kunstgriff mahnt an die ältere Praxis kleiner Bühnen, die bei militärischen Aufzügen die abgehenden Soldaten hinter der Szene herumführen und wieder auftreten lassen. Mitten in dem nach herrschender Ansicht so strengen Fugenwesen hat sich ein den Tricks barocker Architektur vergleichbares Illusionsprinzip eingenistet, das dann tief in den Wiener Klassizismus hineinwirkt. Zu diesem Komplex wird man möglicherweise sogar ein Verfahren rechnen dürfen, das seit Bach und durch ihn in den Lehrbüchern der Fuge ehrbar ward, aber mit deren konsequentem Begriff nicht recht vereinbar ist: daß manche Fugendurchführungen nur Bruchstücke des Themas, meist dessen Anfangsglied benutzen. Sie heimsen zwar die Wirkung motivischer Ökonomie, die sogenannter Logik ein, honorieren jedoch nicht ganz die in dieser gelegene Verpflichtung. Händel kann mit Rücksicht auf solche Sachverhalte außer Betracht bleiben, weil seine Fugen deren Prinzip zugunsten des pastosen Stils, der keine Durchartikulation des Gewebes duldet, gar nicht verpflichtet waren; die Fugen sind dadurch nicht besser geworden. Derlei Beobachtungen mögen wie technologische Spitzfindigkeiten sich anhören, sind aber von erheblicher Tragweite: Musik, von der man denken möchte, daß sie, weil sie nichts darstellt, auch nichts fingieren muß, hat trotzdem am Illusionscharakter teil, an dem, was dann die Spekulation des deutschen Idealismus den ästhetischen Schein nannte.
Diese Teilhabe birgt ihre sprengende Dialektik. Ihr Medium war die Wendung der Musik nach innen, ihre subjektive Vermittlung. Musik konstituierte sich als Sprache des Subjekts, insofern sie Ausdruck subjektiver Regungen zu sein schien, die von ihr imaginiert, quasi abgebildet und entwirklicht wurden. Aus jenem Illusionsprinzip hat sich das Schmückende, Ornamentale entwickelt, das später mit der Forderung materialer Stimmigkeit zusammenstieß und schließlich die Kündigung des tonalen Idioms erzwang, das gänzlich vom Illusionsprinzip durchdrungen war. Um des Einheitsmoments der auseinanderstrebenden Kunstgattungen innezuwerden, muß man schon in solche Komplexionen sich versenken, darf nicht mit jener Fassade sich begnügen, an der der Begriff des Stils sein Genügen hat und die buchstäblich im Barock dominierte. Dem haben die großen Kunsthistoriker sich gestellt, die akademisch etablierte Musikwissenschaft aber hat bislang davor versagt; einzig Außenseiter wie Halm, Kurth, Schenker bemühten sich um volle technologische Einsicht, die zugleich, als Vollzug der Stimmigkeit oder Unstimmigkeit der Gebilde, Kritik wäre. Unter technologischer Analyse ist dabei nicht an die – der Stilidee durchweg konforme – Beschreibung durchgängiger Gattungseigenschaften zu denken, nicht also an die allgemeinen Schemata und Charakteristiken des Concerto grosso, der Dacapo-Arie, der Fuge oder selbst der Behandlung des Basso continuo, sondern an die mikrologische Einsicht ins jeweils Komponierte und seine spezifische, unvertauschbare Gesetzmäßigkeit. Aus dem besonderen Werk, freilich auch seiner Beziehung zur Gattung durch Unterordnung, Abweichung und deren Verhältnis zueinander, geht der Geist einer Musik hervor und wohl der einer jeglichen Kunst; schwebt nicht frei darüber. In der Abstraktion auf Gattungsmerkmale verflüchtigt er sich. Zu solcher Erkenntnis indessen bedarf es einer Affinität zur Kunst – gleichsam einer Position auf der Seite des Produzierenden –, die der Wissenschaft abgeht und die sie wohl gar zu Ehren ihrer Wissenschaftlichkeit verpönt: allzu genaue Kenntnis der Werke ist ihr zuweilen suspekt. Stets noch fasziniert an Riegl, daß er es nicht bei der Versicherung des struktiven Wesens des Barocks sein Bewenden haben ließ, sondern die in Rede stehenden Strukturmomente bis ins einzelne nachwies. Selbst ein so außerordentlicher Kenner der gesamten Musik des Barockzeitalters wie Friedrich Blume dagegen weist das von sich, fürchtend vielleicht, der musikalische Barockbegriff halte minutiöser technischer Analyse nicht stand. Ausdrücklich verwirft er, gegen Riemann polemisierend, »Bezeichnungen bloß technischen Charakters«11. Ihm zufolge ist Barock in der Musik ein stilgeschichtlicher Begriff, der am Gehalt, nicht an den technisch kompositorischen Sachverhalten orientiert sei. Man müsse gegenüber den aus »empirischen Stilformen« abgeleiteten, nämlich technologischen Kategorien – gemeint sind gerade die Wölfflinschen Begriffspaare – zurückgehen auf ihren – so schreibt Blume wörtlich – »Aussagewert«12. Eskamotiert wird die zentrale und für die Kunsthistoriker selbstverständliche Frage, wie jener Gehalt zur ästhetischen Erscheinung vermittelt ist. Zugrunde liegt solcher in der Musikwissenschaft wohl vorwaltenden Ansicht die unreflektierte Vorstellung eines gleichsam ansichseienden, zumindest der bündigen Bestimmung sich entziehenden geistigen Gehalts, demgegenüber die Technik für äußerlich, sekundär, musikhistorischer Betrachtung unwürdig gilt. Das wird nicht offen deklariert, klingt aber deutlich durch. Mangel an Fühlung mit der Sache dünkt sich überlegener historischer Weitblick. Technologie tritt unter dem unfreundlichen Namen äußerer Stilmerkmale auf; der ihnen entgegengesetzte, auf den Gehalt abzielende wird der Philosophie entlehnt, als jener Zeitgeist, der seinerseits philosophisch erneut zu durchdenken wäre. Blume führt aus: »Mit der Einsicht, daß der musikalische Barock nicht in der mehr oder minder fragwürdigen Übereinstimmung äußerer Stilmerkmale mit denen anderer Künste, sondern in der inneren Einheit eines Zeitgeistes besteht, schwindet der im Schrifttum häufig aufgetauchte, auf Nietzsche zurückgehende Zweifel an der Gleichzeitigkeit der Musik mit jenen. ›Zeitgeist‹ wird hierbei verstanden nicht nur im Sinne eines Wirkungsfaktors, der, an und für sich unerklärbar, die Menschen einer Zeit und eines Raumes in eine gemeinsame Form des Denkens, Fühlens und Sichäußerns hineinzwingt, sondern auch im Sinne einer bestimmten Art und Weise, wie die Menschen eines Zeitalters sich selbst sehen und sich in Beziehung zur physischen und metaphysischen Welt setzen. Echte Gleichzeitigkeit wird nicht dadurch nachgewiesen, daß irgendwelche äußeren Stilmerkmale der Malerei oder der Dichtung sich in Analogie zu denen der Musik bringen lassen.«13 Wohl möchte man wissen, wie man über das auch von Blume skeptisch »vages Unterfangen« genannte Verfahren hinausgelangen soll, ohne mit den konkreten Techniken sich einzulassen. Die Weigerung, das zu tun, hat das Einverständnis der Bildungsideologie hinter sich, der zufolge unbesehen dem Geist der Vorrang vorm Buchstaben gebührt. Sätze aus dem Abschnitt, den Blume der Apologie des musikalischen Barockbegriffs widmet, lauten: »Da aber letztlich jede Kategorisierung geistiger Erscheinungen eine nachträgliche Abstraktion aus der schwankenden Fülle des wirklichen Lebens ist, kann eine solche Unschärfe wohl in Kauf genommen werden, wenn sie dazu verhilft, die Isolierung der Musik in der Geschichte ihrer Technik zu überwinden und sie als ein Produkt der treibenden geistigen Kräfte ihres Zeitalters verständlich zu machen. Hieraus ergibt sich, daß die Einführung des Begriffes ›Barock‹ in die Musikgeschichte zwar nicht notwendig, aber zweckmäßig ist, nachdem durch den Vorantritt der kunstgeschichtlichen und literaturgeschichtlichen Forschung das Wort mit dem Inhalt bestimmter Strömungen und Kräfte der Geistesgeschichte erfüllt worden ist.«14 Gerade nur in ihrer Technik jedoch sind die treibenden Kräfte der Musik eines Zeitalters aufzufinden. Paradox ist die Ungeistigkeit so vieler Musikhistorie damit zu erklären, daß sie ungebrochen einen Begriff von Geistesgeschichte übernimmt, der so hinfällig ist wie seine philosophische Konstitution durch Wilhelm Dilthey. Die Rede von »seelisch-geistigen Grundlagen« bleibt solange Versicherung und dekorativ, wie sie nicht im Komponierten ebenso sich bewährt wie einst, bei den großen Kunsthistorikern, im Gemalten oder Gebauten. Wer den geistigen Gehalt von Kunst schwer nimmt, als Wahrheitsgehalt, nicht als unverbindlichen Überbau, der der Betrachtung die höhere Weihe verleihen soll und womöglich aus Ehrfurcht in die Analyse nicht hineingezogen wird, muß fordern, daß jenes Zentrale der Kunstwerke zu ihrer immanenten Zusammensetzung und ihrem Formgesetz in durchsichtige Beziehung gerückt werde. Die Philosophie der Kunst, der die Konstruktion ihres Geistes obliegt, ist der Technologie näher als der Geistesgeschichte. Ort des Geistes in den Kunstwerken ist ihre technische Realisierung; der Stilbegriff, Komponisten wie Schönberg ebenso verdächtig wie der Philosophie, bietet dafür ein bloßes Surrogat.
Wie sehr seine Vormacht, jedenfalls in der Musik, verschandelt, worauf allein es ankäme, zeigt sich darin, daß er die Frage nach der Qualität der Kunstwerke zurückdrängt. Sie ist von der nach dem Wahrheitsgehalt untrennbar: dieser entscheidet über den Rang bedeutender Werke, doch einzig in seinem wie immer auch gespannten und widerspruchsvollen Verhältnis zum Realisierten. An der geisteswissenschaftlichen Gleichgültigkeit gegen die ästhetische Qualität – Scheler hätte sie Wertblindheit genannt – mag bereits Riegls berühmte Kategorie des Kunstwollens einige Schuld tragen. Sie kann dazu mißbraucht werden, auch mindere Kunstwerke zu sanktionieren, wofern sie nur dessen Ausdruck – also eines Stilprinzips – seien, ohne Rücksicht auf ihre eigene Stimmigkeit. Dann fällt die ästhetische Qualität einem Relativismus anheim, der schon bei Dilthey mit der unkräftig hochtönenden Geistesgeschichte sich verband. Uneingestandene Komplizität waltet zwischen der Pedanterie eines akademischen Betriebs, der, unter dem Vorwand, nur ja nichts zu behaupten, was nicht hieb-und stichfest wäre, an die äußerlichsten, dem Inneren der Sache gleichgültigsten Tatbestände sich klammert, und einem Irrationalismus, der, vermummt als Schweigen vor schöpferischem Geheimnis, das Wesentliche aus sich ausschließt und es dem Gefühl und damit dem blinden Belieben überantwortet. Der Schein der Relativität des Ranges von Kunstwerken zergeht, sobald ihre Technologie, als Inbegriff ihrer Stimmigkeit, aufgedeckt ist. Die herrschende Barockideologie läßt davon wenig mehr erkennen. Ihre Exponenten stellen unbeirrt Bach und Händel nebeneinander, wie es kein Literaturhistoriker mehr mit Goethe und Schiller riskierte. Den kompositorischen Abstand zwischen beiden nimmt jeder Musiker, der sein Metier versteht, wahr; bereits Mozart sah sich dazu veranlaßt, bei der Bearbeitung des ›Messias‹, nach Schönbergs Wort, meterweise Sequenzen wegzuschneiden. Die Musikhistorie, die sich doch am Gehalt zu interessieren vorgibt, nimmt aus wertfreier Wissenschaftsgesinnung jenen Abstand nicht zur Kenntnis. Sie zieht ungeprüft die angenehm zuschauerhafte, konventionelle Ansicht vor, die beide, als polare Exponenten der gleichen Stilperiode, friedlich dieser subsumiert. Ebenso arglos werden Bach und Schütz in einem Atem genannt. Taubheit gegen Qualitäten erlaubt Anpassung an den geringsten Widerstand gesinnungstreuer Hörer, an die Konsumenten barocker bestsellers vom Plattenmarkt. Musikalische Manufakturen wie die Telemanns verschwimmen mit Bach, der zu Lebzeiten weniger beliebt war als jener. Allein schon um dem Verfall musikalischer Urteilsfähigkeit entgegenzuarbeiten, der auf die Barbarisierung des Hörens hinauslaufen muß, ist es an der Zeit, den ideologischen Mißbrauch des Barocks beim Namen zu nennen.
Die Einwände gegen den Historismus müssen weiter gehen als die alten gegen die Sterilität der Aufbereitung einst lebendigen Geistes zum toten Besitz. Je mehr der Historismus, zumal in der Musik, Vormundschaft über die künstlerische Praxis beansprucht, desto heftiger widerspricht er dem, was wiederherzustellen er sich anheischig macht. Daß das historisch Vergangene, das, so wenig es geradlinig Fortschritt gibt, auch seinen Untergang durch eigene Mängel sich verdiente, nicht aus dem Willen sich wiederherstellen läßt und am letzten aus jenem Bedürfnis nach einem Kosmos des Geistes, dessen Decke von der erstarkenden Produktivkraft gesprengt ward, ist keine weltanschaulich allgemeine, geschichtsphilosophische These. Die Unwiederherstellbarkeit des Vergangenen und Gestürzten konkretisiert sich an der Sinnwidrigkeit der restaurativen Versuche angesichts ihres Gegenstandes. Das legitime Verhältnis zu authentischen Kunstwerken der Vergangenheit ist Distanz, das Bewußtsein ihrer Unerreichbarkeit, nicht die Einfühlung, die nach ihnen tastet und überschwenglich an ihnen frevelt. Der angeblichen Barockmusik widerfährt das unmißverständlich durch die historistische Interpretationspraxis. Die Musikhistorie selbst ist darauf gestoßen, und bestätigt es in einigen ihrer letzten Publikationen, daß Instrumentation im Sinn des seit dem neunzehnten Jahrhundert geltenden Begriffs damals noch nicht existierte. Was man barocken Klang nennt, ist nicht durchs kompositorische Subjekt hindurchgegangen, gehorcht keiner Imagination, welche die Farbe als Kompositionsmittel eigenen Rechtes behandelt hätte. Jener Klang war vielmehr das Resultat des Verfügbaren, insofern gewiß historisch necessitiert, aber vom einzelnen Werk aus gesehen zufällig. Die Vielfalt an Instrumenten, die manche an der Epoche lockt, entsprang nicht der Idee einer musikalischen Farbenskala, sondern dem außermusikalischen Stand einer gleichsam anarchischen Technik des Instrumentenbaus. Die Menge an Instrumenten und Instrumententypen nahm ab mit der kritischen Rationalisierung, welche in der gleichen Epoche, der der temperierten Stimmung, einsetzte. Die Klangfarben, die mit Gusto wiederbelebt werden, sind trüb, dürftig und durch reinere und leuchtkräftigere überholt. Sie waren der Musik ihrer Zeit keineswegs wesentlich derart wie die Ventilhörner oder die Klarinettenfamilie dem Orchester des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Daß Bach zwei seiner reifsten Werke, das ›Musikalische Opfer‹ und die ›Kunst der Fuge‹, der instrumentalen Realisierung nach überhaupt nicht oder nur teilweise fixierte, ist dafür der sinnfälligste Ausdruck. Erlaubt ist, darüber zu spekulieren, ob jene Notation als »Musik überhaupt«, die der modernen Praxis so viel Kopfzerbrechen bereitet, nicht am Ende dem kritischen Bewußtsein des Genius entsprang, das Vorgestellte sei mit den ihm verfügbaren Klangmitteln nicht zu verwirklichen – eine Schwierigkeit, der die jüngsten Komponisten, die nach »Ideogrammen« suchen, abermals sich gegenüberfinden. Angesichts dieses Sachverhalts wäre es unsinnig, Musik aus dem siebzehnten und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts instrumental so aufzuführen, wie es damals Usus war. Allein schon die Freiheit, die das Continuoprinzip der harmonischen Improvisation ließ, zeugt gegen die Verbindlichkeit des in der Generalbaßmusik gängigen Klangs. Historische Authentizität frommt wenig, wo die Idee eindeutig-authentischer Komposition noch nicht voll etabliert ist. Im Namen werkgerechter Treue begibt man sich ungewollt, vom anderen Extrem her, in dieselbe Sphäre des Kostümierten, der angestrahlten Musikfest-Musik, gegen die man als romantisch eifert. Solche vermeintliche Treue wird zur Untreue dadurch, daß sie, was sie rein wiederzugeben wähnt, verhüllt und unterschlägt: jene strukturellen Momente, welche die Kunsthistoriker als das Wesen des visuellen Barocks bestimmten und von denen die kompositorische Qualität abhängt. Die respektvolle Langeweile, die heute so viel masochistisches Entzücken bereitet, hat ihren objektiven Grund. Die barockisierende Wiedergabe hält das, was in der Musik selbst sich zuträgt, ihr Geäder, das Subkutane, geflissentlich unhörbar. Aktuell wären allein Interpretationen, welche bei Bach das spezifisch Komponierte, also die latenten, bis in ein unendlich Kleines sich erstreckenden Motivzusammenhänge ebenso zur Evidenz erhöben, wie Riegl zufolge die struktiven Momente in großer bildender Barockkunst die Erscheinung determinieren, in ihr gegenwärtig sind. Das keusche Argument, es müßten jene struktiven Momente für sich selbst wirken, die Interpretation dürfe sie nicht entblößen, sondern das musikalische Phänomen rein von aller interpretativen Differenzierung sprechen lassen, trügt. Die idiomatische, sprachähnliche Seite aller tonalen Musik – und kaum eine war so sehr von der Tonalität bestimmt wie die des Generalbaßzeitalters, deren Zeichensystem ja Abbreviatur der tonalen Ordnung ist – verlangt nach sprachähnlicher Artikulation oder, wie Kolisch es nennt, Interpunktion. Strukturelles Musizieren, kulminierend in Neuinstrumentationen wie der Webernschen der sechsstimmigen Ricercata, tilgt den Aberglauben an die vom Wesen säuberlich getrennte Erscheinung. Wer auch nur phrasiert, wie es unterdessen die besten Cembalisten als unerläßlich empfinden, unterschreibt einen Vertrag, dessen Konsequenz nicht weniger verlangt, als die Grenze jener Übungen zu verletzen, die das zu allem anderen auch noch fiktive Ideal der Nachahmung der alten Praxis aufrichtet. Würde von der Musik nur die Erscheinung, unter Verzicht auf ihre struktive Verdeutlichung, wiedergegeben, so resultierte Galimathias, Prototyp dessen, was einmal das Wort unmusikalisch ganz wohl umschrieb. Große Musik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts adäquat, nämlich ihrem eigenen Sinn gemäß aufführen, heißt soviel, wie mit ihrer eigenen Kraft zerbrechen, was bloß Stil ist an ihr. Das erst wäre die verdiente Rache für den Mißbrauch des Stils.
Als der Barock, gleichzeitig mit dem beginnenden Jugendstil, wiederentdeckt wurde, reklamierte man ihn, nach Riegls Wort, als »Vorstufe der modernen Kunst«. Nach mehr denn einem halben Jahrhundert ist daraus das Gegenteil geworden, das unheilvolle Wunschbild einer heilen Welt. Darum stehen die Kategorien Subjektivität und Objektivität für jene Epoche abermals zur Kritik. Jene recht leere Formel von der Gegensätzlichkeit als dem Barockprinzip ist kein Freibrief dafür, vom Barock so simpel Kontradiktorisches zu behaupten wie einerseits, Subjektivität sei gegenüber dem Formkanon erstarkt, andererseits, nach der unsäglichen Formulierung eines wohlbestallten Literarhistorikers, in der Dichtung des deutschen Barocks sei die Subjektivität noch nicht »zum Zuge gekommen«. Der Kardinalfrage nach dem Barock kann sich nähern nur, wer der rohen Alternative von subjektiv und objektiv nicht sich beugt, auch nicht mit einem vorsichtigen Einerseits-andererseits sich abspeisen läßt, sondern die dialektische Vermittlung beider Momente erkennt. In der Musikwissenschaft fehlt es nicht an Hinweisen darauf. Blume hat in seinem grundsätzlichen Aufsatz über die Musik des Barocks diese als Gegenschlag gegen die Selbstgesetzlichkeit der während der Renaissance entstandenen gedeutet; dem rein immanenten musikalischen Gefüge opponierten »teils die Nachbildung äußerer Vorbilder (Bewegungen, Geschehnisse, Geräusche usw.), teils der Ausdruck innerer Erregungen (seelische Zustände, Affekte)«15. Er betrachtet Nachahmung und Affektenlehre als Schlüsselkategorien der Generalbaßmusik, wie es im übrigen durch die Ästhetik der Zeit und die musikalischen Manifeste seit Caccini reich belegt ist. »Ein Hauptmittel für die Entwicklung eines affektiven Stils«, fährt Blume fort, »wurde die konsequente Anwendung der Rhetorik auf die Musik.«16 Damit fraglos ein primär subjektives Moment. Musik will sprechend werden wie Menschen. Indem jedoch die musikalische Rhetorik an die tradierten Figuren der Rede sich anschließt, empfängt sie sogleich, vermöge der Zuordnung der einzelnen musikalischen Figuren, die nach Blume etwa dem Motivbegriff entsprechen, zu den rhetorischen, formelhafte Züge17. Mit der Subjektivierung der Musik geht von Anbeginn ihr Gegenteil zusammen, musikalische Topoi. Sie durchwachsen dann den gesamten Wiener Klassizismus. In gewissem Sinn könnte man ihn die aufs kunstvollste gesteigerte und durch den Schein permanenten Werdens verborgene, gleichwohl kaleidoskopartige Kombination solcher Formeln nennen. Von ihren Archetypen in der älteren Affektenmusik wichen sie gar nicht so radikal ab, bis die Romantik gegen die kompositorischen Topoi zunehmend empfindlich ward. Die Subjektivierung der Musik und die Ausbreitung eines mechanischen Elements in ihr wären demnach nicht von verschiedenen Seiten hergekommen und hätten sich dann verbunden, sondern sind im Ursprung zwei Seiten des Gleichen, wie die Einheit der Extreme Subjektivierung und Verdinglichung in der neueren Philosophie. Bei Descartes waren, um die Wende des sechzehnten Jahrhunderts zum siebzehnten, die befreite Selbstgewißheit des denkenden Ichs und der Zwang des Mechanismus einander gesellt. Die musikalischen Topoi schlugen Brücken zwischen dem affektiven und dem tektonischen Moment. Weil sie dem Affektiven als dessen Spielmarken ebenso Gewalt antun, wie die Affekte ihrer als Repräsentanten im objektivierten Kunstwerk bedurften, trug der letzte gelungene Stil Male des Mißlingens. Was Riegl am visuellen Barock konstatierte, der Konflikt von Willen, also Entäußerung zur Objektivität, und Empfindung, dem Fürsichsein des Subjekts, kurz das Auseinander von Innen und Außen, wird zum antagonistischen Wesen auch der Musik. Es bedingt den überwertigen Schein ihres geschlossenen An sich auf Kosten jenes Subjekts, das die Geschlossenheit stiftete; je gefügter die Oberfläche der Werke, desto zerrissener, was sie verbirgt. Das Subjekt, das Objektivität zu seiner Sache, womöglich das Wirkliche zu seinem Produkt macht, vergißt sich in diesem. Geronnen, verselbständigt, fetischisiert tritt das Produkt dem Subjekt gegenüber. Die Objektivität des Selbstgemachten übertäubt, daß es bloß selbstgemacht ist. Rationalität ihrerseits, wie sie im neueren Zeitalter Erkenntnis durchherrscht, legt sich aus im Sinn einer Gesetzlichkeit, die sich nach den Kriterien des Notwendigen und Allgemeinen richtet, mit ihnen dem lebendigen Subjekt sich entfremdet und es unterdrückt. Dieser Prozeß ist keiner der isolierten philosophischen Reflexion, sondern reicht bis in die Grundschicht der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und damit der historischen Erfahrungen der Menschheit. Er durchdringt auch die Kunst; nur ist er in ihr, die der vom Subjekt vergegenständlichten Welt das Bild unmittelbaren Lebens entgegenhält, minder offenbar. Das Subjekt, das, tastend nach seiner bürgerlichen Autonomie, sich selbst aussprechen will und, um dazu fähig zu sein, das vorgegebene objektive Idiom zerschlägt, braucht ein solches Idiom, um sich mitteilen zu können, und hat doch so wenig eine Sprache der Freiheit, wie es wirklich frei ist. Es muß sich erst das Idiom erschaffen oder es fingieren kraft jener Rationalität, welche die bürgerliche Emanzipation ermöglichte und wiederum das Vakuum ausfüllen sollte, das durch die bürgerliche Emanzipation mit dem Sturz des mittelalterlichen ordo entstanden war. Das verurteilt das neue Idiom zu jenem Charakter des äußerlich Gesetzten, Starren und Klappernden, an dem die musikalischen Topoi seit dem siebzehnten Jahrhundert kranken; ihn loszuwerden, war die Arbeit musikalischen Fortschritts seitdem. Die Objektivität, die an der Barockmusik so viele als Trost empfinden, war veranstaltet und stets schon trügend. Der kollektive Hang zu ihr mag damit sich erklären, daß im gegenwärtigen Stand des Bewußtseins, dem in drei Jahrhunderten bis zum Äußersten gesteigerten Nominalismus, solche im Innersten usurpatorische Objektivität den Menschen auch politisch zum geheimen und verhängnisvollen Wunschbild wurde. Im Barock sprechen sie an auf das Urphänomen jener mit dem Subjektivierungsprozeß verklammerten dinghaften Ordnung, die am Ende aus der verwalteten Welt sieghaft ihnen entgegengrinst. Der Barock rechtfertigt sie ihnen als intakte Gestalt aus der Vorzeit; von ihm erborgen sie die Aura von Sinn. Die klobigen oder schnurrenden Motive, an deren Ablauf die regressive Sehnsucht sich stillt, sind Formeln einer kollektiven Übereinkunft, deren eigenes Prinzip jenes Verpflichtende desavouiert, das sie bekunden. Insofern weist der von Blume eingeführte Begriff einer Heteronomie der Barockmusik über das an Ort und Stelle Gemeinte hinaus. Er wäre kritisch zu wenden. Mißbrauch mit dem Barock treibt, wer aus Autonomie jenes Heteronome wählt, Unfreiheit aus halbwahrer Freiheit heraus, der keiner recht traut. Dem kritischen ästhetischen Bewußtsein nicht weniger als der Entzauberung der Welt fiel das Ornament zum Opfer. Das ohnehin geschwächte Bewußtsein der Menschen möchte mit jener Welt sich abfinden: sie blieb als entzauberte die dinghafte, eine von Waren. Der Barock steht ihnen ein fürs verdrängte und ersehnte Ornament, und macht ihnen dabei als Stil, der das Ornament gestatte und erheische, das gute Gewissen. Aber das vermeintlich unbeschädigte Ornament, zu dem sie flüchten, ist Ausdruck des gleichen Prinzips, vor dem sie die Flucht ergreifen. Die Einheit des Bürgerlichen und Absolutistischen, die sie zum Barock zieht, steht ihnen als Gleichnis jener tödlichen Ordnung vor Augen, in der die Verflechtung der bürgerlichen Gesellschaft umschlägt in totale Unterdrückung.
Fußnoten
1 Die Fackel, XXVII. Jahr, Nr. 697–705, Oktober 1925, S. 86.
2 Friedrich Blume, Syntagma musicologicum. Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. von Martin Ruhnke, Kassel, Basel, London u.a. 1963, S. 73.
3 Alois Riegl, Die Entstehung der Barockkunst in Rom. Aus seinem Nachlaß hrsg. von Arthur Burda und Max Dvorák, 2. Aufl., Wien 1923, S. 3.
4 a.a.O.
5 G.F. Hartlaub, Fragen an die Kunst. Studien zu Grenzproblemen, Stuttgart o.J., S. 165.
6 a.a.O., S. 169.
7 a.a.O., S. 168f.
8 a.a.O., S. 171.
9 a.a.O., S. 182.
10 a.a.O., S. 170.
11 Blume, a.a.O., S. 78.
12 a.a.O., S. 77.
13 a.a.O., S. 76.
14 a.a.O., S. 79.
15 a.a.O., S. 80.
16 a.a.O., S. 81.
17 Vgl. a.a.O.