Über die musikalische Verwendung des Radios
In den frühen zwanziger Jahren, als das Radio allgemein sich einbürgerte, war viel von rundfunkeigener Musik die Rede. Diese sollte besonders leicht und transparent gesetzt sein; nicht nur das Massive sondern alles Komplexe galt für schlecht übertragbar. Einzelne Klangfarben wie die der Flöte stächen derart heraus, daß man sie besser vermiede. Solche Regeln erinnerten oberflächlich an die gleichzeitigen materialgerechten Bauens und materialgerechter Zweckformen, liefen in Wahrheit jedoch parallel den Parolen gemeinschaftsfreudiger Simplifizierung, die um die gleiche Zeit, als Reaktion aufs Befremdende der neuen Musik, lanciert wurden. Die technologische Begründung lieh sich jener sozialen Ideologie, die auf den Kunden – also die Menge der Hörer und das Hörbild, das sie empfangen – sich beruft, um sie dem verfügenden Willen um so geneigter zu machen und der Konformität, die jener meint. Längst sind die damaligen Beschränkungen, die übrigens nur in bescheidenstem Umfang Versuche einer rundfunkeigenen Musik veranlaßten, gefallen. Die Technik hat, über die Etappen der frequency modulation und der stereophonischen Verfahren, Fortschritte gemacht, welche prinzipiell die täuschend ähnliche Sendung jeglicher Musik erlauben. Mit den besten zeitgenössischen Empfangsgeräten und in einem großen und akustisch einigermaßen geeigneten Raum kann man gute Aufnahmen von Opern oder symphonischer Musik so hören, daß selbst das Vorurteil des hartgesottenen Fachmanns wenig zu beanstanden findet. Anstatt daß er über den akustischen Konservengeschmack klagen muß, darf er sich freuen, der Hemmungen und Ablenkungen ledig zu sein, von denen er in Konzerten und verwandten öffentlichen Veranstaltungen geplagt wird. Das technisch Vermittelte gewinnt eine Leibnähe, welche die Unmittelbarkeit der lebendigen Aufführung oft dem gerade versagt, der auf konzentrierte Wahrnehmung aus ist. Über rundfunkeigene Musik wird nirgends mehr gestritten; ebensowenig gefragt, ob nicht etwa die Schallplatte, die durch die Langspieltechnik mittlerweile fast der gesamten Literatur offen ist, eigene musikalische Formen verlangt. Die Reflexion aufs Verhältnis von Technik und Musik hat dorthin sich verzogen, wo Gewohnheit und Zwang des approbierten Kulturbedarfs noch nicht hinreichen, in die Elektronik. Die musikalischen Massenmedien aber verhalten sich, mag der triviale Vergleich noch so sehr hinken, zu ihrem Material wie der Film zum Theater, sobald jener, wie Reinhardt und Olivier es versuchten, einfach Theatervorstellungen photographiert. Das Unbehagen am gefilmten Hamlet hat vor der aus dem Radio tönenden Neunten Symphonie niemand noch geäußert.
Anlaß dazu wäre genug. Radioübertragungen traditioneller, in Kategorien der lebendigen Aufführung konzipierter Musik sind grundiert vom Gefühl des Als ob, des Uneigentlichen. Ihnen prägt das Radio einen Bildcharakter auf, der in Mitleidenschaft zieht, wodurch Musik von den herkömmlicherweise nachahmenden optischen Künsten und denen des Wortes sich unterschied. Noch vor zwanzig Jahren gab es dafür ein handgreifliches Indiz. Radiomusik erschien wie auf einem Hörstreifen, begleitet von einem kontinuierlich gleitenden Geräusch. Es wirkte wie akustisches Zelluloid, auf das die Musik aufgedruckt war. Das suggerierte sinnlich, man vernehme nicht sie selbst sondern ihre Photographie, vermittelt durch ein Drittes. Mehr noch als die Veränderungen von Tonstärke und Klangfarbe mochte der Hörstreifen den Neutralisierungseffekt bedingen, den die Rede vom Konservengeschmack meint. Die Zweidimensionalität älterer Radiosendungen, ihr Mangel an Raumtiefe, ist vermutlich nicht bloß physikalisch durch den Verlust entfernter mitschwingender Obertöne verursacht sondern auch durch die Assoziationen, die der Hörstreifen mit sich führt, die Gestaltqualitäten, die mit ihm einschnappen; vorweg scheint er die dritte akustische Dimension auszuschließen. Phantasievolle Experimente vermöchten wohl, derlei Zusammenhänge aufzuklären. Tonphysiologisch ist der Hörstreifeneffekt durch die verbesserten Apparaturen sehr gemildert, wenn nicht abgeschafft worden, obwohl er zuweilen, etwa bei der Übertragung lebendiger Konzerte, überraschend wiederkehrt; unter den Motiven technischen Fortschritts in der Kunst ist nicht das letzte das dialektische: durch Technik gutzumachen, was Technik frevelte. Psychologisch aber dürfte jener Effekt überleben. Bei einer Rundfunkaufnahme sagte ich einmal, nach dem Ende eines Liedes, ein paar Worte, die noch aufs Band gerieten. Der Aufnahmeleiter bat spontan, und sicherlich mit Recht, um Wiederholung der Aufnahme; hätte man meine Worte weggeschnitten, so wäre der Schluß des Liedes zu abrupt gewesen. Eine Differenz herrscht zwischen dem leer auslaufenden Band und der bandlosen Zeit; sonst könnte ein solcher Schnitt nicht als gewaltsam empfunden werden. Das Bedürfnis, die Aufnahme im Leergang noch eine Sekunde weiterlaufen zu lassen, verweist auf ein ihr spezifisches Medium, verwandt dem Hörstreifen und jenem schabenden Geräusch, das heute an alten Schallplatten stört und rührt.
Authentizität, Selbstheit des Phänomens im wörtlichsten Verstand, wird im Radio von einem Sachverhalt in Frage gerückt, der dem technischen Fortschritt gegenüber indifferent ist und mit musikalischer Massenproduktion ex definitione zusammenfällt. In einem Aufsatz im ›Anbruch‹ von 1930 hat Günther Anders den Schock der Ubiquität beschrieben, den einer erlebt, der auf der Straße gehend aus einer Lautsprecherquelle Musik vernimmt und aus der nächsten die Fortsetzung1. Gewohnheit mag gegen den Schock abgestumpft haben; was ihn auslöste, befremdet heute kaum minder. Alle vorphonographische Tradition der Musik, und ihr Niederschlag in der Verhaltensweise des Hörers, heftet sich unausdrücklich, und darum nur um so stärker, ans hic et nunc, die Gegenwart eines Unverwechselbaren und Unaustauschbaren. Die Erhebung der Musik über das alltägliche Dasein, ihr Pathos, ist dem verschwistert. Daß die musikalische Erfahrung ihren emphatischen Charakter verlor und einzig im Extrem ihn wiedererwirbt, ratifiziert geschichtlich, was die Ubiquität, die beliebig herstellbare Allgegenwart ein und derselben Musik an zahllosen Raumstellen deren Sinn selber antut. Aufs Gleiche zielt allgemein-ästhetisch Benjamins Distinktion zwischen dem Kultwert des Kunstwerks und seinem Ausstellungswert in ›L'oeuvre d'art à l'époque de sa reproduction mécanisée‹2. Jener werde durch die Emanzipation des Kunstwerks von seinem Ort und seiner Stunde liquidiert. Es verliere seine Aura. Musik war, bis in die jüngste Phase hinein, die auratische Kunst schlechthin; offen ist, ob sie, Gegenwart eines sogleich Entschwindenden, dieses Moments überhaupt ganz sich entäußern kann. Von den optischen Künsten unterschied sie sich wesentlich auch darin, daß sie des lebendigen Vollzugs bedurfte; nicht ebenso hatte sie teil an der Vergegenständlichung wie die Plastik, die schon in der Antike sich nachbilden, wie das literarische Gebilde, das von je sich abschreiben ließ; sie verharrte im Bann des emphatischen Augenblicks. Selbst die fixierten musikalischen Notentexte blieben in der gesellschaftlichen Praxis Anweisungen auf die Ausführung an spezifischem Ort und zu spezifischer Stunde. Einzig den wenigen handwerklich Zuständigen wurden sie von der Aktualisierung unabhängig. Nicht umsonst haben noch die Meister der spätmittelalterlichen Polyphonie der Nachwelt keine Partituren anvertraut; sie hätten das wohl der Profanierung gleichgeachtet. Selbst um 1920, als es schon längst Platten gab, hörte das Kind das Symphoniekonzert, in das man es mitnahm, als ein feierlich Einmaliges, nicht als Duplikat eines Gedruckten.
Benjamins groß einfacher und fruchtbarer Einsicht dürfte gerecht werden nur, wer sie weitertreibt. Daß die traditionelle Kunst, vor ihrer technischen Reproduzierbarkeit, jenes reine hic et nunc ebenso bereits erschüttert hatte, wie umgekehrt – als Hauch von Verwesung – die Aura von der Massenreproduktion beschlagnahmt und synthetisch hergestellt wird, besagt allein nicht viel. Der deplacierte Kuß in der Großaufnahme bestätigt eher Benjamins Theorie, als daß er sie widerlegte, und aus den früheren Ansätzen zur mechanischen Reproduktion könnte durch deren Quantität die neue, bestürzende Qualität ruckhaft erst herausgesprungen sein. Aber der Gegensatz als solcher ist nicht undialektisch zu denken. Das mechanisch reproduzierte Kunstwerk ist nicht einfach die Negation des auratischen als eines kultischen. Das Kunstwerk verneint, seit es autonom ward, den Kultwert, von dem es zehrt und den es säkularisiert. Protest des von fortschreitender ratio zugerichteten Naturwesens gegen dessen Unterdrückung, ist es doch nur vermöge seiner Teilhabe am geschichtlichen Gesamtprozeß der Rationalisierung solchen Protests mächtig. Daher verschwindet das magische Element nicht einfach in der Phase der manifesten ästhetischen Rationalität, sondern wird als negiertes in dieser aufbewahrt. Die Distanz des Ästhetischen zur empirischen Realität, ohne die der Begriff des Kunstwerks selbst hinfällig wäre, ist Verwandlung jener Transzendenz, wie sie das auratische Kunstwerk – nach Benjamins Wort die Erscheinung eines Fernen als Nähe3 – einmal verkörperte. Die Geschichtsphilosophie der Kunst hat die Stufen solcher Dialektik, die Perspektiven ihrer Tendenz zu entwerfen. Sie kann sich nicht bei dem abstrakten Unterschied des Sakralen und Weltlichen bescheiden; der rein zu Ende gedachte Gedanke des versachlichten Kunstwerks höbe dessen Möglichkeit selbst auf in eine als real zwecklose, sogleich absurde Wissenschaftlichkeit.
Der offizielle Fortschrittsglaube des Geschäfts ergeht sich in triumphalen Pronunciamentos, durchs Radio werde große Musik solchen gebracht, die zuvor, sei's ökonomisch, sei's auch bloß geographisch, von ihr ausgeschlossen waren. ›Music goes into mass production‹ nannte sich ein Aufsatz, der in Harper's Magazine 1939 erschien. Er setzte die quantitative Expansion ernster Musik umstandslos dem kulturellen Aufschwung gleich. »Die Farmersfrauen in den Präriestaaten«, hieß es darin, »hören große Musik in Aufführungen großer Künstler, während sie ihre morgendliche Hausarbeit besorgen.« Wer von der Aussicht darauf nicht sich begeistern läßt, setzt auch heute dem Verdacht elitär kulturkonservativer Gesinnung sich aus. Ein Tabu verhindert zu fragen, ob nicht der partikulare Fortschritt in der Verteilung von Kulturgütern, bei sonst unveränderten Verhältnissen der gesellschaftlichen Produktion, Kultur verschachere und weniger zur aufklärenden Befreiung des Bewußtseins beitrage als zur Verhärtung der Ideologie. Demgegenüber ist das objektive Verhältnis zwischen der Massenproduktion und dem zu durchdenken, was reproduziert wird. Bereits im Äußerlichsten weicht die Darbietung vom Sinn des Dargebotenen ab. Quantitativ gehäufte Musik tendiert wie die Überproduktion von Konsumgütern überhaupt zu dem, was man in der Sprache der zeitgenössischen Jugendpsychologie Reizüberflutung zu nennen sich gewöhnt hat. Unter gesellschaftlichen Gesamtbedingungen, denen Wert und Seltenheit von Luxusgütern Synonyma sind, mißachten die naiv Wahrnehmenden vorweg, was ihnen unbeschränkt und fast gratis ins Haus geliefert wird. Die Programme, zwischen denen der achtlose Druck ihres Fingers entscheidet, gleichen der zugleich unverbindlichen und starr regulierten Auswahl von Standardgütern auf dem Supermarket sich an. Die Menge des auf sie Einströmenden duldet schwerlich die Spontaneität und Konzentration, die einzig ihnen öffnete, was die Sache selbst, jenseits von Marktkategorien, ihnen allenfalls noch zu sagen hätte. Die Bedingungen des gewohnten Privatlebens, unter denen sie das Radio andrehen, machen die Unterscheidung des Gehörten von anderen nichtigen Informationen fast unmöglich; die Koordination der Hörgewohnheiten jener wie immer auch mythischen Farmersfrauen mit ihren häuslichen Pflichten wird ihnen vollends verwehren, derart dem Gehörten sich zu widmen, wie ihre gepriesene Integration in die Kultur es erheischte. Die Unabgehobenheit der Musik vom Milieu hindert die Farmersfrau daran, jene ihr ungewohnte Distanz zu gewinnen, jenen Nachdruck zu erfahren, an dem der Sinngehalt der kompositorischen Tradition haftete. Von der Anstrengung dispensiert sie der technische Komfort; das Gehörte wird ihrer Willkür untergeordnet, ist zu ihrer Verfügung, ein Für anderes, nicht länger ein An sich. Dadurch wird sie um das gebracht, was man ihr mit der Noblesse der Reklame spendet. Während sie glaubt, das Beste sei gerade gut genug für sie, hat sie es schon versäumt.
Die Analyse dessen, was aus der losgelassenen offiziellen Musikkultur wird, setzt beim musikalisch Erscheinenden ein, der Radiosituation, in der Technologisches mit Sozialem, Ökonomischem, Psychologischem sich vermischt. Technik selber läßt, als gesellschaftlich produziertes Medium geistiger Erfahrung, von ihrem gesellschaftlichen Standort nur dogmatisch sich isolieren. An ihren Effekten, welche die Arglosen und ihrem Bewußtseinsstand nach hinter ihr Zurückgebliebenen allerorten zu beobachten glauben, trägt Technik nicht als solche Schuld, sondern nur kraft ihres sozialen Stellenwertes. Standardisierung etwa hat ihre technische Ursache im Ausgang des massenverteilten Produkts von einer Stelle, welche alle mit Identischem beliefert; was aber daraus wird, die virtuelle Standardisierung des Bewußtseins, hängt ebenso ab von dem System, innerhalb dessen die standardisierten Reize ausgestrahlt werden: von der Herrschaftsgewalt hinter den Kommunikationsmedien, den Hörbedingungen und sedimentierten Verhaltensweisen derer, die darauf ansprechen. All das wandert gleichsam in die primäre Erfahrung, die Radiosituation ein, ist nicht deren Akzidens. Ob Standardisierung den Menschen das antäte, was man heute von ihr argwöhnt, sobald sie nicht länger ideologisch gelenkt wäre und an ein falsches Bewußtsein anknüpfte, ist unabsehbar. In Bereichen wie der Verkehrsregelung ist sie höchst unschuldig. Der Glaube, es läge an der Technik selbst, den allemal der mittlerweile selbst automatisierte Aberglaube an den Menschen kontrapunktiert, gehört demselben Fetischismus an wie der verdinglichte Zustand, über den die Feinde der Technik sich entrüsten. Ideologische Phänomene sind einzig noch im Gesamtprozeß zu dechiffrieren. Zirkulation und Konsum wirken im dichtgefügten System allgemein nicht nur auf die Menschen, aus denen die Gesellschaft besteht, sondern selbst auf die ökonomischen Determinanten zurück.
Modell eines Knotenpunkts wäre, was Symphonien vom Beethovenschen Typus im Lautsprecher widerfährt4. Eine Symphonie, die nicht ganz so gut sei, wie man es zu Unrecht den offiziell lebendigen Aufführungen der großen Konzertinstitute abkauft, gilt der communis opinio für besser als gar keine. Aber die Einheit des Kunstwerks, und gerade des traditionellen als eines strukturierten Sinnzusammenhangs, bedarf eines jeglichen Moments gleichermaßen. Der Rest an Richtigem, nach Abzug von Entstellungen, ist durch diese selber entstellt und umfunktioniert. Nur einer plump realistischen Ansicht vom Kunstwerk, die es nach Analogie des gängigen Unterschieds zwischen dem beharrenden Ding und seinen bloßen sinnlichen Abschattungen sich ausmalt, kann die Zwischenschaltung der Radiostimme bei einer Beethovensymphonie gleichgültig sein. Deren Form war, wie Paul Bekker zuerst hervorhob, nicht jene Sonate für Orchester, die als abstraktes Schema so bequem sich herausklauben läßt5. Spezifisch war ihr Intensität und Konzentration. Sie wurde erreicht durch dichte, konzise, faßliche Eindringlichkeit: die Technik motivisch-thematischer Arbeit. Kompositorische Ökonomie gönnte nichts dem Zufall, sondern deduzierte das Ganze virtuell derart aus kleinsten Einheiten, wie es dann die Reihentechnik buchstäblich möchte. Nicht aber wurde Gleiches statisch wiederholt sondern, mit dem Ausdruck, den Schönberg als Erbe des Verfahrens erfand, entwickelnd variiert. Die Symphonie spinnt in der Zeit ebenso das Nichtidentische aus dem Grundmaterial heraus, wie sie Identität in dem in sich selbst Unterschiedenen, sich Auseinanderwickelnden bestätigend enthüllt. Strukturell hört man – auch Georgiades hat das betont – den ersten Takt eines klassizistischen Symphoniesatzes erst, wenn man den letzten Takt hört, der ihn einlöst. Die Illusion der gestauten Zeit: daß also Sätze wie die ersten der Fünften und Siebenten Symphonie oder selbst der sehr ausgedehnte der Eroica bei richtiger Wiedergabe nicht sieben oder fünfzehn Minuten währen sondern nur einen Augenblick, ist ebenso von jener Struktur produziert wie das Gefühl des Zwangs, der den Hörer nicht ausläßt; der symphonischen Autorität als einer immanenten des Sinnes, schließlich des Umfangenseins durch die Symphonie, der ritualen Rezeption des Einzelnen in einem werdenden Ganzen. Die ästhetische Integration des symphonischen Gebildes ist zugleich Schema einer gesellschaftlichen. Bekker hat seit der Abhandlung über die Symphonie von Beethoven bis Mahler deren Wesen geradezu in ihrer »gesellschaftsbildenden Kraft« gesucht. Die Theorie greift sicherlich insofern fehl, als Musik, seit sie irgend rationalisiert und geplant ward, kein unmittelbarer Laut mehr ist, sondern in gesellschaftliche Zustände eingepaßt sich findet und in ihnen fungiert. Überhaupt vermag Kunst von sich aus keine realen gesellschaftlichen Formen zu setzen. Nicht sowohl gemeinschaftsbildend war Musik, als daß sie aus den Individuen die Ideologie, sie seien verbunden, hervorlockte, ihre Identifikation mit ihr und dadurch miteinander bestärkte. Das war, rationalisiert, der disziplinäre Segen, den schon Platon und Augustin empfanden. Die Symphonie feierte die arbeitende und antagonistische bürgerliche Gesellschaft als Einheit der Monaden für diese. Die Schule des Wiener Klassizismus, gleichzeitig fast mit der industriellen Revolution, integrierte im Geist der Epoche die zerstreuten Individuen, aus deren total vergesellschafteten Beziehungen ein harmonisches Ganzes hervorspringen sollte. Der ästhetische Schein selber, die Autonomie des Werkes, war zugleich Mittel im Reich der praktischen Zwecke. Tatsächlich reproduziert sich die Totalität des Lebens durchs Getrennte und einander Widersprechende hindurch. Dies Wahre verbürgte das ästhetische Gelingen; Trug war das Umfangensein. Es spornte an zu Hochgefühlen. Indem die symphonische Form so emsig das musikalische Detail wie den einzelnen Hörer umklammerte, übertäubte sie die Ahnung des unversöhnten Zustands. Jene Illusion zerfällt im Radio; es exekutiert die immanente Rache an großer Musik als Ideologie. Keiner, der in der bürgerlich-individuellen Situation der Privatwohnung die Symphonie hört, kann als leibhaft in der Gemeinschaft Geborgener sich verkennen; insofern ist die Zerstörung der Symphonie im Radio auch eine Entfaltung der Wahrheit. Die Symphonie wird zersetzt: was aus dem Lautsprecher tönt, widerspricht dem, was es selber war. Anstelle des Gedächtnisses ans wie immer leidvoll im Antagonismus sich erhaltende Leben tritt ein Abguß, in dem der Einzelne weder den eigenen Impuls mehr wiedererkennt, noch sich als Befreiten empfindet. Allenfalls imponiert er ihm heteronom und dient, mit seinem Bedürfnis nach Macht und Herrlichkeit, seiner Konsumentenpsychologie. Was einmal gesellschaftlich notwendiger Schein war, geht über ins gesellschaftlich gesteuerte falsche Bewußtsein der Einzelnen von sich und vom Ganzen, die Ideologie in die pure Lüge.
Am simpelsten zeigt sich das an der absoluten Dynamik der Symphonie, der Tonstärke. Das Modell einer Kathedrale im Format eines Tisches ist nicht bloß quantitativ sondern dem Sinn nach verschieden vom Original: wird die Proportion zum Leib des Betrachters modifiziert, so fällt all das fort, was noch dem Wort Kathedrale seine Leuchtkraft verleiht. Analog hängt die synthetische Kraft einer Beethovensymphonie zumindest teilweise vom Volumen des Klanges ab. Nur wenn dieser gleichsam größer ist als das Individuum, vermag es durchs Tor des Klanges ins Innere der Musik zu gelangen. Zur Plastizität des symphonischen Klangs, die dessen Sinn erst konstituiert, trägt aber nicht bloß die Klangstärke als solche bei sondern der Umfang der Skala vom Fortissimo bis zum Pianissimo; je schmaler dieser Umfang, je geringer die Möglichkeit dynamischer Kontraste, desto prekärer die Plastizität, tragende Erfahrung des symphonischen Raums. Kein technischer Fortschritt vertuscht den Verlust alles dessen im Radio. Einen Klang, der, wie im Konzertsaal, größer wäre als das Individuum, dulden die Hörbedingungen im privaten Zimmer nicht; wem es darum zu tun ist, etwa bei Werken, deren Qualität Kategorien eines Riesenorchesters voraussetzt wie Schönbergs Gurrelieder, muß in einem mit Lautsprecher versehenen Auto weit weg von bewohnten Gegenden fahren, um etwas irgend Ähnliches zu erlangen, und auch dann wird es wahrscheinlich verzerrt. Paßt freilich der Radioempfänger den akustischen und sozialen Hörbedingungen nicht sich an, beharrt er im Privatraum auf der originalen Dynamik, so durchbricht er bis heute noch die Neutralisierung. Dann aber verwandelt sogleich das Phänomen sich in wilden Protest, barbarisches Toben. Nicht nur widerspricht es kraß der Situation und ermutigt eifernde Nachbarn zum Telefonat, sondern ist dem Original so fremd wie andererseits dessen Gestalt der Zimmerpflanze. Kein Ausweg aus der Neutralisierung. Selbst durch das stereophonische Hören ist die raumhaft umfangende Funktion schwerlich zu restituieren. Von der Symphonie bleibt eine Kammersymphonie zurück, wie wenn der Weltgeist eigens dafür gesorgt hätte, daß gerade im Zeitalter der mechanischen Reproduktion die Kammersymphonie, und das Kammerorchester überhaupt, sich entwickelten. Die sinnlichen Modifikationen der Radiosymphonie trachten der Struktur nach dem Leben.
Die imago einer Schöpfung aus dem Nichts beim klassizistischen Typus der Symphonie aus Beethovens mittlerer Periode stellt sich her nur, wofern das Ausgangsmotiv, als Derivat des Dreiklangs weithin entqualifiziert, zugleich so nachdrücklich gespielt wird, daß es, ein an sich Nichtiges, den Aspekt höchster Relevanz für das annimmt, was darauf und daraus folgt. Die ersten Takte der Fünften Symphonie, richtig aufgeführt, müssen im Charakter einer Setzung, gleichsam eines freien Aktes ohne jede diesem vorgeordnete Materie vorgetragen werden. Technisch bedarf es dazu der äußersten dynamischen Intensität: Lautheit ist dabei kein bloß sinnliches Attribut; sie wird zur Bedingung eines Geistigen, des strukturellen Sinnes. Realisiert sich das Nichts der ersten Takte nicht sogleich als das Alles des ganzen Satzes, so wird an der Idee des Werkes vorbeimusiziert, ehe es nur recht anfängt; die Setzung mindert sich zum Belanglosen, die Spannung lädt sich nicht. Je weniger aber die Hörer – zumal die, welche hochtrabend vom Radio zur musikalischen Kultur eingeladen werden – vom unverstümmelten Werk etwas wissen; je ausschließlicher sie der Radiostimme ausgeliefert sind, desto bewußtloser und ohnmächtiger erliegen sie dem Neutralisierungseffekt. Aus der freundlichen Stütze der Erinnerung wird deren Feind, erinnerungslose Wahrnehmung. Die Struktur der Radiosymphonie polarisiert sich in einander Widersprechendes, das Banale und das Romantische: in jene Elemente, die dann in der leichten Musik ineinander übergehen, zu der die Radiosymphonie tendiert. Das kunstvoll Irrelevante der Urzellen, die bei Beethoven nichts an sich selbst, gleichsam nur Konzentrate des tonalen Idioms sind, das erst die Symphonie zum Sprechen bringt, wird, aus dem Zusammenhang herausgebrochen, zu jenem Gemeinplatz, als welcher das Anfangsmotiv der Fünften international-patriotisch auszuschlachten war; erregende Steigerungen aber oder melodisch profilierte Seitengedanken werden zu emotionalen Schablonen oder zu ominös schönen Stellen. Die intensive Totalität der Symphonie erschlafft zur chronologischen Folge von Episoden. Wohl ist die symphonische Intensität nicht ganz auszurotten, aus dem Einzelnen die Transzendenz zum Ganzen nicht vollends zu tilgen. Aber sie wird vergiftet. Die Trümmer erscheinen wie solche eines verwischten oder abwesenden Kontexts. Mit anderen Worten: wie Zitate. Deshalb bleibt es beim Bildcharakter der Musik. Nicht Beethovens Fünfte ist gehört sondern ein Potpourri aus ihren angeblichen Melodien, bestenfalls musikalische Information über die Musik, nicht unähnlich dem, worüber jener Besucher der Tell-Aufführung sich beschwerte, der das ganze Schauspiel nur aus Kernsprüchen zusammenaddiert fand. Die Romantisierung so wesentlich unromantischer Musik wie Beethoven jedoch, die Übersetzung in eine Art musikalischer Populärbiographik6, treibt Schindluder mit eben jener Aura, welche die übliche Radioübertragung traditioneller Musik zu konservieren sich anmaßt. Der Ausnahmezustand, der Musik bis zur Schwelle des technischen Zeitalters war, wird durch überstrapazierten glamor nivelliert auf die Prosa des öden alltäglichen Zustands. Gestürzt ist jene Idee des Festlichen, die Georgiades in seiner Arbeit über Mozarts Jupitersymphonie als dem Wiener Klassizismus essentiell beschrieb; vielleicht war sie bereits zu ihrer Stunde subjektive Veranstaltung, die ein objektiv Entschwindendes retten sollte.
Der Idealtypus der Radiosymphonie ist Index des Gesamtzustandes. Wäre sie selbst nicht vorweg durch den Stil des offiziellen Musiklebens deformiert, sie würde es durch die Situation des Einzelnen, der dem Lautsprecher gegenüber sitzt; sie ist schon der Musik so inadäquat wie längst der befrackte Oratoriensänger der Matthäuspassion. Keinem Hörer ist es vorzuwerfen, wenn er, mit einem ihm Fremden in schiefer Situation konfrontiert, auf den Spuk gar nicht erst sich einläßt, sondern ihn in den Hintergrund der Wahrnehmung und des eigenen Bewußtseins relegiert. Die einzigen, die etwa Vernünftiges damit anfangen könnten, wären die Fachleute, denen eine solche Symphonie, gereinigt von der betulichen Weihe des Konzertsaals, nahe rückt wie ein Text durchs Vergrößerungsglas. Mit Partitur und Metronom bewehrt, könnten sie die Aufführung verfolgen, um unweigerlich ihrer Falschheit innezuwerden, aber das war schließlich nicht der Zweck des Ganzen. Fatale Notwendigkeit waltet noch in der Fütterung der Maschinerie mit symphonischer Musik, die deren neutralisierenden Verschleiß befördert. Die Programmchefs haben gegen die trübe Flut der leichten Musik, die grinsend selbstzufriedene Barbarei sich zu stemmen; bei neuer Musik drohen die Protestbriefe der verbissen sich Entspannenden. Der Grund für den unaufhaltsamen Unfug, der dabei gegenüber der U-Musik immer noch etwas Tröstliches hat, ist die Ausnutzung von Kapazitäten. Nach einem ideologischen Schema, das auszuforschen wäre, wird sie von der industriellen Produktion, wo sie von der Rentabilität der Anlagen erheischt ist, auf die Massenmedien übertragen, ohne eine andere raison d'être als die sozialpsychologische. Schwerlich würden die Sendeanlagen durch längere Sendepausen entwertet; wohl aber dürften die Kettenraucher der Musik gegen ein Schweigen rebellieren, das, durch den bloßen Kontrast zu dem Getön, das immerzu über sie wogt und ihrer Zugehörigkeit zur Welt sie versichert, zur verhaßten Selbstbesinnung sie nötigte. Leidenschaftlich wollen sie bei der Stange gehalten werden. Ihnen zu Ehren wird das Auftrumpfende, Ostentative und Einschmeichelnde unterstrichen, das selbst die authentischen Werke immer schon ausstrahlten. Es überwuchert den Wahrheitsgehalt, den hörend zu erkennen etwas von dem Glück wäre, um das die auf die Hörer zugeschnittene Opulenz diese betrügt. Denn keine Beethovensymphonie ist immun gegen ihre Depravation. Das sagt aber nicht weniger, als daß die Werke selbst kein An sich, daß sie nicht indifferent sind gegen die Zeit. Nur weil sie geschichtlich sich in sich verändern, in der Zeit sich entfalten und absterben; weil ihr eigener Wahrheitsgehalt geschichtlich ist und kein reines Sein, sind sie so anfällig für das, was vermeintlich ihnen von außen angetan wird. Es verifiziert, was in ihrem Innern sich ereignet, den Fortschritt des Verstummens. Die Radiophänomene sind Index der Gesamttendenz, des Niedergangs der traditionellen Werke selbst und der approbierten musikalischen Kultur. Nur als nachlebende können die dissoziierten Werke ihn überdauern.
Die musikalische Verwendung des Radios umorientieren, kann aber nicht heißen, es aus dem gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang herauszulösen und naiv-rigoros nach ästhetischen Kriterien zu steuern. Die praktische Vergeblichkeit solcher Ambitionen ist Ausdruck einer Antinomie. Während das Radio immanent genötigt ist umzudenken, wenn es nicht destruieren soll, was es als Positivität ausschreit, bedarf es zugleich, der eigenen technologischen Struktur nach, objektiv der Hörermassen, deren eingefrorenen und institutionell geförderten Hörgewohnheiten musikalisch sachgerechtes Verhalten entgegen wäre. Planendes Bewußtsein, wie es der musikalischen Politik des Radios unabdingbar ist, kann nicht des antagonistischen Zustands Herr werden, indem es ihn ignoriert. Nicht nur die soziale Kontrolle verhindert die Radiomusik daran, vom Publikum abzusehen, sondern ohne es wäre sie an sich absurd; fachmännisch bornierte Torheit, in die Welt einzig das hinauszustrahlen, wovon sie nichts wissen will. Selbst die Sonderprogramme, mit denen das Radio der Forderung der Sache zu genügen trachtet, indem es sich seligierten Hörergruppen zuwendet, haben ihren Pferdefuß. Sie sind unschätzbar als Schlupfwinkel für all das, was dem Markt oder Pseudomarkt der Kulturindustrie nicht pariert, und derer im Publikum, die gegen den Strom hören. Durch die Ausgliederung aus dem normalen Programmbetrieb jedoch, durch den Stempel Nur für highbrows werden die dritten Programme selbst zu einer institutionellen Sparte von Fachleuten für Fachleute. Das schleift ebenso ab, was sie meinen, weil sie dann von vornherein den Geretteten predigen, wie sie als Sparte in die allumfassende Organisation des kalkulierten suum cuique neben Sport- und Kirchenfunk sich einfügen. Sie tragen, unvermeidlich und beim besten Willen, zu jener Abkapselung der neuen Musik bei, die deren Feinde ihr dann vorhalten und die sie durchschlagen müßte. Bei der Divergenz zwischen dem, was an sich an der Zeit ist, und dem Geschmack des Publikums dürfte das Radio nicht resigniert innehalten. Soll Musik, als gesellschaftliche Produktivkraft, dem Willen des Publikums nicht sich beugen, so gibt es doch keine, die nicht dem eigenen Sinn nach, als das Wir, das jeder mehrstimmige Klang sagt, auch wiederum das Publikum meinte. Ihre radikalen strukturellen Veränderungen seit mehr als fünfzig Jahren wären recht wohl darzustellen unterm Gesichtspunkt eines gegen sich selbst abgeblendeten Versuchs, die vom Kulturbetrieb zur Indifferenz integrierten Hörermassen zu erreichen, sie zu mobilisieren durch das, was zur Abwehr aufreizt. Umgekehrt lebt in der Abwehr der Hörermassen selbst das Potential des Bewußtseins, daß gerade das sie etwas angehe, was sie nicht Wort haben wollen, so wie noch im trübseligsten Hörkonsum des Halbbildungsphilisters das genuine Bedürfnis, entstellt zwar und manipuliert, überwintert. Die immanenten Fortschritte der Musik drängen zugleich auf eine Veränderung der Hörgewohnheiten; diese aber, ambivalent unter dünner Eisfläche, sind keine Konstanten, sondern wären einem Verhalten der Massenmedien offen, das sie mitdenkt und Angriffsstellen entdeckt; das sie respektiert, indem es sich weigert, sie zu respektieren. Haben die Veränderungen der musikalischen Produktion, des Komponierens, ihre Wahrheit, so ist sie auch die über die Hörer selbst, über das, was als ihr wesenhaftes objektives Interesse ihnen zugleich verborgen ist. An dies Potential hätte die musikalische Praxis der Massenmedien anzuknüpfen. Übrigens wird die Umorientierung des Radios keineswegs bloß durch die Widerstände gegen die neue Musik erschwert. Der Traditionalismus gerade der Hörerschichten, auf welche seriöse Sendungen zielen, sträubt sich heftig gegen eben die Neuerungen, welche aus der technologisch-gesellschaftlichen Struktur abzuleiten wären.
Legitime Radiomusik könnte nicht einfach vom Standpunkt des aktuellen Komponierens ausgehen, also einzig aus hochqualifizierten modernen Stücken bestehen; zudem ist nach den spezifischen Desideraten der Radiostimme viel avancierte Musik, Webern etwa oder Boulez, traditionell. Dem Radio wahrhaft adäquate Kompositionen heute müßten den Zuhörer durch fruchtbare Fremdheit überwältigen; man hat das in der Form ausgesprochen, daß auf Entfremdung nicht die Illusion von Nähe und Unmittelbarkeit zu antworten hätte sondern Verfremdung. Verlästerte Eigenschaften der Hörer wie Neugier, Reizsamkeit, Sensationslust wären nicht der schlechteste Ansatzpunkt. Im grauen Einerlei des nivellierten und verdinglichten Bewußtseins sind die Regungen, über die das Ethos der Eigentlichkeit am lautesten sich empört und die es der Dekadenz der Massen zur Last schreibt, das Refugium eines möglichen Besseren. Zerfällt im Radiophänomen, wie wahrscheinlich vorher schon im Bewußtsein derer, die es ereilt, das Zeitkontinuum, der temps dureé, dann hätten die Radiokompositionen daraus die Folgerungen zu ziehen. Sie müßten die Forderung der Prägnanz steigern zur absoluten Präsenz. Jeder Augenblick müßte unverkennbar da, fraglos in seinem eigenen Sinn sein, dürfte nicht auf seine Entwicklung, auf die Kontinuität des musikalischen Zuges warten. Man müßte experimentieren mit Kompositionsweisen, die dem Verhalten des Hörers entsprechen, der mit den Knöpfen herumspielt und darauf lauert, was er erwischt: wie einst im Kino, als es noch nicht von der hohen Kunst erniedrigt war, müßte man in jedem Augenblick ein- oder aussteigen können ohne Schaden für die Musik. Die Parallele zu aleatorischen Kompositionen leuchtet ein. Solche Konzentration auf den Augenblick schnitte zwar die traditionelle musikalische Transzendenz, das über sich Hinausweisen des Einzelnen aufs Ganze ab. Sie entledigte sich aber des Schwimmenden und Wolkigen, zu dem jene Transzendenz geworden war, als sie zum atmosphärischen Reizwert sich entzauberte, und das dann die Allergie gegen den romantischen Musiktypus begründet. – Werden in der gegenwärtigen kompositorischen Diskussion die einst selbstverständlichen Medien Raum und Zeit unaufhaltsam in die Reflexion hineingerissen, so weist das Radiophänomen auf Verwandtes. Viel authentische Musik der jüngsten Phase will nicht mehr als zeitlicher Prozeß sondern gewissermaßen simultan vernommen werden, wie der Blick auf ein Bild dessen Partien simultan zusammenrafft, um sie dann zu sondern. Auch im Radiophänomen trägt etwas wie Verräumlichung oder richtiger: Visualisierung der Musik sich zu. Notwendige Attribute wären Kürze, der Verzicht auf die übliche Formentfaltung; zwingende, jähe Gegenwart des Erscheinenden, das nicht erst entstehen darf, sondern die schlaghafte Qualität der Sensation sich aneignet; Verzicht auf funktionale, perspektivische Harmonik zugunsten des unverwechselbar für sich einstehenden Einzelklangs; vielleicht auch Zurücktreten des Kontrapunkts im traditionellen Verstand, den aus strukturimmanenten Gründen ja auch die serielle Musik vielfach nicht mehr duldet. Daß all das mit Tonalität, auch mit erweiterter, nicht zu realisieren ist, bedarf kaum der Worte. Von musikalischen Mitteln wäre der Primat ans charakteristisch erfundene Einzelmotiv und an die Klangfarbe zu zedieren: diese hat ohnehin im zeitgenössischen Komponieren die volle konstruktive Gleichberechtigung erlangt. Insofern die Verräumlichung nicht wörtlich zu verstehen ist, also auch der Radiomusik die Dimension des Sukzessiven verbleibt, hätte die Formgestaltung weniger fortzusetzen und auszuspinnen als mit dem Kontrast zu operieren; auch er ist in der neuen Musik, seit dem Schönbergischen Expressionismus, zum Formkonstituens geworden. Er trüge die Intensität des Einzelaugenblicks weiter und durchschnitte, scharf gleich den heute möglichen Farben, die Neutralisierungsschicht, die auf der Musik sich abgelagert hat. Solche Prägnanz des Komponierens verstärkte – als Einspruch gegen die schlecht gewordene Unendlichkeit der Perspektive – das musikalisch Eindeutige: nicht erst der Verlauf stiftete den Sinn eines Phänomens sondern seine kompositorische Emphase, eingestimmt auf ein akustisches Sensorium, so rasch, wendig, gewitzigt wie das Auge des Habitués von Kriminalfilmen. Überhaupt hätte Radiomusik wohl dort ihre besten Modelle, wo die dramaturgische Funktion zuweilen adäquate Verwendung von Klängen erzwang, ohne daß die Trägheit des Hörbewußtseins viel dagegen vermochte. Erwägungen aus dem kaum bekannt gewordenen, in amerikanischer Version bereits 1947 von Hanns Eisler herausgebrachten Buch ›Komposition für den Film‹ werfen Licht auf die musikalischen Desiderate des Radios: »Rasche Auffaßbarkeit ist weithin dasselbe wie Pointieren. Gute Filmmusik muß alles, was sie leistet, gleichsam sichtbar, an der Oberfläche leisten, darf sich nicht in sich selber verlieren: alles, die gesamte Konstruktion, deren sie doch mehr als alle autonome Musik bedarf, muß zum Phänomen werden, und je mehr sie dem Bild« – dem des Films – »die fehlende Tiefendimension hinzufügt, um so weniger darf sie selbst nach der Tiefe sich entwickeln. Das ist nicht im Sinn musikalischer ›Oberflächlichkeit‹ gemeint: im Gegenteil, gerade ein solches Verfahren steht zum konventionell oberflächlichen, flüchtigen, bequemen im äußersten Gegensatz, aber es bedeutet die Tendenz zur vollkommenen Versinnlichung im Gegensatz zu allem In-sich-hineinhören der Musik. Technisch gesprochen bedeutet das den Vorrang von Bewegung und Farbe über die musikalische Tiefendimension, die Harmonik, die gerade die konventionelle Filmmusik beherrscht. Filmmusik sollte blitzen und funkeln. Sie sollte gleichsam selber so rasch ablaufen, daß sie mit dem flüchtigen, vom Bilde fortgezogenen Hören mitkommt und nicht dahinter bei sich selber zurückbleibt. Es ist dies Aufblitzende und bunt Wechselnde, das mit der Technifizierung am ehesten noch sich versöhnt. In ihrer Neigung, sogleich zu verschwinden, nimmt Musik den Anspruch zurück, in dem ihre Kardinalsünde im Film besteht: den Anspruch, ›da zu sein‹.«7 Tatsächlich stellt die neue Musik, wie Schönberg vor mehr als fünfzig Jahren erkannte, Klänge bei, die in einen Augenblick ganze Entwicklungen zusammendrängen. Die nachdrücklichste Bestätigung der Vorschläge, die aus der Analyse der Radiosituation folgen, ist überhaupt ihre Konvergenz mit dem, wohin das Komponieren von sich aus will – obwohl jene Vorschläge auf Jahre zurückdatieren, in denen am Komponieren selbst all das noch nicht abzusehen war. Indem das dynamische Prinzip der Komposition, die Universalität der motivisch-thematischen Beziehungen, im integralen Komponieren zu sich selbst kam, hat es sich überschlagen. Die traditionelle Vorstellung sich entwickelnder Musik setzt verschiedene Stufen der Dichte, der Präsenz, der Intensität voraus; diese war in der traditionellen Musik Resultat, nicht Attribut. Durch die totale Durchorganisation sind – und das stellt die Komponisten vor die schwierigsten Aufgaben – die Differenzen liquidiert; wo alles selber gleichermaßen Entwicklung, gleich nah zum Mittelpunkt ist, hat der Begriff der Entwicklung wenig Sinn mehr. Aus jenem Prinzip der entwickelnden Variation und Durchführung, welches das ganze Werk sich unterjochte, ist das Gegenteil geworden, musikalisches Denken in gewissermaßen koordinierten Abschnitten; der der Physik entlehnte Ausdruck Feld spielt darauf an. Die Organisation der Form gelingt nicht mehr in der quasi-kausalen und, um des Als ob ihrer Kausalität willen, nicht mehr ganz zuverlässigen zeitlichen Entwicklung des Einen aus dem Anderen, sondern in Relationen und Proportionen des aufeinander Folgenden, als wären sie gleichzeitig. Aus dem musikalischen Kairos, dem Triumph über die lange Weile im übervollen und explodierenden Augenblick, springt etwas wie die Abschaffung der musikalischen Zeit heraus oder wird wenigstens intendiert. Diese kompositorische Tendenz ist ebenso dem Radiophänomen anzumerken; sie fällt in die sozial-anthropologische Krisis des Zeitbewußtseins8. In der kompositorischen Praxis sedimentiert der Formsinn eines Ganzen mehr stets sich im Detail. Das wird um so dringlicher, je platter die Integration des Ganzen die Details walzt. Das Radio aber nötigt die Musik von sich aus zu ihrer selbst bewußten, sich reflektierenden Charakterisierung. – Noch das Äußerste, das eine Kritik des Radiophänomens nennt, der Widerstand gegen den Bildcharakter von Musik, meldet in der autonomen Komposition sich an. Hinter der Elektronik, und der Attraktion, die von ihr ausgeht, steht am Ende wohl objektiv die Idee, die technischen Mittel zu befreien vom Bann der bloßen Abbildung von Musik, die an sich solcher Abbildung widerstreitet9. Der Makel technischer Musik: bloßer Abguß eines Anderen und damit uneigentlich zu sein, will getilgt werden. Insgeheim gelten die elektronischen Spekulationen auch dem latenten Ideal einer Radiomusik, die nicht länger eine bloß ins Radio gestopfte wäre. Noch die Gefahr des technologischen Fetischismus und der sinnfremden Bastelei dabei wäre kaum als bloße Aberration zu beklagen. Sie dämmert notwendig herauf mit der Krise des musikalischen Sinns und der alles Ästhetischen. Kulturkonservative Apologetik führt irre. Die Erschütterung der traditionellen Verhältnisse von Ganzem und Detail ist auch eine der Relation von Mittel und Zweck. Jüngst noch hat ein seit Jahrzehnten mit Zwölftontechnik Komponierender wie Dallapiccola eine These vorgebracht, der auch meine Überlegungen lange sich beugten: die vom unmittelbaren Primat der ästhetischen Zwecke über die Mittel. Der Klaviersatz des späten Beethoven habe die Steinwayflügel produziert, schrieb er, nicht umgekehrt, und nicht anders sollten auch heute Komposition und Klangmaterialien zueinander sich verhalten. Ironisch genug trifft das Beispiel nicht zu; Beethovens letzte Klaviersonaten und die Diabellivariationen wurden angeregt von dem Hammerklavier, das man ihm schenkte. In den fensterlosen Monaden der Technologie vermag zu gedeihen, was der Komponist als Reich der einheimischen Freiheit seines Geistes verkennt. Nicht erst heute haben verfügbare Techniken und Materialien die Phantasie inspiriert, die Schulmeister gegen jene verteidigen. Bedingung dessen freilich ist, daß die Komponisten nicht hinter den zutage geförderten Materialien herlaufen und sich überlegen, was sie mit ihnen Ungewohntes anstellen, wie sie sie nutzbar machen, geschickt verwerten können. Vielmehr hängt die künstlerische Produktivität der Technik, ihre Fruchtbarkeit für den kompositorischen Geist ab von der Kraft der Entäußerung, mit der die Komponisten den neuen Materialien nachhorchen, ohne sie allzu behend zu subjektivieren; ohne sie als das zu handhaben, was man vor noch nicht langer Zeit so naiv wie kunstgewerblich »Ausdrucksmittel« nannte. Mit Grund trennen die fortgeschrittensten Komponisten ihre elektronische Arbeit vielfach von ihrer anderen.
Daß, unter dem gegenwärtigen set-up, das Radio auf eine seiner eigenen Beschaffenheit gemäße kompositorische Produktion in erheblichem Umfang dringe, ist billigerweise nicht zu erwarten; man wird schon dankbar sein müssen, wenn es weiter intransigenten Komponisten Aufträge erteilt und nicht, von der pseudodemokratischen Demagogie vergeudeter Steuergelder eingeschüchtert, musikalische Hotelbildmalerei ermutigt. Allein schon der Mangel adäquater Werke veranlaßt dazu, mit dem vermeintlich ewigen Vorrat hauszuhalten, der durch Raubbau vergeht. Erstaunlich, wie wenig gute Musik es in der Welt gibt, nach ganz handfesten Kriterien, über die einigermaßen zuständige Musiker ohne viel Umstände sich einigen könnten; erstaunlicher noch, wie wenig Gedanken man sich über den gegenüber der Fülle großer Malerei eklatanten Mangel gemacht hat. Eine der Ursachen dafür ist vielleicht die von Busoni gerühmte Jugend der Musik, obwohl immerhin die Erfindung der Mehrstimmigkeit um Jahrhunderte älter ist als die der in mancher Hinsicht verwandten malerischen Perspektive. Wenn roh quantitative Vergleiche überhaupt erlaubt sind, wäre weiter daran zu denken, daß ein nicht abzuschätzendes Maß musikalischer Produktivkraft in die Interpretation einging, während bei den optischen Künsten die meiste Begabung an die Werke selbst gewandt wurde. Solche ungelösten Fragen genügen, die Subsumtion der ungleichnamigen Künste unterm Oberbegriff der Kunst zu hemmen. Jedenfalls ist jener Mangel durch den Bedarf der Radiomaschinerie akut geworden; der musikalische Historismus ist ebenso Funktion ungestillter Nachfrage wie Zeugnis der Schwierigkeit, sie zu befriedigen. Denn die Suche nach unverbrauchten Werken der Vergangenheit enttäuscht. Sicherlich wird stets wieder an Bedeutendes erinnert. Aber auch in der Musik hängt das Überleben mit der Qualität der Sache zusammen, wenngleich es mit ihr nicht blank koinzidiert; der Figaro ist mehr als Cosi, obwohl man das unter besseren Leuten kaum mehr laut sagen darf; der Freischütz mehr als Oberon, Beethovens Es-Dur-Konzert mehr als das Tripelkonzert, die Missa mehr als Christus am Ölberg. Der Eifer zur Ausgrabung wird vollends kompromittiert durch Werttaubheit bei Werken der entlegeneren Vergangenheit, die sich mit wissenschaftlicher Objektivität verwechselt; das Radio ist überschwemmt mit klimpernder und zirpender Langeweile.
Die Aufgaben eines musikalischen Museums wären unverächtlich. Gegenüber der vorwaltenden Praxis der musikalischen Interpretation, die längst die Werke verriet und unter den sich zusammenschnürenden Bedingungen der lebendigen Aufführung sie verraten muß, ist die Sorge um authentische, auf Band fixierte Aufführungen auch dann eine obersten Ranges, wenn man solcher Fixierung gleich aller musikalischen Photographie mißtraut. Die Vorteile der Radiostimme, Korrelate ihrer Nachteile: die Fixierbarkeit der Musik und ihr Näherrücken an den Hörer, begünstigen Archive. Wird Musik, bis sie in den Lautsprecher gelangt und vollends dann in der Hörsituation, verdinglicht, so ist es die verdinglichte zugleich, die eine erkennende Haltung weniger erschwert als die lebendige, auratische Wiedergabe und das Ideal von Musik als einem schlechthin Werdenden. Schon die Möglichkeit, das gleiche Stück auf einer Schallplatte beliebig oft anzuhören, auch bei einigem Geschick Teile herauszugreifen, fördert erkennendes Hören. Die Auflösung der Aura unterm erkennenden Blick ist wiederherstellend zugleich. Aus der absterbenden Aura tritt an Musik ein Geistiges hervor, getreu ihrer eigenen Spiritualisierung, der zunehmenden Reduktion des bloßen sinnlichen Erscheinens zum Träger von Unsinnlichem. Selbst die Verluste des Radiophänomens an sinnlicher Qualität mögen im Namen solcher Spiritualisierung zum Guten geraten. Anzulegen wäre eine Sammlung authentischer Aufführungen. Sie hätte nicht die technische Perfektion zum Kanon, die freilich oft genug für die Frevel der Technik entschädigen könnte, sondern die musikalische Qualität selber. Diese ist, durch den unaufhaltsamen Traditionsverlust, von allen Seiten bedroht. Immer mehr ausübende Musiker, zumal junge Dirigenten, lassen sich vernehmen, die den Sinn des ihnen Überantworteten, und wäre es zeitlich noch so nah wie Mahler, nicht mehr verstehen. Die alten Virtuosensünden sind nicht mehr das Schlimmste sondern der Mangel an Beziehung. Die Sprache der Musik wird geredet gleichwie eine fremde; anti-expressive Sachlichkeit liefert die Ideologie dafür. Dem entgegenzuwirken wäre durch Auswahl von Interpreten nach den strengsten sachlichen Kriterien; von solchen, wie unter den Dirigenten Anton von Webern einer war. Sie müßten, kompositorisch zum äußersten geschult, volles analytisches Verständnis verbinden mit der Fähigkeit, das Erkannte rein und zwingend zurückzuübersetzen in die musikalische Erscheinung. Der Probenbetrieb im offiziellen Musikleben entbehrt der wichtigsten Voraussetzung dafür, der Zeit. Wahre Interpretation bedarf wahrscheinlich ebenso der Zeit- wie große Architektur der Raumverschwendung; die Uhr, welche die Minuten zählt, ist ihr Todfeind, und die sozialen Bedingungen, die legitim Zeitökonomie verlangen, bezeugen in ihrem Gegensatz zur Sache unmittelbar einen gesellschaftlichen Antagonismus. Das Radio könnte helfen, indem es für die Anlage eines Band- oder Plattenarchivs, die nicht von der Prominenz der Namen abhinge, beliebig viele Proben, auch Teilproben gestattete. Wirklich neue Qualität der Interpretation wäre nur dann zu erreichen, wenn die Probenzahl nicht bescheiden ergänzt, sondern um ein Vielfaches des heute Üblichen und auch von den Orchestermusikern als ausreichend Empfundenen vermehrt würde. In der Praxis der Moderne beginnen derlei Einsichten sich durchzusetzen: Boulez hat für eine Schallplattenaufnahme des Wozzeck, welche jene von Mitropulos ersetzen soll, die man nie hätte veröffentlichen dürfen, siebzig Proben verlangt. Eine solche Praxis, gestützt durch Nebenumstände wie die Unsichtbarkeit von Aufführung und Kapellmeister im Radio, erlaubte endlich das Grundübel des gegenwärtigen Dirigierwesens zu beseitigen, die Fiktion, durch bloße Gestik, Schlagtechnik, geschicktes Geben von Einsätzen und was sonst dazu gehört, könne das Werk so, wie es vom Dirigenten vorgestellt ist10, aufs Orchester und aufs sinnliche Phänomen übertragen werden. Fraglos hat dieser Usus bei vielen Dirigenten eine spezifische Begabung, die suggestive, entwickelt. Aber noch ihre Triumphe behalten gegenüber der Forderung der Sache etwas Zufälliges, zuständig in einer Zwischensphäre von Magie und Scharlatanerie, vor der gerade die bedeutenden Musiker unter den Dirigenten zu beschützen wären. Daß auf diesen Aspekt das Publikum des offiziellen Musiklebens besonders anspricht, sollte die Skepsis verstärken. Bandaufnahmen mit beliebig vielen Proben jedoch stünden nicht länger unter dem Gebot, durch riskante mimetische Künste höchst komplexe und differenzierte musikalische Vorgänge in die paar Stunden dessen zusammenzudrängen, was kaum mehr sein kann, als was man früher Verständigungsprobe nannte. Der Kapellmeister würde, ohne Scheu vor dem sportlichen Namen, zum ›coach‹, aus dem hypnotischen Tierbändiger zum getreuen Korrepetitor. Nicht länger wäre Schlagbegabung, die mit der musikalischen keineswegs zusammenzugehen braucht, das wichtigste Kriterium. Er könnte so oft unterbrechen, bis eine Stelle ihn befriedigt; vor allem aber jede Note, jede Pause, jede Phrase, jeden Klang und jede Proportion redend erläutern. Die Orchestermusiker, die gewohnt sind, die Dirigenten danach zu beurteilen, was sie durchs bloße Schlagen zuwege bringen, und die den sprechenden Kapellmeister als dilettantisch hilflosen Intellektuellen beargwöhnen, würden anfangs lachen, aber nur so lange, bis das Resultat, die authentische Aufnahme, so geglückt wäre, daß sie den Unterschied von der herrschenden bravourösen Schlamperei zugestehen müßten. Minutiöse Detailarbeit fesselte auch die Orchester selbst auf die Dauer mehr als jene Art des eben nur zusammengehaltenen Durchspielens, bei der der Kapellmeister als Herrenreiter sich gebärdet, während vielfach das Orchester trottet, wie es gewohnt ist. All das setzte freilich souveräne Kenntnis, vor allem analytisch-strukturelle Einsicht voraus, wie Webern als Komponist sie mitbrachte, wie sie aber unter dem bis heute selbstverständlichen System verkümmern mußte. Wie das Radio sachgerecht zu entwickeln wäre, ließe wohl nur in dessen eigener Praxis zusammenhängend sich entfalten; einstweilen haben Beispiele etwas Willkürliches und können einzig die Richtung anzeigen. Neuerungen der musikalischen Aufnahmetechnik hätten manches vom Film zu lernen. So brauchte man sich nicht zu genieren, das endgültige Band aus Teilabschnitten zusammenzuschneiden, den besten, die aus zehn- oder fünfzehnmal wiederholten shots ausgewählt sind. Jeder Musiker kennt den Faktor des Zufalls in der Interpretation; selbst bei sorgfältigster Probenarbeit kann immer etwas mißlingen und wird es vielfach in der Nervosität des Ernstfalls. Umgekehrt gibt es interpretatorisches Glück, zuweilen weit übers Vorbereitete hinaus. Die Auswahl aus einer Mehrzahl von shots wendete das produktiv; die Dimension des Zufalls würde im rationalen Produktionsprozeß berücksichtigt, und gerade dadurch die Zufälligkeit des künstlerischen Resultats ausgeschieden. – Zu gewärtigen ist Kulturgeheul, weil dadurch der Schwung der Aufführung, der Atem des Ganzen zerstückt würde; man führte gewissermaßen industrielle Herstellungsverfahren, »travail en miettes« anstelle jener unmittelbaren Inspiration ein, die in Wahrheit doch bereits im traditionellen Probensystem, wenn es nur einigermaßen ernsthaft zugeht, vom musikalischen Planen, der Realisierung des an der Musik Erkannten überholt ward. Solche Tabus sind verlogen, sobald sie einmal rational sich begründen müssen. Fraglich, ob umfangreiche Werke, die notwendig aus relativ selbständigen Teilganzheiten sich zusammenfügen, insgesamt so unmittelbar verlaufen, wie das Vorurteil supponiert; ob nicht nach jeder Zäsur gerade der einsichtige Interpret neu anhebt, anstatt unartikuliert weiterzumachen; das gerade schädigt heute durchweg den musikalischen Sinn. Wo aber diesem die Montagetechniken tatsächlich schadeten, wären nicht sie anzuklagen, sondern es wären technische Mittel zu suchen, die den Schaden reparieren. Schwung, die Logik der Sukzession, die Notwendigkeit der Folge von Späterem auf Früheres ist selbst keine magische Qualität sondern ein Element der Komposition, in technische Kategorien und auch solche der Interpretation zu übersetzen. Die Analyse hätte dies Element zu bestimmen, die Interpretation es nachzuzeichnen, und die Kunst des Schnitts, analog der des Cutters im Film, hätte ebenso die Übergänge zu bedenken wie die Zäsuren und Kontraste. – Orchesteraufführungen wären allerdings kaum die eigentliche Domäne eines Bandarchivs, das vor Warenmarken wie »Klassiker der Interpretation« sorglich sich zu hüten hätte. Den sozialen und akustischen Bedingungen der Radiostimme käme am nächsten die Kammermusik seit dem Wiener Klassizismus; von Älterem natürlich Bach. Daß dem Radio das plausibelste Recht so sehr verkürzt wird: solche Musik in den Privatraum zu projizieren, die prinzipiell der eigenen Struktur nach dessen Hörbedingungen will, erklärt sich soziologisch, nicht künstlerisch. Die Massenmedien selbst, die technologisch ihren passendsten Gegenstand an der Kammermusik hätten, haben jene Aktivität des Amateurs untergraben, die das Klima fürs Verständnis von Kammermusik schuf; sie ist von archaisierenden Richtungen organisierter Hausmusik aufgefangen und dem Streichquartett entfremdet worden. Überdies hat die Kulturindustrie sich der wie sehr auch abgestumpften Buntheit des Orchesters lieber bedient als dessen, was durch die Neutralisierung weniger verunstaltet würde, dafür aber dem Amusementhörer einfarbig-monoton dünkt. Diesem Trend, der auch in Europa zunehmen dürfte, könnte der Rundfunk entgegenarbeiten und zugleich, durch Musteraufführungen, die musikalischen Kulturclichés selbst korrigieren. Von den Streichquartetten, die heute kammermusikalische Monopole innehaben, reichen allerdings nur wenige an solche Aufgaben heran; die meisten huldigen selbst dem kulinarischen Klangideal auf Kosten des strukturellen Musizierens, das in der Kammermusik zu Hause wäre. Die musikalische Politik des Radios müßte Kammermusikgruppen, die dem gewachsen wären, wovon gediegene oder versierte Routine nichts sich träumen läßt, überhaupt erst heranziehen oder hätte Streichquartette, die für derlei Aufgaben objektiv ausgewiesen sind, dauernd sich zu verpflichten. Sie könnten dann gänzlich auf jene Aufgaben sich konzentrieren, entlastet vom lähmenden und kunstfremden Konzertbetrieb.
Wie bei der Herstellung des Films sind die Prozesse, welche im Radiophänomen terminieren, nach der Art der Arbeitsteilung bei der Herstellung materieller Güter, komplex und doch rational. Die bisherige Praxis vertuscht das. Dadurch verfängt sie sich nicht bloß im Widerspruch zwischen sich selbst und ihrer Ideologie, sondern versäumt ihre spezifischen Möglichkeiten. Teamwork wäre allein darum schon vonnöten, weil der musikalische Aspekt; Komposition, Dirigieren, Aufführung; und der technologische: die Aufbereitung und Kontrolle dessen, was schließlich vernehmbar wird, nicht unmittelbar zusammenfallen und Fachkenntnisse ganz verschiedener Dimension verlangen. Aber die Forderung von teamwork verstößt gegen das Tabu der Persönlichkeit. Diese beschwöre durch inkommensurable Qualitäten die des Kunstwerks. In der Arbeitsteilung verdampft der Zauber, der längst zum Humbug ward. Unter den Bedingungen mechanischer Reproduktion verunstaltet die jener Ideologie willfährige Praxis, was sie protegiert. Die Funktion dessen, der die im engeren Sinn technischen Prozeduren überwacht, gilt ihr als subaltern. Sie wird von der des künstlerisch Verantwortlichen, des Dirigenten zumal, planlos-irrational abgesondert. Die Tonmeister oder -ingenieure – in Amerika heißen sie sound mixer – waren lange Elektriker ohne musikalische Qualifikation. Anders jedoch als die Autorität des Filmregisseurs, der die gesamte Apparatur untersteht, hat die des Dirigenten an ihnen ihre Grenze; Musiker pflegen von Elektrotechnik nichts zu wissen. Daher müssen sie es sich gefallen lassen, daß die Phänomene durch die technische Steuerung deformiert werden von Unsitten, die so sich festgesetzt haben, daß ihnen vielfach heute noch willfahrt wird, nachdem man von den Tonmeistern musikalische Ausbildung verlangt. Zu nennen wäre das aufdringliche Herausknallen dessen, was für die Melodie gehalten wird, meist der Oberstimme; das Abdämpfen der Begleitsysteme bis über die Grenze des Vernehmbaren hinaus; die dogmatische Bevorzugung der Singstimme vor den Instrumenten; der verzuckerte mittlere Wohllaut, der sich in der Unterhaltungsmusik und im Film eingebürgert hat. Das sind keine Schönheitsfehler, sondern der musikalische Sinn wird sabotiert; große Musik wird nach dem Hollywoodideal zugerichtet. Zwischen Radio und Schallplatte herrscht da wenig Unterschied. In einer Aufnahme von Mahlers Zweiter Symphonie unter einem der bedeutendsten Dirigenten der älteren Generation wird, gewiß nicht nach dessen Willen, der Klang der ersten Violinen auf Kosten alles anderen so stehgeigerhaft aufgeschwemmt, im zweiten Satz der Kontrapunkt der Celli zum Hauptthema, als eingängige Melodie, so übertrieben, daß eine Karikatur ertönt; selbst grobe Fehler wie der um einen Takt verfrühte Beckenschlag an entscheidender Stelle des Schlußchors wurden, vielleicht aus Sparsamkeit, nicht berichtigt. Mildere Spuren solchen Unwesens beflecken die gesamte Praxis. Noch jüngst haben in der an sich überaus verdienstlichen Fernsehübertragung der Wiener Uraufführung von Schönbergs Jakobsleiter die Solistenstimmen die Orchesterpolyphonie gänzlich zugedeckt. – Die musikalische Qualifikation der Tonmeister müßte in Zukunft der des Korrepetitors voll gleichkommen, der zum Kapellmeister sich vorbereitet. Vor jeder archivarisch zu fixierenden Aufnahme hätten sie das Werk, auf Grund der Analyse des Dirigenten11, genau zu studieren. Womit schließlich die Hörer konfrontiert werden, müßte streng dem gemeinsam Erarbeiteten entsprechen; die Entscheidung stünde beim Dirigenten als dem Verantwortlichen. Über die Untugenden des radioüblichen Klangs wären die technischen Helfer nachdrücklich aufzuklären. Umgekehrt dürfte der Dirigent nicht damit sich begnügen, dem Spiel des Orchesters zu lauschen, sondern müßte um das Endprodukt: das Radiophänomen sich bekümmern, das ja in Wahrheit viel mehr seine Aufführung ist als der ohnehin durch die akustischen Bedingungen der Studioräume vielfach beeinträchtigte Klang dessen, was er unmittelbar vernimmt. Ungereimt ist es, auf der einen Seite durch publicity den Dirigenten hochzuspielen, auf der anderen aber das, was die Empfangsgeräte als seine Aufführung übermitteln, seiner Jurisdiktion zu entziehen. Der Kapellmeister, der sich zu gut für die Technik ist, und der Techniker, der nach seinem Schlechtdünken darüber befindet, wie es nun tatsächlich zu klingen habe, sind in vollkommener Dissonanz aufeinander abgestimmt. Die vernünftige Koordination der am technifizierten Kunstwerk Beteiligten wäre eines der vornehmsten Mittel seiner Selbstkorrektur.
Der Film ist, bei aller vom Profitinteresse diktierten Rückständigkeit der stofflichen und ästhetischen Schicht, darum das technologisch fortgeschrittenste Verfahren, weil er am freiesten ist von der Rücksicht auf ein ihm fertig Geliefertes, von ihm nur zu Vermittelndes und Abzubildendes: Produktion und Reproduktion fallen zusammen, produziert wird, was man auf der Leinwand sieht. So hätte das Radio sich zu verhalten, anstatt den Konzertsaal zu imitieren. Daß das Radiophänomen dem Hörer auf den Leib rückt, daß die Distanz eingezogen wird, bildet das Komplement zur Verdinglichung der Musik. Es wäre von einer Praxis zu verwerten, die nicht länger mehr konstanten Abstand vom Hörer hält, sondern ihm gegenüber sich beweglich macht. Faßt er sie schon als ein Für ihn auf, so wäre mit Rücksicht auf ihn derart zu disponieren, daß ihm sachgerechtes Hören ermöglicht wird. Modell dafür wären die wechselnden Kameraeinstellungen des Films, auch Techniken wie die der Großaufnahme. Alban Berg, dessen technologisches flair zum expressiven Klima seiner Musik fruchtbar gespannt war, hat mit dem Gedanken an eine Verfilmung des Wozzeck gespielt. Es ging ihm, durchaus nach dem Prinzip von Sachlichkeit, darum, musikalische Vorgänge, die zum Verständnis des Zusammenhangs notwendig sind, aber im Opernhaus, selbst bei guten Aufführungen, fast unvermeidlich verloren gehen, so herauszuheben, daß Licht in jenem Chaos wird, das bei neuer Musik vielfach das Vorurteil der Gralshüter bestätigt. Er dachte zumal an die zum Teil sehr polyphone und komplexe Straßenszene aus dem zweiten Akt: man könne bei einer Tonfilmaufnahme durchs Mikrophon jeweils die thematischen Stimmen auswählen, die dramaturgisch den Ausschlag geben. Bekannt ist sein Entwurf, das große Zwischenspiel im zweiten Akt der Lulu mit einer Filmprojektion zu begleiten; wenn einmal der dritte Akt vollständig instrumentiert sein wird und nicht mehr durch Notlösungen trüb in einen halben Film übergeht, sollte man den Vorschlag ausprobieren. Überhaupt käme der buchstäblich vielschichtigen Lulu, vor allem der Sonatendurchführung in der Theaterszene, eine bewegliche Mikrophontechnik zugute.
Sie hülfe einem analytischen, Haupt- und Nebenstimmen scharf unterscheidenden, schließlich polyphonischen Hören. Was die traditionelle Musik allenfalls an Homogenität des Klangs verlöre, eroberte sie zurück durch die sinnfällige Artikulation der musikalischen Ereignisse. Nicht länger beanspruchte sie, die Ganzheit eines Werkes in sakraler Wiederholung zu zelebrieren; wohl aber legte sie Schnitte durchs Werk gleichwie in ästhetischer Anatomie. Das vermöchte umzuschlagen in eine neue Gestalt der Beziehung zur Sache selbst. Bei neuer Musik, wo die Aufführungspraxis selten die Aufgabe der Artikulation des Komplexen anpackt, bereitete flexibelste Ausnutzung der elektrischen Aufnahmetechniken die adäquate Wahrnehmung überhaupt erst vor. Ist das durch den Rundfunk verbreitete Werk schon einmal sein eigener Abguß, so wäre das nicht durch illusionäres Getue ohnmächtig zu widerrufen, sondern weiterzutreiben: die Radioaufführung müßte zum Kommentar des Werkes werden. Die Werke, die neuen zumal, enthalten eine Schicht, die darauf wartet: die der ungleichen Präsenz des gleichzeitig Erklingenden, von Vordergrund und Hintergrund, die viel zu tun hat mit dem Raumparameter, dem jüngst die Komposition planend sich zuwendet und der, ungeplant, jeglicher Musik eignet. Das Radiophänomen hat dieser Schicht bis heute nur Gewalt angetan, anstatt die Unterschiede der Präsenz, der Daheit von Musik, durch die Aufnahmetechnik zu realisieren. Differenzierende, auswählende, pointierende Aufnahmeverfahren, die dem zu Sendenden gegenüber in unablässiger Bewegung sich zu halten hätten, träten wohl das Erbe dessen an, was als bloße Illusion von Raumtiefe zerging und kein Recht mehr hat. Freilich demontierten sie in gewisser Weise die Werke und reizten damit zum heftigen Protest. Wenn aber einzig Herausgreifen, Wiederholen und Zerlegen das Hören von der Neutralisierung befreite und zum Verständnis zwänge, dann antwortete gleichzeitig diese Praxis auf die Krise der Werke, ihren immanenten Zerfall. Sie spränge dem Werk bei, indem sie seine Dissoziation zur eigenen Sache macht, anstatt seine Integrität vorzutäuschen, die eben durch die Täuschung sich zersetzt. Auf den dynamischen Schein der traditionellen Musik: sie sei ein rein Werdendes, während sie doch zugleich bereits im Notentext stillgestellt ist, wäre zu verzichten. Statt dessen sollte sie real in ein Werdendes sich verwandeln. Der zum Kulturkonsumenten entwürdigte Zuhörer stieße produktiv mit der Sache zusammen, indem die Interpretation ihren Sinn vor ihm stufenweise ergreift. Höhere Probenarbeit verfährt stets nach dieser Norm; selbst die, nach einer untriftigen Distinktion, rein technischen Fragen des Probierens werden, wenn die Interpretation überhaupt musikalischen Sinn will, durchsichtig auf diesen und formen ihn zugleich von sich aus. Die Geschichte der wahren Interpretation eines Werkes ist die nach außen gewandte inwendige seines eigenen Sinns. Danach wären Hörmodelle zu konstruieren; ihr Wert fürs Verständnis dürfte den aller üblichen Musikpädagogik übertreffen. Man hat Ähnliches versucht: die Proben von grand old men aufgenommen und als pikfein auf Platten verkauft. Selbst an diesen ist einiges zu lernen; doch wäre die Intention der vorgeschlagenen Hörmodelle ihnen konträr. Sie sollten nicht den Nimbus marktgängiger Prominenzen, auch nicht die knisternde Kulissenatmosphäre von Proben mit kunstgewerblicher Weihe verewigen, sondern einzig der Explikation der Sache gelten, bis selbst die akustische Erscheinung schwieriger zeitgenössischer Werke in jähem Umschlag zur lesbaren Chiffre wird; wo heterogene Bestandteile zur Musik sich formieren. Am besten wäre es, wenn dabei die Namen der Dirigenten und der Ausübenden samt allem anderen Brimborium verschwänden. Etwas dieser Art mochte Schönberg vorschweben, als er vor mehr als vierzig Jahren im Wiener Verein für musikalische Privataufführungen eine lange Reihe öffentlicher Proben seiner Ersten Kammersymphonie veranstaltete, ohne daß auf diese eine Aufführung mit der Prätention des Endgültigen folgte. Er hat, in seiner avanciertesten Periode, gespürt, daß der Begriff der Aufführung mit der neuen Musik nicht recht zusammengeht. In der gegenwärtigen Produktion weist die Neigung vieler junger Komponisten, nicht fertige Werke vorzulegen sondern solche, die prinzipiell works in progress sind, in die gleiche Richtung; bereits die Zweite Kantate von Webern hat etwas davon.
Würdigungen und unverbindliche Einleitungen würden durch solche Hörmodelle überflüssig. Eher wäre diesen die gleichzeitige Erläuterung angemessen – das, wofür in den amerikanischen Massenmedien der Ausdruck running comment sich eingebürgert hat. Auch sie tastete die ideologische Reinheit des Erscheinenden an, gestattete aber dafür, was die Trennung von Musik und Erläuterung verhindert, die konkrete Beziehung der analytischen Einsichten auf das tatsächlich Gehörte. Pädagogisch wäre der running comment das geeigneteste Hilfsmittel zum strukturellen Hören: das Publikum, auf den strukturellen Sinn des Phänomens im gleichen Augenblick aufmerksam gemacht, in dem es vorüberzieht, könnte der Struktur spontan sich versichern, anstatt ungeprüft jenen Expektorationen glauben zu müssen, die klingen, als wären sie auf Leute zugeschnitten, die lieber über Musik reden hören als diese selbst. Der running comment dürfte zuweilen sogar ausgehen von der Erklärung des Verlaufs eines Sonatensatzes oder einer Fuge nach ihren allgemeinen Kategorien, müßte aber von dort, über die Erklärung von Abweichungen und Nuancen, zur inneren Form, zur besonderen Zusammensetzung der jeweils vorgeführten Musik geleiten. Zu kombinieren wäre das mit Aufnahmetechniken wie den wechselnden Mikrophoneinstellungen, die es erlaubten, den thematischen roten Faden durch die Stimmen hindurch zu verfolgen, aber auch weit subtilere Aspekte der Struktur eröffneten, wie den Beitrag der Klangfarbe zur Organisation des kompositorischen Verlaufs. Verwandt waren die reichlich mit akustischen Beispielen ausgestatteten und dicht an diese sich haltenden Anweisungen zum Hören und zur Interpretation neuer Musik, um die ich in zahlreichen Sendungen des Norddeutschen Rundfunks mich bemüht habe und die ich hier nun literarisch vorlege. – Schließlich wäre im Radio fällig die Form der Kritik am gehörten Material. Erst ein neuartiger Typus öffentlicher Proben förderte sachgerechte Kritik; im offiziellen Musikbetrieb kann sie nicht gedeihen. Die gegenwärtige Musikkritik ist unzulänglich gar nicht so sehr wegen des Wertrelativismus und Pluralismus, über den man Krokodilstränen vergießt, als wegen der mangelnden Zuständigkeit der Kritiker dem Gehörten gegenüber, die sie dazu verleitet, die unbegründete Meinung – vielfach die der präsumtiven Leser – als bündig zu präsentieren oder wenigstens mit der Superiorität eines erfahrenen Geschmacks vorzutragen, der ans Beste, das sich erst bildet, nicht länger heranreicht. Diese Art Kritik, zumal die ephemerer Aufführungen, west fort bloß darum, weil sie in einem unkontrollierbaren Ressort geborgen ist und den Lesern und Hörern gegenüber gar nicht mehr am Objekt sich zu erhärten braucht. Die Form der musikalischen Radiokritik, die unverweilt Hören, Sache und Einsicht konfrontiert, böte ebenso den Kritikern Gelegenheit, den Unfug, der den gesamten Musikbetrieb anfüllt, den offiziellen und auch den modernistischen, beim Namen zu nennen und das wenige Exemplarische sichtbar zu machen, wie sie ihm das Behagen an seiner Position verleidete und ihn zwänge, ebenso vor der Musik sich zu verantworten, wie, nach der Idee von Kritik, Musik vor ihm sich zu verantworten hat. Diese Idee aber ist unverloren und fließt aus den Werken selbst, die nie anders als durch Kommentar und Kritik weitergelebt haben und im Zeitalter der Reflexion erst recht ihrer bedürfen. Die erkennende Haltung zur Musik ist eins mit der kritischen. Jeglicher Vollzug musikalischer Logik; was irgend dem Begriff von Musikalität genügt, impliziert im Bewußtsein des Stringenten und Richtigen auch das des Falschen. Wie keine Einsicht ins Falsche möglich ist ohne die Idee musikalischer Wahrheit, so wächst deren Bewußtsein bloß an jenem in seiner bestimmten Negation. Daß der Übergang des passiven ins aktive Hören auch der von einverstandener Hinnahme zur Kritik ist – musikalisch adäquates Hören war wohl stets kritisch –, verletzt freilich die falsche Kunstreligion der Unmittelbarkeit tödlich. Kunst wandelt sich aus dem Bild, das zu genießen wäre, ins erkennbare Objekt. Ihre Lust wird zu der, diesem unbeirrt ins Auge zu sehen. Damit entblößt Kunst sich als das Ding, über dessen Kategorien der verdinglichte Kulturbetrieb krampfhaft betrügt. Aber nur die ihrer selbst bewußte Verdinglichung läßt absehen, was anders wäre.
Fußnoten
1 Vgl. Günther Anders, Spuk und Radio, in: Anbruch XII, Februar 1930, S. 65.
2 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 375ff.
3 Vgl. a.a.O., S. 372.
4 Vgl. Th. W. Adorno, The Radio Symphony, in: Radio Research 1941, New York 1941, S. 117ff.
5 Vgl. Paul Bekker, Die Symphonie von Beethoven bis Mahler, Berlin 1918, S. 8.
6 Vgl. Th. W. Adorno, Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, in: Dissonanzen, Göttingen 1958, S. 9ff. [GS 14, s. S. 14ff.].
7 Hanns Eisler, Komposition für den Film, Berlin 1949, S. 150 [jetzt auch oben, S. 142f.].
8 Vgl. Th. W. Adorno, Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, in: Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurt a.M. 1962, S. 223ff. [GS 8, s. S. 217ff.]
9 Nach Abschluß des Textes findet das der Autor durch eine Bemerkung von Stockhausen bestätigt: »Und was haben Schallplatten- und Rundfunkproduzenten bisher getan? Sie reproduzierten; reproduzierten eine Musik, die in vergangener Zeit für Konzertsaal und Opernhaus geschrieben wurde; gerade als ob der Film sich nur damit begnügt hätte, die alten Theaterstücke zu photographieren. Und der Rundfunk versucht diesen Konzert- und Opernreportagen technisch eine derartige Perfektion zu geben, daß dem Hörer die Unterscheidung von Original und Kopie immer unmöglicher gemacht werden soll: die Illusion muß komplett sein. Die bewußte Täuschung wurde immer perfektionierter, so, wie man heutzutage mit modernen Druckverfahren Rembrandt-Reproduktionen macht, die nicht einmal ein Experte mehr vom Original unterscheiden kann. All das steuert auf eine Gesellschaft zu, die auch kulturell von Konserven lebt. Obgleich nun der Rundfunk eine solche Konservenfabrik geworden war, geschah etwas Unerwartetes: Elektronische Musik kam ins Spiel; eine Musik, die ganz funktionell aus den spezifischen Gegebenheiten des Rundfunks hervorging. Sie wird nicht irgendwo auf einem Podium mit Mikrophonen aufgenommen, um dann konserviert und nachher reproduziert zu werden, sondern sie entsteht mit Hilfe der Elektronenröhre und existiert nur auf dem Tonband und kann nur mit Lautsprechern gehört werden. Was die Geburt einer legitimen, funktionellen Lautsprechermusik eigentlich bedeutet, kann nur derjenige ermessen, der einmal durch das Glasfenster eines Rundfunk- oder Schallplattenaufnahmestudios geschaut hat, wo die Musiker wie in einem Aquarium stundenlang buchstäblich für die Wände spielen.« (Karlheinz Stockhausen, Elektronische und instrumentale Musik, in: Die Reihe. Information über serielle Musik. Wien 1959, Heft 5, S. 55.)
10 Zum Folgenden vgl. das Kapitel Dirigent und Orchester in: Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a.M. 1962, S. 115ff. [GS 14, s. S. 292ff.].
11 Als erster unter den Theoretikern dürfte Heinrich Schenker auf die Notwendigkeit der Analyse für die wahre Interpretation hingewiesen haben. Seine Schriften sind eine Mixtur aus bedeutenden Einsichten und provinziell-reaktionärer Ideologie.