Maria Proelss
Vor wenigen Tagen ist Maria Proelss, zweiundsiebzigjährig, gestorben. Als Hinweis auf das, was sie war, drängt sich zunächst das arg abgegriffene und allgemeine Wort Künstlerin auf. Der Arbeitsteilung der Kunstgattungen fügte sie sich nicht, eine jener Frauen von starker ästhetischer Begabung, die sich der Spielregel entziehen, man müsse für etwas Besonderes eindeutig begabt sein. Maria Proelss hat aus diesem weiblichen Privileg, dem Naturell nach und in der Lenkung der Arbeit, mit aller Konsequenz die Pflicht zum Ungeteilten herausgelesen, ohne die geistige Not zu fürchten, in die eine solche Verhaltensweise verstrickt. Ihr Ausdrucksbedürfnis überwog die Fixierung an irgendein Material und seine Technik. Schweifender Drang, ein im bedeutenden Sinn chaotisches Element verband sich mit scharfer Selbstbeobachtung; in Augenblicken von jähem, explosivem Humor schlugen die Spannungen ihres Wesens Funken.
Zunächst war sie Musikerin, Pianistin. Von ihren akademischen Lehrern wirkte keiner nachhaltig auf sie; der einzige, dem sie viel verdankte, war Carl Friedberg. Höchst unkonventionell spielte sie Klavier: ohne Rücksicht, einzig aus dem Bedürfnis heraus, den Sinn der Musik zu realisieren. Ihm ordnete sie die technische Erscheinung gänzlich unter: erkannte Technik unabhängig vom je Darzustellenden kaum an, in schroffem Gegensatz zu den positivistischen Stromlinienmusikern, die in den letzten vierzig Jahren obenauf kamen. Was ihr vorschwebte, nannte sie mit Vorliebe »fluidieren«.
Ihre Musikanschauung entsprang in der deutschen Romantik, in Schumann; zum labyrinthisch Dunklen, maßlos sich Verschwendenden fühlte sie tiefe Wahlverwandtschaft. Die erstreckte sich auch auf Max Reger. Für ihn setzte sie, wie man so sagt, viele Jahre lang passioniert sich ein; eine der wenigen, welche der formidablen Aufgabe des Klavierkonzerts sich stellte. Wie die seine, zeigte ihre musikalische Haltung ein Retrospektives, aber nicht Reaktionäres; so als wollte sie die Sphäre, für welche die Kategorie des Subjektiven sich eingeschliffen hat, erretten vor der stetig sich ausbreitenden Verdinglichung des Musikalischen. Apologetik, kunstpriesterliche Berufung aufs vorgeblich Unverlierbare waren ihr fremd. Sie wußte und spürte nur allzu gut, wie verlierbar es ist, und strengte verzweifelt fast sich an, durch äußerste Expression, auf Kosten aller Glätte und alles bloß Angenehmen, dem Mechanischen sich entgegenzuwerfen, wie kraft rauschhaften Opfers das früh Geliebte zu erwecken. Daß diese Musikgesinnung, die dem Perfektionsideal so wenig entsprach wie dem des Genusses von Bildungsgütern, es schwer hatte mit den approbierten Geschmacksrichtungen, versteht sich; sie war dagegen höchst gleichgültig. Doch hat sie selbst organisatorisch, im Frankfurter Musikleben, etwas verwirklicht. Sie gründete und leitete die »Frankfurter Kammermusikgemeinde«, eine nach Programm und Interpretationsstil vom offiziellen Musikleben durchaus abweichende Institution. – Wollte man wenigstens eine Vorstellung von ihrer Absicht vermitteln, so wäre wohl Furtwängler zu beschwören. Ihre Pianistik war den Impulsen seines Dirigierstils ähnlich.
Während des zweiten Weltkrieges wurde sie, Tochter einer jüdischen Mutter, aufs schärfste verfolgt und konnte nicht mehr öffentlich konzertieren. Nicht das jedoch, sondern ihr vielgestaltiger Ausdrucksdrang dürfte die bereits sehr reife Frau dazu gebracht haben, zur Malerei überzugehen. Mir steht kein Urteil über ihre Bilder zu, aber ich habe vor allem von der Spontaneität der ersten einen außerordentlichen Eindruck empfangen und bewundert, wie virtuos sie weiterhin die Mittel sich zueignete. Auch die malerische Handschrift war individuell und unkonventionell; am ehesten wohl vergleichbar dem Fauvismus der ersten Jahre des neuen Jahrhunderts. Auf den Kreis der Maler am Bodensee hat sie stark gewirkt.
Maria Proelss war eine Nachgeborene des Typus der romantischen Frau, anachronistisch als eine, die nicht sich anpaßt, dabei frei und autonom, ohne jegliche Beimischung provinzieller Geborgenheit. Was solchen Menschen zu danken ist, wird offenbar erst in einer Epoche, welche die letzten Voraussetzungen dafür kassiert, daß ihresgleichen geboren werden und existieren. Nichts bleibt übrig als ohnmächtige Trauer nach einem Tod, der bis in den Verlauf der Krankheit hinein sinnlos scheint und überflüssig. Sie ist begraben auf dem Waldfriedhof in Oberrad.