Anmerkungen zum deutschen Musikleben
Verstehe ich Ihre Einladung richtig, so erwarten Sie von mir theoretische Erwägungen über das Verhältnis von Gesellschaft und Musikleben und über das, was diesem gesellschaftlich innewohnt. Nicht betrachte ich es als meine Aufgabe, Ihnen empirische Daten über das Musikleben vorzulegen. Aus der Not mache ich eine Tugend. Gewiß fehlt es nicht an Einzelerhebungen. Doch sind keine sinnvoll organisierten Zusammenfassungen verfügbar, die mit der Theorie verschmolzen werden könnten und diese vorantrieben. Allein an Hand gesicherter Daten, und Übersichten über diese, wären gewisse automatisch wiederholte theoretische Vorstellungen zu überprüfen. Manche davon erscheinen plausibel genug, aber ihr Gegenteil könnte a priori mit kaum geringerer Plausibilität behauptet werden. Als Modell nenne ich die These, es hätten die sogenannten Massenmedien die häusliche Musikpflege zerstört und mit ihr die Basis des traditionellen deutschen Musiklebens. Ebensogut indessen ließe sich konstruieren, daß die Massenmedien, indem sie Musik an früher musikfremde Schichten heranbrachten, musikalisches Bedürfnis und spontane Musikpflege in diesen überhaupt erst weckten. Offenbar ist die Fragestellung in ihrer geläufigen Gestalt zu undifferenziert. Jedenfalls bliebe erst noch zu ermitteln, ob das Erschlaffen des aktiven privaten Musizierens nicht auf gesellschaftliche Strukturveränderungen zurückdeutet, denen zwar die Funktion der Massenmedien sich einfügt, die aber ihrerseits eher diese bestimmen, als daß sie von ihnen bestimmt würden. Wendete man die Techniken der empirischen Sozialforschung an sinnvolle musiksoziologische Probleme, anstatt einfach nach dem Schema thematisch ausgeweiteter Marktforschung zu verfahren, der womöglich das Gesetz der großen Zahl das Maß geistiger Dinge ist, so hätte die theoretische, qualitative Einsicht davon viele Impulse zu erhoffen. Andererseits sucht der übereifrige Empirismus der deutschen Kommunikationsforschung die amerikanische Soziologie zu übertrumpfen, die unterdessen am Allheilmittel der research-Methoden irre ward. In dieser Situation ist das Gelästerte gefordert, Theorie. Der neu erwachende deutsche Anti-Intellektualismus geht einig mit der Tendenz, den nicht aufs Tatsächliche vereidigten und unmittelbar zu verwendenden Gedanken als eitel, nutzlos und gefährlich zu verdächtigen. Um so mehr wird der seiner eigenen Bestimmung nach unabdingbar kritische Gedanke von sich aus, vor allem besonderen Inhalt, zur Kraft des Widerstands.
Nicht allzu lange möchte ich bei der Frage nach Identität und Differenz der gesellschaftlichen Aspekte des deutschen und des internationalen Musiklebens verweilen. Empirisches Material führte wahrscheinlich auch hier zur Revision von Ansichten, die dem kollektiven Narzißmus schmeicheln, wie der von einer Art musikalischen Privilegs der Deutschen. Musikalische Institutionen wie die Chöre sind sicherlich in dem als musikfremd geltenden England nicht geringer entwickelt als hierzulande. Und in Amerika, dem Land der Kulturindustrie par excellence, hat der akkumulierte Reichtum einen Aufschwung dessen, was ich das offizielle Musikleben nenne, bewirkt, gegen den viel einzuwenden ist, der aber zumal die Orchester auf einen technischen Standard brachte, auf den man in Europa nur mit Neid blicken kann; die fähigsten deutschen Dirigenten werden davon angezogen. Unverkennbar auch, daß, wie man so sagt, von unten her in Amerika ein sehr kräftiges und spontanes Interesse an Musik sich regt. Die zeitgenössische avancierte Musik hat auf John Cage und seine Schule aufs intensivste angesprochen. Ihre Konzeption verdankt sich ebenso der Resistenz gegen den Kulturbetrieb des offiziellen Musiklebens drüben wie einer potentiellen Entfesselung der musikalischen Produktivkräfte, der kompositorischen, in Amerika.
Komposition betrachte ich, das sei axiomatisch vorausgeschickt, in Übereinstimmung mit prinzipiellen gesellschaftstheoretischen Erwägungen, als Schlüssel alles dessen, was mit Fug Musikleben heißt. Weltweit ist die Tendenz zur Integration, zur Anähnelung gesellschaftlicher Formen; sie läßt in allen Ländern, auch solchen politisch entgegengesetzter Systeme, sich konstatieren. Diese Tendenz wirkt in die Musik hinein. Denn sie ist nicht nur Kunst eigenen Wesens, sondern auch gesellschaftliches Faktum. Inmitten des strukturellen Übergangs zur verwalteten Welt wird man insgesamt die Unterschiede zwischen dem Musikleben der einzelnen hochentwickelten Länder des europäisch-amerikanischen Kulturkreises nicht überschätzen dürfen. In ihren ernsten, konsequenten Vertretern konvergiert heute die Komposition international so sehr, wie kaum je seit dem Ende des mittelalterlichen Universalismus und der Entstehung der Nationalstaaten. Selbstverständlich überdauern nach wie vor erhebliche Differenzen; man wird sie in den dem gesellschaftlichen Gesamttrend nach zurückgebliebenen Sektoren aufzusuchen haben. Von deutschen Eigentümlichkeiten nenne ich die Repertoire-Oper selbst in mittleren Städten. Leichtsinnig wäre es, wollte man zur Tagesordnung übergehen über das Potential konkreter und lebendiger musikalischer Erfahrung hinweg, das in den deutschen Opernhäusern oder den Opernabteilungen der Stadttheater überwintert. Unverkennbar jedoch, daß diesem Potential der Oper als Repertoiretheater von innen her anwachsende, symptomatische Schwierigkeiten sich entgegensetzen. Die bekannteste ist der zunehmende Mangel hochqualifizierter, an einen Ort fest gebundener Bühnensänger und Kapellmeister. Der Begriff des Repertoiretheaters zersetzt sich aber, wenn der des Ensembles illusorisch wird, das ein Repertoire von sich aus bestreiten könnte. Nicht minder bestürzen Beobachtungen wie die, daß es nachgerade offenbar unmöglich ist, zeitgenössische Werke von wirklich hohem Rang, selbst wenn sie bei der Premiere ihrem Niveau gemäß herausgebracht wurden, auf jenem Niveau zu halten. Im normalen Probenbetrieb, definiert durch ein Zuwenig an Proben, bröckeln die besten Aufführungen erstaunlich schnell ab; Mangel ist vermutlich auch an Einzelrepetitoren, die fähig und willens wären, dem entgegenzuarbeiten, zu schweigen von der Möglichkeit jener Zeitverschwendung, die künstlerisch die einzige Zeitökonomie wäre. Der Bruch zwischen der ernsthaften zeitgenössischen Produktion und dem offiziellen Musikleben ist nicht allein der zwischen Werk und Publikum: er klafft ebenso zwischen Werk und Darstellung. Umgekehrt erlaubt das stagione-Theater, das immer mehr dort sich durchsetzt, wo an die Oper scheinbar große Anforderungen gestellt werden, nicht jene durchgeformte künstlerische Einheit, die einmal den besten Repertoiretheatern möglich sein mochte; die Leistungen werden zwar momentan hochgeputscht, sind aber so wenig über die Festivalabende hinaus zu konservieren wie die des Repertoiretheaters. Keinesfalls bilden sie jene Art Tradition, welche die deutschen Opernhäuser in hochbürgerlichen Zeiten stifteten, sicherlich eines der wesentlichen Fermente der deutschen Musikkultur vom späteren achtzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Konfrontiert man damit, daß das Bedürfnis nach Oper, jedenfalls in gewissen spezifisch bürgerlichen Schichten, unverändert fortbesteht und womöglich zugenommen hat – in manchen Städten ist es schwierig, zu einer Abonnementaufführung Einzelkarten zu erwerben, weil die Häuser ausabonniert sind –, so mag einem etwas vom widerspruchsvollen Wesen des zeitgenössischen Musiklebens insgesamt aufgehen. Gattungen und Musikübungen, die einstweilen von außen her intakt scheinen, also in der Gesellschaft unangefochten ihren Platz behaupten, werden immanent und ihrer Realisierung nach so problematisch, daß bei aller Nachfrage auch ihr gesellschaftlich-institutioneller Zusammenbruch sich absehen läßt.
Das ist wohl ohne Großsprecherei zu verallgemeinern. Das Musikleben befindet sich, trotz seiner Stabilisierung in den Konsumentengewohnheiten nach dem Zweiten Krieg, latent, den künstlerischen Möglichkeiten und schließlich dem Wahrheitsgehalt nach, in einer Krise. Es ist keine andere als die, welche ums Jahr 1930 explodierte, dann in den Jahren des Faschismus erstickt ward und während des Wiederaufbaus in Vergessenheit geriet. Ein Aspekt des Scheinhaften, der Fassade ist daran zu innervieren, der der auferstandenen Kultur – am sinnfälligsten vielleicht der Architektur – durchweg eignet. Gesellschaftlich dürfte darin nicht weniger sich aussprechen, als daß die Antagonismen, welche zum Faschismus und zum Zweiten Krieg trieben, im Inneren der Sozialprozesse fortwesen. Ihre Manifestationen in der Wirtschaft waren lange eingedämmt; in den kulturellen Bereichen, die dem eigenen Begriff nach nicht ebenso sich steuern lassen, gelangten sie ins Offene. Die auferstandene Kultur ist unterminiert. Nicht zuletzt deshalb sind theoretische Besinnungen über das Musikleben abermals fällig. Sie müßten die Risse und Sprünge als Zeichen von Prozessen in der Gesteinstiefe der Gesellschaft deuten. Die Tatsachen, an denen die herrschende Kultur-, Bildungs- und Kommunikationssoziologie ihr Genügen hat, lenken vielfach nur davon ab.
Musik ist verstrickt in die Problematik der gesamten bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist vom Warencharakter ergriffen und allem, was er involviert. Ich habe einmal simpel gesagt, das Musikleben sei kein Leben für die Musik: es ist, unmittelbar oder vermittelt, eines für den Profit. Noch was es anders will, wird unweigerlich fast vom Wirtschaftsmechanismus ergriffen. Dem Moment des Spontanen, jetzt und hier Hervorgebrachten, das der Musik, ihrer Erscheinung nach, eignet, widerspricht ihre Verwandlung in Waren vorweg. Zutage kam das längst, etwa in den Albernheiten von Operettentexten wie dem des Walzertraums, wo eine Stehgeigerin, die doch von Noten spielen muß, redet, als fielen ihr die Walzer, die da angeblich die Zuhörer berücken, jetzt und hier ein: der Unsinn ist wie ein Abwehrreflex auf die Verdinglichung der Musik. Freilich weist deren Objektivation, die zwar ihrem immanenten Anspruch des hic et nunc entgegengesetzt ist, jedoch die Konstitution großer Kunstmusik ihrerseits erst ermöglichte, weit hinter die im engeren Sinn bürgerliche Gesellschaft zurück. Klagen über musikalische Kommerzialisierung sind denn auch nicht jünger als jene; aus der Renaissance werden Angriffe auf den damaligen Konzertbetrieb überliefert, die sich lesen, als wären sie im neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert geschrieben worden. Die altehrwürdige Kritik der musikalischen Kommerzialisierung hat, wie die des Handelskapitals insgesamt, unterdessen reaktionäre Züge angenommen. Noch nach dem Faschismus schreibt man dem kommerziellen Musikbetrieb gern zur Last, woran die tragenden Gesellschaftsstrukturen Schuld haben. Die vertraute Klage wird allen Musikern nahegelegt durch den Zwang der Anpassung ans Gefragte, die meist auf Minderung der immanenten Qualitäten hinausläuft. Jedoch die Kommerzialisierung war ihrerseits auch die Bedingung jener immanenten Qualitäten. Es mag auf einen Zusammenhang verwiesen werden, der, soviel mir bekannt, der Aufmerksamkeit der Musikhistorie wie der Musiksoziologie bislang entging. Die Wendung zum galanten Stil hing, wie öfters hervorgehoben wurde, mit den Ansprüchen einer sich formierenden, bürgerlichen Publikumsschicht zusammen, die in Oper und Konzert unterhalten sein wollte. Die Komponisten wurden erstmals dem anonymen Markt konfrontiert. Ungedeckt durch Zunft oder fürstliche Protektion, mußten sie wittern, was gefragt war, anstatt nach ihnen durchsichtigen orders sich zu richten. Sie mußten sich bis ins Innerste zu Organen des Marktes machen; dadurch drangen dessen Desiderate ins Zentrum ihrer Produktion. Was in diesem Prozeß, etwa Bach gegenüber, an Verflachung sich zutrug, ist unverkennbar. Nicht ebenso jedoch, wenngleich nicht minder wahr: daß kraft solcher Verinnerlichung das Bedürfnis nach Unterhaltung sich umsetzte in eines nach Mannigfaltigkeit des Komponierten, zum Unterschied von der relativ ungebrochenen Einheit des fälschlich so genannten musikalischen Barocks. Eben diese auf Divertissement zielende Abwechslung innerhalb der einzelnen Sätze wurde zur Voraussetzung jener dynamischen Relation von Einheit und Mannigfaltigkeit, die das Gesetz des Wiener Klassizismus darstellt. Sie markiert einen immanenten Fortschritt des Komponierens, der nach zwei Generationen für die Verluste kompensierte, welche die Stilwendung anfangs bedeutete. Die bis heute lebendigen Problemstellungen der Musik haben darin ihren Ursprung. Die üblichen Invektiven gegen das kommerzielle Unwesen in der Musik sind oberflächlich. Sie täuschen darüber, wie sehr Phänomene, die den Kommerz, den Appell an ein bereits als Kundenschaft eingeschätztes Publikum voraussetzen, in kompositorische Qualitäten umzuschlagen vermögen, durch welche die kompositorische Produktivkraft entfesselt und gesteigert wird. Man mag das in Gestalt einer umfassenderen Gesetzmäßigkeit formulieren: gesellschaftliche Zwänge, die anscheinend der Musik äußerlich widerfahren, werden von deren autonomer Logik und dem kompositorischen Ausdrucksbedürfnis absorbiert und verwandelt in künstlerische Notwendigkeit: in Stufen richtigen Bewußtseins.
Wahr bleibt trotzdem auch das Umgekehrte, das Hemmende und Erniedrigende des Warencharakters in der Musik. Unter seiner Herrschaft gerät sie – verzeihen Sie, daß ich nun das Stichwort ausspreche, das manche von Ihnen befürchten mögen, wenn sie einem Vortrag von mir zuhören – in eine besondere Dialektik. Kategorien wie Abwechslung, Dynamisierung, Originalität, unverwechselbarer Charakter, ständig Neues samt Virtuosität und Effekt sind durch die Verwandlung der Musik in Ware gesellschaftlich gesetzt worden. Da aber – tief übereinstimmend mit dem Wesen der Ware selbst – Musik immer beides war, ein in sich und darum für die Menschen sinnvoll und stimmig Organisiertes, und ein dem Profit zuliebe zu Tauschendes, so haben die Eigenschaften, die der Musik von ihrer Verbürgerlichung zugebracht wurden, in ihr, soweit sie Kunst, nicht bloßes Verkaufsobjekt war, sich verselbständigt, ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit nach sich entfaltet. Sie sind dadurch im geschichtlichen Verlauf ebenso in Gegensatz zu der empirischen Nachfrage auf dem Markt getreten, wie sie über dessen Heteronomie, und damit über die bürgerliche Gesellschaft an sich, hinausschossen. Das ist die gesellschaftliche Urgeschichte der Moderne: die steigernde Entwicklung und Veränderung der bürgerlichen Grundkategorien der Kunst bis zur Kündigung des gesellschaftlichen Einverständnisses. Bis heute dauert der Prozeß an und kehrt, in seinen kühnsten Exponenten, sich gegen die traditionellen Grundvoraussetzungen der Musik als einer affirmativen, die Widersprüche zur Harmonie der Welt glättenden Kunst. Inhaltlich-gesellschaftliche Kritik der Tendenzen des »Zurück zu«, die mit der puren Konstatierung von deren Anachronismus nicht sich begnügt, hätte daran anzuknüpfen. Denken, das, wiederum aus gesellschaftlichen Gründen, unfähig ist, die Folgerichtigkeit jener Entwicklung, und die verkappte Wahrheit ihrer Wendung gegen die bestehende Gesellschaft, mitzuvollziehen, betrauert statt dessen die gesellschaftliche Entfremdung der Musik und möchte sie durch heteronome, gleichsam kulturphilosophische Anforderungen zurückschrauben. Notwendig empfiehlt solches befangene Denken Gestalten des Komponierens und Musizierens, deren Sinn untrennbar ist von einem unwiederbringlichen gesellschaftlichen Zustand, einem früh- oder vorbürgerlichen. Leiden unter der Entfremdung kann zur Romantik des Unromantischen, zur Ideologie werden. Die »Zurück-zu«-Bewegungen haben verkannt, daß, in einer nach wie vor antagonistischen und gegen ihr eigenes Wesen verblendeten Gesellschaft, zuzeiten das gesellschaftlich nicht Rezipierte nicht bloß dem objektiven Stand der Gesellschaft adäquat ist, sondern gegen diesen objektiven Stand ausspricht, was ihn enthüllt und über ihn hinausdrängt. Daß heute in der Musik das gesellschaftlich Rezipierte und das um seiner gesellschaftlichen Wahrheit willen Geforderte in unversöhnlichen Gegensatz getreten sind, zeigt die gesamte Unterhaltungsmusik. In ihr triumphiert der Warencharakter, indem er aller autonomen, durchgeformten Gestaltung absagt und den musikalischen Bewußtseinsstand der Hörer zur Ausrede für die vulgärste Immergleichheit mißbraucht.
Die Warengesellschaft hat zu einem Grad sich ausgebreitet und ihr Netz gesponnen, der einer veränderten gesellschaftlichen Struktur gleichkommt. Das scheint im Musikleben sichtbar zu werden. Nicht von der Hand zu weisen der Verdacht, daß die Entrüstung über Kommerzialisierung, insbesondere die angebliche Geldgier und Betriebsamkeit von Star-Interpreten, eher von dem ablenkt, was tatsächlich sich zuträgt: der Ablösung des Marktliberalismus alten Stils durch Dirigismus in der Musik wie überall. Die ökonomische Tendenz könnte sich dort schwerlich so reibungslos durchsetzen, käme ihr nicht das Musikleben spezifisch entgegen. Im allgemeinen redet man – davon nehme ich auch manche meiner eigenen Arbeiten nicht aus – zu undifferenziert vom Warencharakter der Musik. Sicherlich kann man sich Noten kaufen wie irgendwelche Gebrauchsgüter; schon bei Schallplatten ist es nicht ebenso. Reklame wird zum Diktat. Wo der Erwerb von Schallplatten ökonomisch ins Gewicht fällt, in der Unterhaltungsmusik, richtet er sich wesentlich nach Namen und Prestige, wie sie vom Schaugeschäft lanciert werden, unabhängig vom Willen der Käufer, dem man zugleich unablässig schmeichelt. Doch auch beim alten Kern des Musiklebens, dem Konzert und der Oper, war es von je mit der freien Wahl nicht so weit her. Fraglos mieten die Abonnenten zuweilen seit Generationen ihre Sitze ohne viel Rücksicht aufs Programm. Ihre Zustimmung, oder ihre Mißbilligung, sind auf so kärgliche Kundgaben beschränkt wie die bekannte, daß alte Abonnenten ihr kultiviertes Traditionsbewußtsein dadurch unter Beweis zu stellen sich einbilden, daß sie vor den paar modernen Stücken, die sich als Konzessionsschnulzen in die Programme verirren, ostentativ die Flucht ergreifen. Das gepriesene Gesetz von Angebot und Nachfrage hat in der Musik, auch zu bürgerlichen Glanzzeiten, nie so recht geherrscht. Die Massenmedien vollends tendieren bereits technisch, durch ihren bekannten Einbahncharakter, zur Steuerung. Ein Irrtum wäre es freilich, wenn man den zunehmenden Dirigismus des Musiklebens, wie es die kulturpolitische Reaktion gern möchte, dem Monopol einer als intellektuell verdächtigten Minderheit von Elektronikern und Nachtstudioverschwörern zuschriebe, welche die in solchem Zusammenhang regelmäßig zitierten Gelder der Steuerzahler dazu mißbrauchten, einem stöhnenden, aber gleichwohl gesunden Volksempfinden Musik aufzuzwingen, gegen die es sich sträubt. Der Prozentsatz an radikal Modernem ist verschwindend gering: nach der mir vorliegenden Zusammenstellung einer progressiven Rundfunkstation entfallen in ihren Programmen von insgesamt 40 Wochenstunden seriöser Musik nicht mehr als ein bis zwei auf die jüngste, als avantgardistisch klassifizierte Produktion. Daß ihr überhaupt jener Bruchteil an Sendezeit gewährt wird, geht auf eine höchst legitime und vernünftige Erwägung zurück: die Qualität kultureller Produkte und ihr Anrecht darauf, der Öffentlichkeit präsentiert zu werden, ist nicht identisch mit ihrer Beliebtheit, nicht mit der vorhandenen Nachfrage. Nicht entbehrt es der Ironie, daß die Gleichen, die über die Kommerzialisierung als Entartung der Kunst am lautesten wettern, in ihrer Berufung auf die Nachfrage eben jenen Markt als Instanz anrufen, der Kommerzialisierung definiert. Die geschworenen Feinde von Vermassung benutzen, sobald es ihnen genehm ist, den Massengeschmack als Argument. Den musikalischen Dirigismus monieren sie an der verkehrtesten Stelle. Anstatt zu sehen, wie sehr der Massenkonsum nach Quantität und Qualität bedingt wird von der organisatorischen, administrativen, letztlich ökonomischen Zentralisierung des Dargebotenen, werfen sie Dirigismus denen vor, die dem dinghaft erstarrten, manipulativen Musikbetrieb sich widersetzen. Es ist, als wäre die Vorstellung, integre, lediglich um die Sache und den Ausdruck ihrer Erfahrung bemühte Künstler müßten Märtyrer sein und mit dem Hungertod sich bestrafen lassen, zu dem geworden, was der Jargon der Eigentlichkeit Leitbild nennt, und zwar zu einem Zeitpunkt, da man sonst beflissen versichert, Hunger und Armut seien überwunden. Keine einzelmenschliche Existenz, auch nicht der produktive Künstler, ist unabhängig vom erreichten Lebensstandard der Epoche. Statt dessen erwartet man von dem, der das Glück nicht sich abmarkten läßt, zu erfüllen, was man vor hundertfünfzig Jahren seine menschliche Bestimmung nannte, er müsse dafür zahlen. Das armselige materielle Los gerade so vieler der bedeutendsten Komponisten wird aus dem Schandmal der Unterdrückung des Geistes zum heiligen Naturgesetz umgelogen.
Der Massengeschmack ist durchaus nicht dem Dirigismus entgegengesetzt. Dieser drängt keineswegs den Massen, zumal den Millionen, die erst durchs Radio mit Musik zusammenstoßen, etwas auf. Wohl aber reproduziert er, durch beharrliche Wiederholung und durch Ausschluß dessen, was qualitativ anders wäre, den status quo des musikalischen Bewußtseins und verhärtet ihn. Krassestes Symptom dessen ist die fast unbeschränkte Herrschaft der Tonalität im Gebotenen, während die Entwicklung der musikalischen Produktivkräfte längst die Tonalität gesprengt hat. Je mehr das Musikleben gesteuert wird, desto dinghafter die Beziehung zwischen der Musik und denen, die sie erreicht; anstelle jener Art lebendiger Erfahrung des Musikalischen, die der Begriff strukturellen Hörens meint, tritt eine Perzeption, welche zwar in den ausgefahrenen Geleisen der traditionellen Harmonik mit den Werken mitläuft und sie kulinarisch goutiert, aber mit dem, was auch in älteren Gebilden eigentlich kompositorisch sich zuträgt, der Musik als einem Sinnzusammenhang, wenig oder gar nichts zu tun hat. Für das Musikleben in seiner Breite gilt das Paradoxon, daß, was den Menschen vertraut ist und wovon sie annehmen, daß es ihnen gleiche, ihnen als Produkt verdinglichten Bewußtseins objektiv ganz fremd bleibt, während, was ihnen fremd ist und sie schockiert, objektiv ihnen nah ist, sie selbst betrifft. Sie verdrängen es und verstärken damit unablässig ihr eigenes falsches Bewußtsein auch in der Musik. Je weniger sie wahrhaft konkret erfahren wird – die dazu Unfähigen schimpfen am wackersten über Abstraktheit –, desto mehr erschöpft sie sich in ihrer ideologischen Funktion. Das verdinglichte Verhältnis zur Musik und der unerschütterte, intolerante Kulturglaube verbinden sich. Ich erinnere mich daran, daß mir einmal, als ich über Fragen des strukturellen Hörens und der strukturellen Interpretation sprach, ein Mann mit Brusttönen gegenübertrat. Des Beifalls gewiß, versicherte er, Mozart hätte an dergleichen niemals gedacht. Damit mochte er recht haben: nur verkannte das Organ der gesunden Ansichten, daß Mozart es nicht nötig hatte, weil strukturelles Hören, wie sein Werk bezeugt, ihm gegenwärtig und selbstverständlich war. Wie einer produziert, entbindet keinen anderen, der mit dem Produkt im Ernst sich befaßt, von der Verpflichtung, es zu hören, wie es objektiv in sich gestaltet ist. Als ich freilich den Typus von Mozartverehrung, die sich da gegen das Mozartverständnis etablieren wollte, als einen von Operettenkomponisten identifizierte, irrte ich mich: mein Kontrahent war der pensionierte Direktor eines Operettentheaters, Schulfall musikalischer Halbbildung.
Die Frage, ob Musikleben und musikalische Bildungsinstitutionen tatsächlich musikalische Bildung vermitteln, ist bislang kaum angefaßt worden. Der musikalisch Gebildete und der, welcher sich bloß dafür hält, neigen dazu, Phänomene wie die Beatles, welche, manipuliert oder nicht, die Massen ergreifen, dem Bildungsverfall zuzuschreiben. Anders jedoch als in der bildenden Kunst und in der Dichtung, scheinen in der Musik die bedeutendsten Werke, gleichgültig, welches Prestige sie genießen, nie voll rezipiert worden zu sein. Das weckt Skepsis gegen Anschauungen vom Verfall, die leicht in Kulturpessimismus elitären Schlages ausarten. Nicht, daß er den gegenwärtigen Zustand kritisiert, ist solchem Pessimismus vorzuwerfen, sondern die Verklärung der Vergangenheit. Von Verfall läßt schwer dort sich reden, wo keine vergleichbare Gruppe vorhanden ist, deren Geschmack hätte verfallen sollen. Aber selbst wenn sie auf die als kulturtragend angesehene Schicht sich beschränkte, wäre die Verfallsideologie mindestens ebenso fatal wie die Fortschrittsideologie, über die man in Deutschland die Nase rümpft, ehe man die Wahrheit am Fortschritt nur erfahren hat. Das Musikverständnis sogar gerühmter Eliten in Zeiten, in denen der fable convenu zufolge Produktion und Publikum noch zusammenstimmten, war problematisch. Daß Neuerungen allemal es schwer hatten, auch innerhalb als sachverständig anerkannter Kreise akzeptiert zu werden, ist eine Binsenweisheit: häufig will Sachverständnis sich damit beweisen, daß es im stolzen Besitz des alten Wahren Neuerungen ablehnt. Darüber hinaus jedoch stieß der ästhetische Ernst selber, der Anspruch des geistigen Gehalts der Werke, der durch ihre technische Gestalt vermittelt ist, die gesamte bürgerliche Geschichte hindurch auf Rancune, der in gewissem Sinn retrospektive Bach nicht anders als der reife Wagner oder dann Schönberg. Ein Stück bürgerlicher Anthropologie ist es, den Geist, den man seit seiner Trennung von der körperlichen Arbeit verhimmelt, gleichzeitig, aus schlechtem Gewissen und weil er vom Profitablen abhält, hämisch zu verachten. Geändert hat sich daran vermutlich bloß, daß heute Bildungslosigkeit sich offen deklariert und unter Gebildeten ihre Interessenten und Apologeten findet; früher war sie wohl wirklich der naive Stand der Unmündigen. Der eklatante Mangel an musikalischer Unterscheidungs- und Urteilsfähigkeit beim überwiegenden Teil der Hörer wirft grelles Licht auf die Vergangenheit. Was uns Musikern als Fachleuten Bildungsverfall dünkt, besiegelt, daß es musikalische Bildung, sei es als Gesamtgesellschaftliches, sei es innerhalb der Bildungsschichten, überhaupt nicht gegeben hat. Niemals konnte die Musik ohne Verrat aus ihrer Zunftsphäre ausbrechen. Dafür ist nicht die Zunft verantwortlich. Die Verkrüppelung von Musikalität, die Abtötung von Phantasie und Begierde nach Neuem zugunsten eines statisch Trüben und Primitiven, ist einzig Erscheinung des gesellschaftlichen Mißlingens von Kultur überhaupt. Daher ist keine Korrektur von der Musik her zu erwarten. Würde sie sich, wie man es wohl zuweilen mit moralischem Pharisäismus verlangte, ins Leben zurückbegeben, um von sich aus ihre Distanz zur Gesellschaft herabzusetzen, so beraubte sie sich der eigenen Stimmigkeit und verstärkte womöglich jenen Zustand von Bildungslosigkeit, dem man durch Anbiederung entgegenzuarbeiten glaubt. Die letzten vierzig Jahre haben das unmißverständlich demonstriert. Heutzutage macht die Musikpolitik jenseits des Vorhangs durch den aufgewärmten Appell an Volksverbundenheit die scheinheilig beklagte Entfremdung zur eigenen Sache. Musik wird, wie aller andere Geist, zum Helfer von Arbeitsmoral, zur Ermunterung Gleichgültiger, zum pep talk degradiert. Ob der allbeliebte Satz, Musik sei um der Menschen willen da, metaphysisch sich halten läßt, ist zu bezweifeln; fraglos stellt er in der gegenwärtigen Lage den Sachverhalt auf den Kopf. Gesellschaftlich richtig kann in der Kunst allein das sein, was an sich selbst wahr ist. Was unter dem Vorwand, demütig den Menschen zu dienen, diese Forderung aufweicht, betrügt dadurch die Menschen um das, was ihnen zu geben man vorgaukelt. Auffällig, daß diejenigen, welche auf engagierter Musik theologisch oder politisch insistieren, ihr Vorbild meist in einer suchen, die ihrer eigenen Anschauung zufolge das Gegenteil wollte, nämlich den höheren Ruhm Gottes. Ästhetischer Ernst ist dessen Säkularisierung, nicht die Herrichtung jenes Heiligen zum Gebrauch, das, nach Hölderlins Wort, von nun an nicht mehr sich gebrauchen läßt. Verkoppelt mit dem Dienst am Menschen ist die Forderung von Positivität. Musik wünscht sie als Bringerin von Lebensfreude, als gemeinschaftsbildende Kraft, oder wie immer die Formeln lauten mögen. Sie alle sind pragmatistisch und gliedern damit dem Trend eben der Zivilisation sich ein, den die Lobredner ästhetischer Positivität zu befehden pflegen. Kein Kriterium von Musik ist es, ob sie positiv oder negativ sei, und welche Verhaltensweisen sie in den Menschen fördere – – ihr moralischer Effekt ist dubios –, sondern einzig, ob sie Wahrheitsgehalt hat, und ob dieser Wahrheitsgehalt, indem er an ihr erfahren wird, dazu hilft, falsches Bewußtsein zu durchschlagen und den Menschen ein richtigeres zu verschaffen. So nur und in keinem borniert praktizistischen Sinn kann von einer sozialen Funktion der Musik geredet werden. Heute wird sie allein dort erfüllt, wo Musik dem universalen Funktionieren sich weigert, anstatt durch ihr Gehabe den ideologischen Schleier zu verstärken.
Ideologisch ist die empörte Einschätzung vieler Phänomene des zeitgenössischen Musiklebens, wie der angeblichen materiellen Interessiertheit von Hochschulstudenten oder der Gleichgültigkeit junger Musiker gegenüber nicht lukrativen Sparten. Primär werden derlei Gefährdungen der Musikkultur, die ich keineswegs bagatellisiere, nicht bedingt von egoistischer Gesinnung, sondern von dem unerträglichen Abstand zwischen den allgemeinen Erwerbsmöglichkeiten und den traditionell der Musik offenen. Die Nachwuchsprobleme wären wohl dadurch zu lösen, daß dies Gefälle ausgeglichen wird. Während der wirtschaftlichen Hochblüte hätte sich das ohne weiteres bewerkstelligen lassen. Nun auch ein musikalischer Bildungsnotstand sich abzeichnet, dürfte die Förderungspolitik der öffentlichen Hand für musikalische Bildung innerhalb der Gesamtpläne beschnitten werden und dadurch der musikalische Bildungsnotstand sich verschärfen. Daß eine ihrer Aufgaben bewußte Förderung nicht einem objektiv überholten Typus von Jugendmusikschulen und Ähnlichem um seiner lautstarken Propaganda willen das Monopol einräumen sollte, sei en passant erwähnt. Sucht dagegen avancierte Musik nach institutioneller Deckung; organisiert sie sich ihrerseits innerhalb der totalen Organisation, oder wird ihr von dieser die bescheidenste Zuflucht gewährt, so erhebt sich Gezeter. Dem ist drastisch zu erwidern, daß man sich der alles umfangenden verwalteten Welt nicht anders erwehren kann als durch Mittel, die ihr gleichen; eben darin drückt ihre Totalität sich aus. Der Widerstand gegen das genormte Gequäke, mit dem die Welt ohne Einspruch überflutet wird, steht nicht bei dem Künstler, der in eine Waldeinsamkeit sich zurückzieht, die doch, wörtlich und metaphorisch, ohne Unterlaß vom Lärm der Flugzeuge gestört würde. Er muß selbst der Mittel und Techniken der verwalteten Welt sich bedienen, um sie umzufunktionieren, und muß diese Notwendigkeit ins eigene Bewußtsein aufnehmen, anstatt sich terrorisieren zu lassen von denjenigen, die nach Reinheit rufen im Einverständnis mit der Welt, der gegenüber sie Askese empfehlen.
Daß allerdings die Einbeziehung des nicht Konformierenden in das totale System die Drohung dessen enthält, was der Konformismus im Namen von Integration feiert, sei nicht verschwiegen. An dem Widerspruch, daß, was anders ist als der Apparat, dennoch seiner Toleranz und gar seiner aktiven Hilfe bedarf, krankt alles Opponierende. Die Affinität mancher jüngsten Musik zu Tapetenmustern, zu einer gewissen stumpfen Selbstgenügsamkeit, auch zum konsequenzlosen Ulk, ist, wenn nicht unmittelbar vom Dirigismus verursacht, zumindest in fataler Harmonie mit ihm. Wer jedoch den Rang von Kompositionen irgend zu unterscheiden vermag, weiß, daß es anderes gibt. Jener Widerspruch ist keiner des subjektiven Geistes der Avantgardisten, sondern objektiv gesellschaftlichen Wesens. Zu den beliebtesten Tricks der gegenwärtigen Ideologie rechnet es, derlei objektive Widersprüche dem Verhalten oder Denken mißliebiger Einzelner oder Gruppen vorzuwerfen, vor allem solcher, die Widersprüche erkennen. Richtiges Verhalten heute, auch in der Musik, wäre nicht eines, das die zentralen Widersprüche verleugnet und widerspruchsfrei sich gebärdet, sondern eines, das ihnen ins Auge sieht, sie ausdrückt und dadurch hilft, darüber sich zu erheben.
Was der musikalische Dirigismus dem subjektiven musikalischen Bewußtsein antut, kommt einer Liquidation des Geschmacks gleich. Geschmacklosigkeit brüstet sich als Zeitgeist. Für die überwiegende Zahl der Musikkonsumierenden dürfte der Begriff Geschmack gar keinen Sinn mehr haben. Sie lassen einfach nur gelten, wovon sie behaupten, daß es ihnen Spaß bereite. Jeden Hinweis auf die Qualitätsfrage weisen sie von sich als unbilligen Eingriff in die Freiheit ihres Vergnügens. Ihre Verhaltensweise ist aber der Sphäre des Geschmacks gegenüber kein absolut Verschiedenes. Sie läßt diesem nur widerfahren, was er selbst verdient hat; im Begriff des Geschmacks als solchem ist jene Reaktionsform bereits angelegt. Eine geschichtliche Analyse der Kategorie Geschmack wäre fällig. Von jeher dürfte er ein Kompromiß gewesen sein zwischen dem objektiven Anspruch des ästhetischen Gegenstandes und dem subjektiven nach Befriedigung meist vorkünstlerischer Art inmitten der Kunst. Auch Geschmack war a priori widerspruchsvoll. Während sein Begriff an Unterscheidungsfähigkeit, Sinn für Formniveaus erinnerte; während er als Organ für Qualitäten der Sache selbst sich fühlte, wurde dies Organ, sobald man es allein dem erfahrenden Subjekt zuschob und von der Sache abtrennte, zu einem Zufälligen und Willkürlichen. Die Idee des Geschmacks schließt ein, daß sich die objektiven Qualitäten, der Rang musikalischer Kunstwerke unterscheiden, daß über Geschmack sich streiten lasse, eben weil er an einem Objektiven seinen Halt hat; von Anbeginn jedoch wurde dem Begriff des Geschmacks auch das Gegenteil imputiert, daß nämlich, wie es so heißt, über ihn gerade nicht zu streiten sei. Die Kantische Kritik der Urteilskraft hat, ohne dessen ganz sich bewußt zu sein, diesem Widerspruch im Begriff des Geschmacksurteils zum Ausdruck verholfen. Unter den Leistungen der Hegelschen Ästhetik war es vielleicht die größte, daß sie den Widerspruch theoretisch bewältigte, indem sie das ästhetische Urteil an der Einsicht in die Sache selbst anstatt am Beliebigen des sinnlichen Wohlgefallens festmachte; eine Wendung freilich, die in Wahrheit bereits den Begriff des Geschmacks aufhebt. Der Berufung auf diesen haftet etwas Subalternes und Verstocktes an. Zusammenzutragen, was alles gegen Beethoven im Namen geläuterten Geschmacks vorgebracht wurde, lohnte der Mühe: nicht Beethovens wegen, dessen Werk die armseligen Belästigungen abschüttelte, sondern des Geschmacks wegen. Die subjektive Reaktionsfähigkeit, die der Geschmack voraussetzt, ist bei denen, die auf ihn sich zurückziehen, meist unterentwickelt. Subjektive Reaktionsfähigkeit und Objektivität der Sache sind nicht voneinander abgespalten. Beides produziert sich wechselfältig. Was sich als Geschmack fühlt und wer den Geschmack sich selbst als Privileg zuschreibt, repetiert im allgemeinen den geronnenen Normen- und Konventionsschatz seiner Epoche, zumal der Gesellschaftsschicht, mit der er sich identifiziert; wer im Geschmack seine Subjektivität zu hüten meint, hat sie selten überhaupt erlangt. Die Geschmackskategorie dürfte konkret in den Vorstellungen von cour et ville entsprungen sein; es erhellt, daß, nachdem es längst nicht mehr die Art von Gesellschaft und die Art von Stil gibt, auf welche sie zugeschnitten war, Geschmack sich immer mehr aushöhlt und schließlich in leer elitäres Bewußtsein übergeht. Die jüngste kompositorische Entwicklung hat das bestätigt, indem sie – ob mit Glück, ist noch offen – die Geschmacksmomente aus sich und aus dem Produktionsprozeß auszuschalten und durch unmetaphorische, buchstäbliche, hieb- und stichfeste Stimmigkeit nach naturwissenschaftlichem Modell zu ersetzen sucht. Darin wird der qualitative Sprung zwischen der Kunst und der außerästhetischen Realität verkannt; triftig jedoch ist die Innervation, der Geschmack tauge nicht mehr als Kriterium von Musik. Ornamentale, schmückende Kunst war wahlverwandt dem Geschmack als dem Sinn für jenes vermeintlich allein Kunsthafte.
Allerdings macht die Rede von Liquidation des Geschmacks sich einer mit dem Zeitgeist allzu einigen, man könnte sagen: positivistischen Vereinfachung schuldig. Wenn Kategorien des Geschmacks an die zeitgenössische Produktion nicht mehr heranreichen; wenn diese durch ihre Forderungen an sich selbst über den Geschmack hinausgeht, so postuliert das doch den Geschmack als ein darin Aufgehobenes. Ich erinnere zur Erläuterung an das bedeutendste literarische Phänomen der Gegenwart. Die Werke Becketts sind mit Normen des Geschmacks unvereinbar, provozieren und verletzen sie; nicht ein Satz indessen steht bei ihm, der nicht den akkumulierten Geschmack der gesamten neueren Kunst in sich aufgespeichert hätte und seine Substanz durch dessen bestimmte Negation erst empfinge. Brecht, den man in der Diskussion über das zeitgenössische Theater Beckett zu kontrastieren pflegt, war ihm darin keineswegs unähnlich. Ohne Gewaltsamkeit wäre sein Werk als Konsequenz von Geschmack darzustellen, der so empfindlich war, daß schließlich alles Geschmackvolle ihm auf die Nerven fiel. Eine analoge Doppeldeutigkeit wäre bei Schönberg zu konstatieren, lag allerdings nicht in dessen eigener Intention. Sorge wäre dafür zu tragen, daß das musikalische Bewußtsein den Geschmack überflügelt, nicht hinter ihn zurückfällt in die Barbarei. Inmitten der universalen Neigung zur Entkunstung der Kunst ist diese Maxime, so wie einst der Titel des Buches von Adolf Loos lautete, stets noch ins Leere gesprochen.
Erwartet man aktuelle Auskunft über geschmackbildende Institutionen und Funktionen, so wird man der Problematik von Geschmack selbst eingedenk sein müssen; sie hilft erklären, warum es so wenig fruchtet, etwa hohe und große Musik gegen leichte und niedrige zu predigen, während die Differenz beider Bereiche ins Unmäßige sich auswuchs. Der Einspruch gegen die Barbarei inmitten der Kunst ist notwendiger als je; aber der Einspruch klingt seiner bloßen Form nach, als ein der Gesellschaft gegenüber sich Aufplusterndes und Selbstgerechtes, hohl. Der Unterschied zwischen dem, der ein spätes Quartett von Beethoven noch seinem Wahrheitsgehalt nach versteht, und dem, der daraus pathetisch die Norm herleitet, es müsse verstanden, die Menschen müßten dazu gebracht oder erhoben werden, als ob das unter den gegenwärtigen Bedingungen auch nur möglich wäre – dieser Unterschied ist kaum weniger als der zwischen Wahrheit und Ideologie. Daß man nicht gleichzeitig eine Sache als die höhere erkennen dürfe und doch darauf verzichten müsse, sie zu advozieren, ist ein Einwand nur dem, welcher den Antagonismus von künstlerischer Autonomie und gesellschaftlichem Stand verkennt. Eben nur genannt sei das Problem, ob auf Geschmacksbildung vereidigte Institutionen wie Musikunterricht und Musikkritik noch jenem Geschmack helfen, der vorhanden sein müßte, damit man ihn transzendiert. Dem gleichen Problem findet die geisteswissenschaftliche Lehre an den Universitäten sich gegenüber. In der Musik dürfte es besonders aktuell sein wegen des Trends zur Verpädagogisierung: daß der Bereich des Unterrichts, das Mittel, das seines Zwecks nicht mehr sicher ist, sich selbst zum Zweck wird und am liebsten die gesamte Musik zu seinem Ebenbild umschaffen möchte. Nur auf ein Symptom aus dem Komplex einer musikalischen Bildungskrise darf ich hinweisen, das mir zu belegen scheint, daß die totale Gesellschaft in Fragen der musikalischen Geschmacks- und Urteilsbildung direkt, mit wahrhaft totalitärem Anspruch eindringt. Vor einiger Zeit hatte ich mit Rudolf Stephan, jetzt Ordinarius für Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, eine Rundfunkdiskussion über Hindemith. Wir beide sprachen scharf kritisch; nicht erstaunlich, daß unser Gespräch als Angriff auf den verstorbenen Komponisten empfunden wurde. Schon zu seinen Lebzeiten hatte ich zunehmende Bedenken gegen sein Werk und, wenn man so sagen darf, dessen kulturphilosophische Tendenz verspürt und öffentlich angemeldet. Die Anhänger Hindemiths hätten auf den Inhalt des Gesprächs replizieren können, und niemand wird bezweifeln, daß wir beide an der gleichen Stelle den Gegnern öffentlich uns gestellt hätten. Dazu kam es nicht. Keine sachliche Replik erfolgte, obwohl man sich ein Protokoll der Diskussion verschafft hatte. Nicht gegen das wurde polemisiert, was wir gesagt hatten; wohl aber dagegen, daß wir es gesagt hatten; und durch allerhand Démarchen versucht, es unmöglich zu machen, überhaupt an Hindemith einschneidende, kompositorisch fundierte Kritik zu üben. Ich hörte, daß einige Zeit danach in einem anderen Fall, in dem ich nicht beteiligt war – es handelte sich um Hans Pfiitzner und dessen wüsten Nationalismus –, die gleichen Manöver probiert wurden. Anstelle dessen, was man heute mit einem durch Mißbrauch verschandelten Wort Dialog zu nennen pflegt und was dem Geist einer demokratischen Gesellschaft allein anstünde, tritt der blinde Kultus arrivierter Namen. Zum Fetischcharakter in der Musik zählt, daß man Komponisten, deren Gesinnung im Klima der auferstandenen Kultur anheimelt, in heilige Tiere verwandelt. Die Warenmarke Prominenz wird zur Autorität und verhindert die nähere Besinnung darüber, warum eine Komposition, oder ein Komponist, mit Grund gut oder schlecht zu nennen ist. Die Unfähigkeit, stichhaltigen Einwänden zu begegnen, rationalisiert man womöglich als Tugend einer Innerlichkeit, die so tief sei, daß sie sich nicht in der Diskussion zu zerreden brauche. Geistige Insuffizienz bescheinigt man sich als moralische Überlegenheit über die bösen Intellektuellen, unter Mißachtung dessen, daß es nicht um Unterschiede von Menschentypen geht, sondern um die Objektivität der Sache. Ähnlich hat man unterm Vorfaschismus auf Äußerungen Thomas Manns über Richard Wagner reagiert. Sozialcharaktere desselben Schlages verteidigen heute Hindemith oder Pfitzner nicht gegen Einwände, sondern möchten ihnen ein Monopol jenseits der Freiheit zu Einwänden zuspielen. Das läuft auf die Abschaffung von Kritik hinaus, wie man sie im Reich des Hitler anordnete. Gesellschaftlich-kulturelle Restauration schickt sich an, in brutale Gedankenkontrolle umzuschlagen.
Sollte ich all dem gegenüber sagen, was nun eigentlich im Musikleben, ohne Rücksicht auf die gesamtgesellschaftliche Verstrickung, zu tun sei, so könnte ich nur äußerst bescheiden antworten. In Deutschland wäre, um einen Begriff zu verwenden, der oft als verwirklicht unterstellt wird, während er allenfalls ein erst Herzustellendes bezeichnet, das Musikleben zu entideologisieren. Ebenso müßte man die zählebige Illusion abwerfen, von der Musik her seien wesentlich die Beziehungen der Menschen untereinander zu verändern. Nicht zu retten aber ist auch der Aberglaube daran, der brüchige und noch an seinen obersten Spitzen der von ihm ausgebeuteten Sache unangemessene Betrieb, der sich Kultur dünkt, sei es wirklich. Anstatt der Verklärung dessen, was der Fall ist und die Macht des So- und nicht Andersseins besitzt, wäre Versachlichung im gesamten musikalischen Bereich zu fordern. Niemand wird mich so mißverstehen, als ob ich damit jene Sachlichkeit meinte, die vor vierzig Jahren im Neoklassizismus, in Idiosynkrasie gegen den Ausdruck, in Motorik und maschinenhafter Sturheit sich austobte. All das ist an der eigenen Dürftigkeit, am verlogen-autoritären Gehabe gescheitert und fasziniert heute, außerhalb gewisser Sekten, keinen Menschen mehr. Die alte neue Sachlichkeit war ideologisch im höchsten Maß, befangen in dem Wahn, aus einem seinerseits tief fragwürdigen Ordnungsbedürfnis heraus lasse willentlich etwas wie musikalische Ordnung in jedem Sinn sich beschwören. Unter Versachlichung verstehe ich statt dessen Anstrengungen zu einer adäquaten Beziehung zwischen den Menschen und der Sache, der Musik, die sie hören und spielen, und zwar der differenziertesten und spirituellsten. Der Begriff strukturellen Hörens, die Norm, darauf hinzuarbeiten, daß, was immer spezifisch in musikalischen Gebilden sich zuträgt, in allseitiger Aktualität des Hörens zum Bewußtsein gelange, mag anzeigen, worauf es dabei abgesehen ist. Absichtlich wähle ich den Ausdruck Bewußtsein. Er zielt nicht auf die äußerliche Reflexion, etwa die Fähigkeit, das musikalisch Erfahrene auf seinen theoretischen Begriff zu bringen. Jedoch man sollte Musik nicht länger als eine irrationale Reservatsphäre betrachten. Im Akt des Hörens müßte spontan das Gehörte in seiner Fülle, nach Einheit wie nach Mannigfaltigkeit, gegenwärtig werden. Das Vor-sich-Hindösen, das sich mit Gefühl verwechselt, oder die spielende Betulichkeit, die sich für musikantisch hält, beeinträchtigt die helle Erfahrung der Sache. Daraus ist wohl auch die entscheidende Anweisung für musikalische Interpretation herauszulesen: die objektiv in einer Komposition enthaltenen Momente, soweit sie in einem geschichtlichen Augenblick evident sind, vollständig in die Erscheinung umzusetzen. Die überwältigende Zahl aller musikalischen Aufführungen traditioneller und neuer Musik ist, wie sich bündig zeigen ließe, falsch, auch die der berühmtesten Interpreten. Versachlichung des Musiklebens – man möchte sie dessen Musikalisierung nennen – käme der Schließung des Bruchs zwischen Werk und Hörer, und zwischen Hörer und Moderne, zugute. Das in seiner Nuanciertheit wie seinem Zusammenhang richtig dargestellte und gehörte Werk wäre unmittelbar zugleich das verstandene. Solches Hören kräftigte von selbst die Beziehung zum Neuen. Ihm ist wesentlich, nach außen zur Erscheinung zu bringen, was in der traditionellen Musik subkutan sich verbarg und der Hilfe der Interpretation ebenso wie eines gleichsam interpretierenden Hörens bedurfte. Insofern ist, wenn man will, die neue Musik einfacher als die traditionelle; nur daß deren eingeschliffene Sprache daran hindert zu erkennen, wie wenig sie verstanden wird und nach der Aufführungspraxis des herrschenden Musiklebens gar nicht verstanden werden kann. Die visierte Versachlichung wäre eins mit musikalischer Bildung: in ihr schulte sich das qualitative Unterscheidungsvermögen für Formniveaus, Gestaltenfülle und organisierende Kraft. Umstandslos würden daraus Kriterien der Kompositionen: ihr Rang hängt, vor allem anderen, von jenen Kategorien ab. Der Schein des Pluralismus, der Gleichberechtigung der divergenten und miteinander unversöhnlichen Phänomene, aus denen das Musikleben heute sich addiert, zerginge, sobald strukturelles Hören immanent, ohne Anleihen bei irgendwelchen von außen erborgten Werten, der Qualität der Werke oder ihrer Abwesenheit innewürde. Trifft zu, daß es nur eine Wahrheit gibt, so gibt es nur eine auch in der Musik. Sie besteht aber nicht in einem abstrakt Allgemeinen, sondern enthüllt sich in der Konkretion des Verschiedenen.
Entideologisierung hätte auch vor dem Verhältnis von Musik und Gesellschaft nicht innezuhalten. Sie hätte der gesellschaftlichen Problematik der gegenwärtigen Musik – nämlich ihrer Abhängigkeit von heteronomen Mächten, keineswegs ihrer vielberufenen Asozialität – sich zu stellen. Musik hat, gleich allem Kulturellen, ihre Selbstverständlichkeit, das Unzweifelhafte ihrer raison d'être, eingebüßt. Je mehr die gesellschaftlich integrierte Musik sich zu einem Stück Kitt und Affirmation erniedrigte, je mehr sie Reklame schlechthin wurde, desto fragwürdiger, ob sie in ihren überkommenen Formen nach dem Maß der Wahrheit, das ihren obersten Gebilden innewohnt, überhaupt noch betrieben werden sollte. Ein Äußerstes an Entideologisierung ist die Antwort auf ihre totale Ideologisierung. Daß der objektive Sinn, den musikalische Gebilde bis zur jüngsten Phase, ob sie es wollten oder nicht, bekräftigten, in seiner Wahrheit ungewiß ward, ist der metaphysische Grund dafür. Vielleicht kommt Musik erst dann zu dem Ihren, wenn sie sich als nicht mehr schlechthin notwendig und gerechtfertigt erkennt.