Mahler
Eine musikalische Physiognomik
I
Die Schwierigkeit, das Urteil zu revidieren, das nicht nur das Hitler-Regime, sondern auch die Geschichte der Musik während der fünfzig Jahre seit Gustav Mahlers Tod über ihn verhängte, übertrifft jene, welche Musik insgesamt den Begriffen, und gar den philosophischen entgegensetzt. So wenig dem Gehalt von Mahlers Symphonien Betrachtungen vom Schlag der thematischen Analysen genügen, die über dem, was kompositorisch der Fall sei, die Komposition versäumen, so unzulänglich wären solche, die das Komponierte, nach dem Jargon der Eigentlichkeit die Aussage, dingfest machen wollten. Suchte man ihrer unmittelbar, als eines von der Musik Vorgestellten, habhaft zu werden, so siedelte man Mahler in jene Sphäre des eingestandenen oder verschwiegenen Programms zurück, gegen das er bald sich wehrte und das seitdem als untriftig offenbar ward. Ideen, die von Kunstwerken behandelt, dargestellt, willentlich gemeint werden, sind nicht deren Idee sondern Stoffe; auch jene ›poetische Idee‹, mit deren verschwimmendem Namen man das Programm seiner groben Stofflichkeit zu entäußern gedachte. Das albern hochtrabende ›Was mir der Tod erzählt‹, das Mahlers Neunter unterschoben ward, ist als Entstellung eines Wahrheitsmoments peinlicher noch denn die Blumen und Tiere der Dritten, die dem Autor wohl vorschwebten. Mahler aber ist darum gegen das theoretische Wort besonders spröde, weil er der Alternative von Technologie und Vorstellungsgehalt überhaupt nicht gehorcht. Bei ihm behauptet im Reinmusikalischen hartnäckig sich ein Rest, der doch weder auf Vorgänge noch auf Stimmungen zu interpretieren wäre. Er haftet am Gestus seiner Musik. Ihn verstünde, wer die musikalischen Strukturelemente zum Sprechen brächte, die aufblitzenden Intentionen des Ausdrucks aber technisch lokalisierte. Mahler ist in Perspektive nur dadurch zu rücken, daß man noch näher an ihn heran, daß man in ihn hineingeht und dem Inkommensurabeln sich stellt, das der Stilkategorien programmatischer und absoluter Musik ebenso spottet wie der blanken geschichtlichen Herleitung von Bruckner. Seine Symphonik hilft dazu durch die zwingende Spiritualität ihrer sinnlich-musikalischen Konfigurationen. Anstatt Ideen zu illustrieren, ist sie konkret zur Idee bestimmt. Indem ein jeglicher ihrer Augenblicke, ohne Ausweichen ins Ungefähre zu dulden, seiner kompositorischen Funktion genügt, wird er mehr als sein bloßes Dasein; eine Schrift, welche die eigene Deutung vorschreibt. Die Kurven solcher Nötigung sind betrachtend nachzuzeichnen, anstatt daß über die Musik von einem ihr äußerlichen, vermeintlich fixen Standpunkt aus räsoniert würde wie dem neusachlichen Pharisäismus, der unverdrossen mit Clichés wie dem vom titanenhaften Spätromantiker herumwürfelt.
Die Erste Symphonie beginnt mit einem langen Orgelpunkt der Streicher, alle flageolett bis auf das tiefste Drittel der Kontrabässe, hinaufreichend bis zum höchsten a, einem unangenehm pfeifenden Laut, wie ihn altmodische Dampfmaschinen ausstießen. Gleich einem dünnen Vorhang hängt er vom Himmel herunter, verschlissen dicht; so schmerzt eine hellgraue Wolkendecke in empfindlichen Augen. Im dritten Takt hebt sich ein Quartenmotiv davon ab, angefärbt von der kleinen Flöte; die spitze unsinnliche Schärfe des Pianissimo ist genau ausgehört wie ähnliche Timbres siebzig Jahre später in Alterspartituren Strawinskys, als der Meister des Instrumentierens der meisterhaften Instrumentation überdrüssig ward. Nach einem zweiten Holzbläseransatz wird das abwärts gerichtete Quartenmotiv sequenziert, um auf einem b hängen zu bleiben, das sich an dem Streicher-a reibt. Plötzliches più mosso: eine Pianissimo-Fanfare von zwei Klarinetten im unteren, fahlen Register, die dritte Stimme dazu in der schwächlichen Baßklarinette, matt, als ertönte es hinter dem Vorhang, wollte vergebens hindurch und hätte nicht die Kraft dazu. Auch wenn die Fanfare an die Trompeten übergeht, bleibt sie, wie Mahler von deren Aufstellung verlangt, »in sehr weiter Entfernung«1. Auf der Höhe des Satzes dann, sechs Takte vor Wiedereintritt der Tonika d, bricht die Fanfare in den Trompeten, den Hörnern, den hohen Holzbläsern2 durch, außer aller Proportion zum Orchesterklang zuvor, auch zu der Steigerung, die zu ihr geleitet. Diese erreicht nicht sowohl die Klimax, als daß die Musik mit körperlichem Ruck sich dehnte. Der Riß erfolgt von drüben, jenseits der eigenen Bewegung der Musik. In sie wird eingegriffen. Für ein paar Sekunden wähnt die Symphonie, es sei wirklich geworden, was ängstlich und verlangend ein Leben lang der Blick von der Erde am Himmel erhoffte. Dem hat Mahlers Musik die Treue gehalten; die Verwandlung jener Erfahrung ist ihre Geschichte. Verheißt alle Musik mit ihrem ersten Ton, was anders wäre, das Zerreißen des Schleiers, so möchten seine Symphonien endlich es nicht mehr versagen, es buchstäblich vor Augen stellen; möchten die Theaterfanfare aus der Kerkerszene des Fidelio musikalisch einholen, jenem a nachfolgen, das vier Takte vorm Trio die Zäsur ins Scherzo von Beethovens Siebenter legt. So mag ein Halbwüchsiger um fünf Uhr in der Früh geweckt werden von der Audition eines überwältigend niederfahrenden Lauts, auf dessen Wiederkunft zu warten der, welcher ihn eine Sekunde zwischen Wachen und Schlaf gewahrte, niemals mehr verlernt. Vor seiner Leibhaftigkeit dünkt der metaphysische Gedanke so blaß und hilflos wie eine Ästhetik, die fragt, ob in der Gestalt der Augenblick gelungen oder bloß intendiert sei, dem der eigene Riß wesentlich ist, und der wider den Schein des gelungenen Werks rebelliert.
Das lenkt heute den Haß auf Mahler. Er tarnt sich als Redlichkeit gegen das Aufgedonnerte: gegen die Prätention des Kunstwerks, etwas zu verkörpern, was bloß hinzugedacht ward, ohne sich zu realisieren. Hinter jener Redlichkeit lauert Rancune wider das zu Realisierende selber. Das Es soll nicht sein, über das Mahlers Musik verzweifelt klagt, wird hämisch als Gebot sanktioniert. Die Insistenz darauf, daß in Musik nichts mehr sein dürfe, als es an Ort und Stelle ist, deckt gleichermaßen verkniffene Resignation und den Komfort eines Hörers, der von der Arbeit und der Anstrengung des musikalischen Begriffs als eines Werdenden und über sich Hinausweisenden sich dispensiert. Schon zu den Zeiten der Six hatte geistig versierte Antiromantik mit der Amüsiersphäre schnöd sich verbündet. Mahler stachelt die mit der Welt Einverstandenen zur Wut auf, weil er an das erinnert, was jene sich selbst austreiben müssen. Beseelt vom Ungenügen an der Welt, genügt seine Kunst ihren Normen nicht, und darüber stimmt die Welt ihren Triumph an. Der Durchbruch in der Ersten Symphonie tangiert die gesamte Form. Die Reprise, der er den Weg bahnt, kann danach jenes Gleichgewicht nicht wieder herstellen, dessen Erwartung an die Sonate sich knüpft. Sie schrumpft zum hastigen Epilog. Das Formgefühl des jungen Komponisten behandelt sie als Coda, ohne thematische Entfaltung eigenen Rechts; unverweilt treibt die Erinnerung an den Hauptgedanken dem Ende zu. Daß aber die Reprise so verkürzt werden kann, dafür sorgt potentiell bereits der Expositionsteil, der auf Vielheit der Gestalten, ja auf den überlieferten Themendualismus verzichtet und darum auch keiner komplexen Restitution bedarf. Die Idee des Durchbruchs, die dem gesamten Symphoniesatz seine Struktur anbefiehlt, überflügelt die traditionelle, die er flüchtig noch entwirft.
Aber jene primäre kunstfeindliche Erfahrung Mahlers bedarf der Kunst, um sich zu manifestieren, und muß sie steigern um ihrer eigenen Verbindlichkeit willen. Denn das Bild, das dem Durchbruch sich entgegenstreckt, bleibt versehrt, weil er in der Welt ausblieb wie der Messias. Ihn musikalisch realisieren heißt zugleich, sein reales Mißlingen bezeugen. Wesentlich ist es der Musik, sich zu überfordern. Sie errettet die Utopie in ihrem Niemandsland. Was die Immanenz der Gesellschaft versperrt, kann der Immanenz der Form nicht glücken, die jener abgeborgt ist. Beides wollte der Durchbruch sprengen. In die Verstrickung, welche Musik durchschneiden will, ist sie als Kunst selber verstrickt und befördert sie durch ihre Teilhabe am Schein. Musik als Kunst wird schuldig an ihrer Wahrheit; nicht weniger jedoch, wenn sie, wider Kunst sich verfehlend, ihren eigenen Begriff negiert. Fortschreitend versuchen Mahlers Symphonien, diesem Schicksal sich zu entwinden. Ihr Substrat haben sie dabei an dem, worüber Musik hinauswill, am Gegenteil von Durchbruch, das doch von diesem mitgesetzt wird. Die Vierte Symphonie nennt es das »weltlich' Getümmel«3, Hegel den verkehrten »Weltlauf«4, der vorab dem Bewußtsein als ein »Entgegengesetztes und Leeres« gegenübertritt. Mahler ist ein spätes Glied der Tradition des europäischen Weltschmerzes. Gleichnisse des Weltlaufs sind bei ihm durchweg die ziellos in sich kreisenden, unaufhaltsamen Sätze, das perpetuum mobile. Das leere Getriebe ohne Selbstbestimmung ist das Immergleiche. In der musikalisch zunächst noch nicht gar zu heißen Hölle liegt ein Tabu über dem Neuen. Sie ist der absolute Raum. So war bereits das Scherzo der Zweiten Symphonie empfunden; extrem dann das der Sechsten. Hoffnung birgt sich bei Mahler im Unterschiedenen. Einmal inspirierte die Aktivität des tätigen Subjekts, Nachbild gesellschaftlich nützlicher Arbeit, die klassizistische Symphonik, schon bei Haydn freilich und weithin bei Beethoven doppeldeutig durch Humor. Tätigkeit ist nicht bloß, wie die Ideologie es lehrt, das sinnvolle Leben sich selbst bestimmender Menschen sondern auch der eitle Betrieb ihrer Unfreiheit. In der bürgerlichen Spätphase wird daraus das Schreckbild blinden Funktionierens. Das Subjekt ist eingespannt in den Weltlauf, ohne darin sich wiederzufinden, ohne ihn von sich aus verändern zu können; die Hoffnung, die das tätige Leben noch bei Beethoven durchpulst und dem Hegel der Phänomenologie erlaubte, dem Weltlauf am Ende doch den Vorrang vor der Individualität zuzusprechen, die erst in jenem wirklich werde, ist dem auf sich selbst zurückgeworfenen und zugleich ohnmächtigen Subjekt verloren. Darum plädiert Mahlers Symphonik erneut gegen den Weltlauf. Sie ahmt ihn nach, um ihn zu verklagen; die Augenblicke, da sie ihn durchbricht, sind zugleich die des Einspruchs. Nirgends verkleistert sie den Bruch von Subjekt und Objekt; lieber zerbricht sie selber, denn daß sie Versöhnung als gelungene vortäuschte. Zu Beginn entwirft Mahler die Äußerlichkeit des Weltlaufs programmusikalisch. Das prototypische Scherzo der Zweiten Symphonie, nach dem Wunderhornlied von der Fischpredigt des Heiligen Antonius, kulminiert im instrumentalen Aufschrei des Verzweifelten5. Das musikalische Selbst, das Wir, das aus der Symphonie tönt, bricht nieder. Atem geschöpft wird zwischen dem Satz und dem folgenden der sehnsüchtig humanen Stimme. Dennoch hat Mahler damals schon bei dem allzu selbstsicheren poetischen Kontrast von Transzendenz und Weltlauf nicht sich beschieden. Die Musik macht, im Verlauf der rastlosen Bewegung, mit rohen Bläserchören sich selber gemein6. Hegelsche Gerechtigkeit jedoch führt, rein durch die Logik der kompositorischen Fortsetzung, dem Komponisten die Feder derart, daß dem Weltlauf etwas von der Kraft des sich reproduzierenden, fortwährenden, dem Tod widerstehenden Lebens zuwächst, als Korrektiv des unentwegt protestierenden Subjekts; sobald das Thema an die ersten Geigen gelangt, tilgen Klang und melodischer Charakter die Spur des Ordinären7. Ein Bericht aus den ›Erinnerungen an Mahler‹ von Natalie Bauer-Lechner, deren Details so nah an der Sache sind, solche Kenntnis der Kompositionsprobleme von der Seite des Komponisten her beweisen, daß man an ihre Authentizität glauben sollte, erlaubt die Vermutung, die Doppelschlächtigkeit der Beziehung von Subjekt und Weltlauf wäre Mahlers Reflexion gegenwärtig gewesen. Er sagte im Hinblick auf die bekannte friderizianische Anekdote: »Es ist ganz schön, daß der Bauer gegenüber dem König zu seinem Recht kommt, aber die Medaille hat ihre Kehrseite. Müller und Mühle mögen in ihrem Bereiche immerhin geschützt sein: wenn die Räder nur nicht klapperten und damit ihre Grenzen aufs unverschämteste überschritten und in dem Bereich eines fremden Geistes so viel Störung und Schaden anrichteten, wie gar nicht zu ermessen ist.«8 Die Gerechtigkeit, die dem Subjekt widerfährt, kann objektiv zum Unrecht werden, und Subjektivität selber, empirisch die Lärmempfindlichkeit des nervösen Komponisten, belehrt ihn darüber, daß der Weltlauf, im Fall jener Anekdote die absolute Macht, gegenüber dem abstrakten Schutz der Person nicht bloß verwerflich, daß, nach Hegels Einsicht, so schlecht der Weltlauf nicht sei, wie es die Tugend sich vorstellt. Der kruden Abstraktheit des Gegensatzes von Weltlauf und Durchbruch musikalisch sich bewußt, konkretisiert Mahler ihn allmählich durch die innere Zusammensetzung seiner Gebilde und vermittelt ihn damit.
Das Scherzo der Dritten Symphonie wird, gleich dem der Zweiten, angeregt von einer Tiersymbolik. Sein thematischer Kern stammt aus dem frühen Klavierlied ›Ablösung im Sommer‹; mit der Fischpredigt ist ihm das irr Geschäftige gemeinsam. Aber nicht Verzweiflung antwortet darauf sondern Sympathie. Musik benimmt sich wie Tiere; als wollte ihre Einfühlung an deren geschlossener Welt etwas von dem Fluch der Geschlossenheit gutmachen. Den Sprachlosen schenkt sie den Laut durch tönende Imitation ihres Gehabes, erschrickt selbst und wagt mit der Vorsicht von Hasen wiederum sich hervor9, so wie ein ängstliches Kind mit dem kleinsten Geißlein im Uhrkästchen sich identifiziert, das den bösen Wolf übersteht. Tönt das Horn des Postillons herein, so ist als Hintergrund dazu die Stille des Gewusels mitkomponiert. Menschlich wird es vor den hauchdünnen gedämpften Streichern, dem Rest des Gebundenen, dem die befremdende Stimme nichts Böses zufügen möchte. Kommentieren dann zwei Waldhörner gesangvoll jene Melodie10, so versöhnt der künstlerisch überaus gefährdete Moment das Unversöhnliche. Der bedrohlich stampfende Rhythmus der Tiere aber, Triumphreigen von Ochsen, die sich bei den Hufen fassen, mokiert prophetisch sich darüber, wie dünn und schwach Kultur ist, solange sie Katastrophen ausbrütet, die eilends den Wald einladen könnten, die verwüsteten Städte zu verschlingen. Am Ende plustert sich das Tierstück nochmals literarisch auf, durch eine Art panischer Epiphanie11 des vergrößerten Urmotivs. Insgesamt pendelt es zwischen Allmenschlichkeit und Parodie. Sein Lichtkegel trifft jenes verkehrte Menschenwesen, das unterm Bann der Selbsterhaltung der Gattung deren Selbst zerfrißt und sich anschickt, die Gattung zu vernichten, indem es die Mittel in den verhängnisvollen Ersatz des eskamotierten Zwecks verhext. An den Tieren wird Menschheit ihrer selbst als befangener Natur inne und ihrer Tätigkeit als verblendeter Naturgeschichte: darum sinnt Mahler ihnen nach. Wie in Kafkas Fabeln ist ihm Tierheit die Menschheit so, wie sie von einem Standpunkt der Erlösung aus erschiene, den einzunehmen Naturgeschichte selber verhindert. Mahlers Märchenton erwacht an der Ähnlichkeit von Tier und Mensch. Trostlos und tröstend in eins, entschlägt die ihrer selbst eingedenkende Natur sich des Aberglaubens an die absolute Differenz von beidem. Autonome Kunstmusik jedoch ging, bis Mahler, in die umgekehrte Richtung. Je mehr sie an der notwendigen Herrschaft über ihr Material Natur beherrschen lernte, desto herrischer war ihr Gestus geworden. Ihre integrale Einheit hat das Viele entmächtigt; ihre suggestive Gewalt weggeschnitten, was ablenken könnte. Das Bild von Glück bewahrt sie einzig noch in seinem Verbot. In Mahler rüttelt sie daran, möchte den Frieden mit dem Naturwesen und muß doch stets noch den alten Bann vollstrecken.
Das Scherzo der Vierten Symphonie, auf der Linie der beiden vorhergehenden, stilisiert die handfeste Allegorik des Weltgetümmels zum Totentanz. Ungut spielt die grelle Fiedel auf, einen Ganzton höher gestimmt als die Geigen, mit bizarr ungewohntem Klang, ohne daß das Ohr dessen Grund verstünde, und deshalb doppelt irritierend. Chromatische Akzidentien durchsäuern Harmonik und Melodik; das Kolorit ist solistisch, als fehlte etwas: als hätte Kammermusik parasitär im Orchester sich eingenistet. Aus Gleichnissen fürs Niedrige versteigt sich die Musik zur Unwirklichkeit, Schattenspiel des Getriebes, zweideutig zwischen Locken und Schluchzen, die traurige Regung vermischend mit der Flucht der Bilder, die sie durchhuschen. Ähnlich ambivalent ist eine Melodie der Holzbläser und später der Geigen, eine Art von cantus firmus zu dem hastenden Hauptthema12 im Scherzo der Siebenten Symphonie, das nichts Harmloses mehr vorspiegelt. Von Mahler als »klagend« bezeichnet, vereint sie, wie nur Musik es kann, das drehorgelhaft Dudelnde des Weltlaufs mit der expressiven Trauer darüber. Den Durchbruch, dessen Spur nicht fehlt, gestaltet Mahlers Formgefühl im Scherzo der Vierten als Kontrast zum Geisterhaften; als Wirklichwerden, Blut Gewinnen, wie es schon die Triopartien suchen, die ohne Zwang an den Ländlercharakter des Hauptsatzes sich assoziieren; sekundenlang sinnlich wie selten bei Mahler, »sich noch mehr ausbreitend«13; Tschaikowsky wird gestreift, sogleich wieder verlassen, der Satz ins Geisternde, mehr und mehr Verdüsterte zurückgerufen, mit einem Schluß aus dem Phantasiehorizont des letzten Beethoven. Dabei wird stets die Serenität der Vierten als ganzer beachtet. Sie dämpft gemäßigt, freundlich fast das Makabre.
Auf der Höhe der Fünften Symphonie dann hat Mahler die Antithese von Weltlauf und Durchbruch mit voller Konsequenz zum Prinzip der Komposition erhoben, im zweiten Satz. Paul Bekker erkannte ihn als eine Art von zweitem ersten Satz und als eine der großartigsten Konzeptionen Mahlers14. Er ist kein Scherzo sondern voller Sonatensatz von »größter Vehemenz«15. Weggefegt ist der Humor, der den Weltlauf aus einer Distanz zu belächeln sich vermißt, die jener keinem Menschen gestattet; er ist unwiderstehlich losgelassen samt allen Akzenten von Leiden, ohne Begütigung. Seine Proportionen, das Verhältnis der stürmischen Allegroteile zu den überwuchernden langsamen Einschiebseln aus dem Trauermarsch erschweren die Wiedergabe ungemein. Jene Proportionen dürfen nicht dem Zufall des So nun einmal Komponiertseins anheimfallen, sondern das ganze Stück muß von Anbeginn so klar auf den Kontrast hin organisiert werden, daß es in den Andanteteilen nicht stecken bleibt; der Wechsel bildet die Form. Besonders kommt es darauf an, daß auch die Prestopartien, ohne Konzession im Tempo, deutlich, thematisch gespielt werden und nicht im Wirbel verlorengehen; sie balancieren die Trauermarschmelodien. Daß aber das dahinrasende Presto nirgendwohin führt, ist seine Formidee. Der Satz kennt, bei aller Dynamik, aller Plastik im Einzelnen, keine Geschichte, kein Wohin, eigentlich keine emphatische Zeit. Seine Geschichtslosigkeit verweist ihn auf die Reminiszenz; die vorwärtstreibende Energie wird gestaut und strömt gleichsam zurück. Von dort jedoch kommt die Musik ihr entgegen. Die potentielle Dynamik des Trauermarschs, zumal seines zweiten Trios, entfaltet sich erst nachträglich in der integralen, sonatenhaften Durchkomposition, als Seitensatz des Prestos. Was gebunden war in der stationären Form des ersten Satzes, wird entfesselt. Zugleich aber bereiten die unterbrechenden Reminiszenzen den Boden für die Choralvision, in der der Satz dem Kreis sich entringt. Nur durch die formale Korrespondenz zwischen ihr und den langsamen Interpolationen vermag er das Hereinbrechende sich einzuverleiben, ohne in Chaos zurückzuschlagen. Vision und Form bedingen einander. Diese schließt mit einer Coda. Die Vision hat keine Schlußkraft. Endete der Satz mit ihr, so wäre sie Vision nicht länger. Aber die Coda gehorcht dem, was geschah: der alte Sturm wird zu seinem ohnmächtigen Nachhall.
Die Fanfare des Durchbruchs nimmt als Choral musikalische Gestalt an, nicht länger exterritorial, sondern thematisch vermittelt mit dem Ganzen. Daß aber die mächtige Wirkung doch nicht rein dem hier und jetzt Komponierten sich verdankt, sondern den Entwurf des Schlusses von Bruckners Fünfter Symphonie wiederholt und durch diesen hindurch die etablierte Autorität des Choralwesens, enthüllt die Unmöglichkeit des Möglichen noch inmitten der Meisterschaft. Das Erscheinende ist entstellt von Schein. Was ganz es selbst sein sollte, trägt die Spur von Trost und Zuspruch, der Versicherung eines nicht Gegenwärtigen. Ohnmacht begleitet die sich manifestierende Macht; wäre sie das Versprochene, nicht länger Versprechen, so brauchte sie nicht als Macht sich zu beteuern. Nichts war für Mahlers Musik im überlieferten Kanon der Formen noch so unbestritten, als daß die Paradoxie des von ihr Gewollten darein sich hätte flüchten dürfen. Zuschanden werden die Worte aus der Schlußszene des Faust, die Mahler später unvergleichlich vertonte. Es ist nicht gelungen. Die utopische Identität von Kunst und Wirklichkeit mißrät. Noch dem jedoch stellt sich der Ernst von Mahlers Musik im Fortschritt seines kompositorischen Vermögens nicht weniger als in dem seiner entzaubernden Erfahrung. Kompositorische Verbindlichkeit, wie sie den Widerwillen gegen den programmatischen Überschuß zeitigte, nötigt Mahler so lange dazu, den Durchbruch musikalisch auszuformen, seiner Naivetät und Kunstfremdheit sich zu begeben, bis er selber formimmanent wird. Dagegen aber ist seine eigene Idee nicht immun. Kompositorische Logik kritisiert, was sie darstellen will; je gelungener das Werk, desto ärmer die Hoffnung, denn diese überstiege die Endlichkeit des in sich stimmigen Werkes. Etwas von solcher Dialektik trägt in allem sich zu, was Reife genannt wird, und deren vorbehaltloses Lob läßt immer auch von Entsagung sich korrumpieren. Das wird zur Not des ästhetischen Urteils. Um der Unzulänglichkeit des Gelingenden willen wird das Unzulängliche, das jenes Urteil richtet: das nicht Gelungene, Ereignis. Ungewiß, ob nicht wegen des Bruchs zwischen dem Weltlauf und dem, was anders wäre, mehr Wahrheit ist, wo dies Andere ohne den Anspruch, das Subjekt sei im Werk seiner habhaft, aufglänzt und im Bekenntnis seines Scheins die eigene Scheinhaftigkeit abwirft, als wo der Immanenzzusammenhang des Komponierten Immanenz des Sinnes vortäuscht und auf der eigenen Wahrheit insistiert, bloß um als ganzer zum Trug zu werden, genährt von allem partikular Scheinhaften, das er ausmerzte. Dennoch darf Musik gegen die eigene Logik nicht sich verstocken. Umsonst nicht eignet dem D-Dur-Choral des zweiten Satzes der Fünften abermals das Phantasmagorische einer Himmelserscheinung. Der Rest des kompositorisch Unverbindlichen daran mindert das Überästhetische, das der Choral vertritt: es behält den Makel von Veranstaltung. Um den Choral mit Gewalt zu investieren, wird er dem Blech überantwortet, das seit Wagner und Bruckner entwürdigt ward vom Trara. Mahler war der letzte, das zu überhören. Kompositorische Integration, die Liquidierung des intentionalen Überschusses involviert bei ihm jene Kritik am Schein, die dann in Schönberg und seiner Schule ausdrücklich ward. Weniges vielleicht bezeichnet die fortschreitende Sublimierung von Mahlers Reaktionsweise so genau, wie daß er immer konsequenter darauf verzichtet, Hauptthemen neudeutsch vom Blech unterstreichen zu lassen. Den höchst erfahrenen Orchesterleiter mag technisch dazu bewogen haben, daß jenes Mittel, wie sämtliche probaten, rasch sich verbraucht, auch in seinen eigenen Symphonien; alle vom Blech herausgeschmetterten Themen ähneln einander fatal und gefährden das symphonisch Wichtigste, das Es selbst Sein des Einzelnen und damit die Plastik des Verlaufs. In den Spätwerken wird die Gewalt des Blechs zur momentanen, ängstigenden oder niederschmetternden; es ist kein Grundregister des Gesamtklangs mehr. Die Sublimierung des Durchbruchs aber, wie Technik sie erheischt, ist teleologisch in jenem selbst schon angelegt. Damit er authentisch sich darstelle, muß auf ihn hin komponiert werden. Danach wird nicht nur die kompositorische Fiber gemodelt, sondern der Augenblick selbst gerät zwangsläufig in einen Funktionszusammenhang mit ihr, der ihn mehr stets des Buchstäblichen, grob Materiellen enteignet. In der Ersten Symphonie, welche die Spannungen der Mahlerschen Musik nicht austrägt sondern exponiert, liegt das offen zutage. Nach dem Durchbruch, beim Eintritt der Reprise also, kann nicht einfach formgerecht wiederholt werden. Die Rückkunft, die der Durchbruch evoziert, muß dessen Resultat: ein Neues sein. Um das kompositorisch vorzubereiten, entsteht in der Durchführung ein neues Thema, dessen motivischer Kern, zu ihrem Beginn, in den Celli eingeführt wird16. Daraus formiert sich ein episodischer Hörnersatz17, und dann beherrscht es, wie ein Beethovensches ›Modell‹, die spätere Durchführung, um beim Wiedereintritt der Tonika gewissermaßen nachträglich als das Hauptthema sich zu enthüllen, das es an Ort und Stelle niemals war18. Ebenso löst es die Verpflichtung zu einem Neuen ein, die von der Fanfare ausgeht, wie insgeheim durch seine langwierige Geschichte das Ganze, im Geist der Sonate und gegen ihn zugleich, aus ihm herausgesponnen ist. Um des Durchbruchs, des Anderen willen verstärkt sich die Formimmanenz, und die absolute Antithese wird entschärft, welche der Durchbruch stipuliert.
Dazu taugte der Wiener Klassizismus nicht; keine Musikgesinnung, auf welche der Begriff des philosophischen Idealismus paßt. Der mächtigen Konsequenzlogik Beethovens fügte Musik sich zur lückenlosen Identität, zum analytischen Urteil. Die Philosophie, der sie darin sich anbequemte, hat auf ihrer Hegelschen Höhe den Stachel solcher Idee verspürt. In einer Anmerkung zur Theorie des Grundes im zweiten Teil der Wissenschaft der Logik wird den Gründen des szientifischen Denkens – Kant ist nicht genannt – vorgeworfen, daß sie »nicht vom Fleck« kämen, auf Tautologien hinausliefen: weil der Grund »nun durch dieß Verfahren nach dem Phänomen eingerichtet ist, und seine Bestimmungen auf diesem beruhen, so fließt dieses freilich ganz glatt und mit günstigem Winde aus seinem Grunde aus. Aber die Erkenntniß ist hierdurch nicht vom Fleck gekommen; sie treibt sich in einem Unterschiede der Form herum, den dieß Verfahren selbst umkehrt und aufhebt.«19 Der gesunde Menschenverstand, der seine Erklärungen aus den ohnehin vorhandenen Tatsachen heraus abstrahiert und dann für Erkenntnisse ausgibt, wird als dumm denunziert. Gegen ihn rebelliert Mahler. Hat Musik überhaupt mehr mit der dialektischen Logik gemein als mit der diskursiven, dann möchte sie bei ihm eben das, wozu Philosophie mit Sisyphusanstrengung das herkömmliche Denken, die zu starrer Identität versteinerten Begriffe veranlaßt. Seine Utopie ist jenes Vom Fleck Kommen des Gewesenen und des noch nicht Gewesenen im Werden. Wie für Hegel schon in der Kritik des Identitätssatzes20, ist für Mahler Wahrheit das Andere, das nicht Immanente und dennoch aus Immanenz Aufsteigende: ähnlich auch spiegelte bereits bei Hegel sich die Kantische Lehre von der Synthesis. Nur als Gewordenes ist etwas, anstatt bloß zu werden. Das ökonomische Prinzip der traditionellen Musik jedoch, ihre Art Determination erschöpft sich im Tauschen des Einen um das Andere, von dem nichts bleibt. Sie geht auf eher, als daß es ihr aufginge. Das Neue, das sie nicht vollends zu beherrschen vermöchte, scheut sie. Unter diesem Aspekt war bis zu Mahler auch große Musik tautologisch. Das war ihre Stimmigkeit; die des widerspruchslosen Systems. Von Mahler wird es gekündigt, der Bruch wird zum Formgesetz. »Was anders ist, das lerne nun auch!«21
Vermittelt Mahlers Entwicklung im Komponierten zwischen dem Weltlauf und dem, was anders wäre, so möchte solche Vermittlung, um tief genug zu geraten, schon im kompositorischen Stoff entdeckt werden. Das ist, was der Weltlauf erfaßt, wovon er sich bewegt und was doch nicht ganz ihm gleicht; das Beherrschte, das drunten harrt oder hinabgestoßen wurde. Dort erhofft sich Mahlers Musik, mit einer die Musiksprache selbst affizierenden und damit radikalisierten Romantik, das Unmittelbare, das das Leiden an Entfremdung als an universaler Vermittlung zu beschwichtigen vermöchte. Ursprünglich benutzten die Fanfaren die Naturtöne der Blechinstrumente. In der Einleitung zur Ersten Symphonie, wo die Klarinetten die Fanfare antezipieren, gesellen sogleich sich Naturlaute hinzu; die fallende Quart, die von je dafür gilt, ein unartikuliertes Crescendo und Diminuendo der heraufgezogenen Oboen, Kuckucksrufe der Holzbläser, ohne Rücksicht auf Metron und Tempo hereinschallend wie danach immer wieder bei Mahler. Seine Symphonik hascht nach unreglementierten Stimmen des Lebendigen bis zum Abschiedsgesang des Lieds von der Erde, den es ins Amorphe zieht. Was über der Gestalt wäre, ist der eigenen Gestalt nach dem verschwistert, was noch nicht Gestalt hat; die Parusien der Übernatur, in denen Sinn sich entlädt, sind zusammengesetzt aus Fragmenten von sinnverlassen Natürlichem. Aber Mahlers wache Musik weiß unromantisch wiederum, daß Vermittlung universal ist. Noch die Natur, die sie umwirbt, ist Funktion dessen, wovon sie sich entfernen möchte; ohne vermittelndes Bewußtsein behielte Verhängnis, der Mythos, das letzte Wort. – Seitdem Ästhetik das Naturschöne vernachlässigt, dem noch Kant die Kategorie des Erhabenen vorbehielt, während Hegel es verachtete, passiert in der Kunst der Begriff Natur unbesehen. So eng knüpfte seitdem sich das Netz der Vergesellschaftung, daß man an der bloßen Antithesis dagegen ein Arcanum hütet, das nicht beredet werden darf. Denn Natur, Gegenbild menschlicher Gewaltherrschaft, ist selber deformiert, solange Mangel und Gewalt ihr angetan werden. Auch wo Mahlers Musik jedoch Assoziationen an Natur als Landschaft weckt, verabsolutiert sie diese nirgends, sondern liest sie aus dem Kontrast zu dem heraus, wovon sie abweichen. Technisch werden die Naturlaute relativ durch den Gegensatz zu der sonst bei Mahler vorwaltenden syntaktischen Regularität: seine musikalische Prosa ist keine primäre, sondern wächst als freier Rhythmus am Vers. Natur bei ihm ist als bestimmte Negation der musikalischen Kunstsprache von dieser abhängig. So setzt der peinigende Orgelpunkt des Anfangs der Ersten Symphonie das offizielle Ideal guten Instrumentierens voraus, um es zu verwerfen. Die Flageoletts jenes Klangs hat sein Bedürfnis nach Verfremdung erst nachträglich gefunden: »Als ich in Pest das A in allen Lagen hörte, klang es mir viel zu materiell für das Schimmern und Flimmern der Luft, das mir vorschwebte. Da fiel mir ein, allen Streichern Flageolett zu geben (den Geigern zu höchst bis zu den Bässen zu tiefst, die ja auch Flageoletts besitzen): nun hatte ich es, wie ich es wollte.«22 Ein höchst plausibler Bericht von Natalie Bauer-Lechner belegt, wie sehr das Bewußtsein solcher positiven Negation, der Protest gegen das mittlere kompositorische Schönheitsideal, Mahlers technische Verfahrungsweise leitete: »Wenn ich einen leisen, verhaltenen Ton hervorbringen will, lasse ich ihn nicht ein Instrument spielen, das ihn leicht hergibt, sondern lege ihn in jenes, welches ihn nur mit Anstrengung und gezwungen, ja oft mit Überanstrengung und Überschreitung seiner natürlichen Grenzen zu geben vermag. So müssen mir Bässe und Fagott oft in den höchsten Tönen quieken, die Flöte tief unten pusten. Hierher gehört auch die Stelle im vierten Satz (der Eintritt der Violen ist dir ja gegenwärtig?) ... Auf diese Wirkung freue ich mich immer und nie hätte ich den gepreßten, gewaltsamen Ton hervorbringen können, wenn ich sie den hierin leicht ansprechenden Celli gegeben hätte.«23 Wie im Verhältnis zum bequemen Normalklang sind die Mahlerschen Naturstellen insgesamt definiert als überschärfte Differenzen von der musikalischen Hochsprache, so wie das Naturschöne selbst gegenüber den vermeintlich gereinigten Formkategorien des Geschmacks: Denaturierung der zweiten Natur. Die Flecken der musikalischen Logik, an denen dann Mahlers eigene Selbstkritik sich betätigt, sind zugleich hervorgebracht von der Intention, die auf dem scharfen Grat zwischen dem Sinnwidrigen und dem qualitativ Neuen als dem Sinn wandert. Desultorisch spielt Mahler bereits mit dem Zufall. Natur, versprengt in die Kunst, wirkt allemal unnatürlich: nur indem der kompositorische Ton so sich übertreibt wie bei Mahler allerorten, stößt er ab von der Konvention, zu der die Formsprache der abendländischen Musik in Mahlers Epoche geworden war, während er dort noch beheimatet sich fühlte. Er raubt ihr die Unschuld. Durch den Gegensatz der sprengenden Intention zu jener Musiksprache verwandelt sie sich unvermerkt aus einem Apriori in ein Mittel der Darstellung: ähnlich markiert bei Kafka die nachdrücklich konservative, an Kleist geschulte, episch-gegenständliche Prosa den Gehalt durch ihren Kontrast zu ihm.
Im heraufdämmernden Antagonismus zwischen der Musik und ihrer Sprache offenbart sich einer der Gesellschaft. Die Unvereinbarkeit von Innen und Außen läßt nicht mehr, wie im klassizistischen Zeitalter, geistig sich harmonisieren. Darüber wird das Bewußtsein von Mahlers Musik abermals zum unglücklichen, das jenem Zeitalter erledigt dünkte. Ihm erlaubt die geschichtliche Stunde nicht länger, unter den bestehenden Verhältnissen die Bestimmung des Menschen für vereinbar zu halten mit den institutionellen Mächten, die ihn, wenn er sein Leben erwerben will, zum ihm Konträren nötigen, ohne daß er darin irgend sich wiederfände. Das hämmerte dem auf Ferienmonate eingeengten Komponisten bis zur physischen Vernichtung der Musikbetrieb ein, den zu verachten er auch als Wiener Operndirektor und Dirigierstar nicht sich abgewöhnte. Das Hohe, dessen die Wirklichkeit bloß noch spottet, artet zur Ideologie aus. Darum wird Mahlers Verhältnis zum Niedrigen dialektisch. Wohl schrieb er: »Die Musik muß immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus.«24 Aber seine Symphonien spüren besser als er selbst, daß, was solche Sehnsucht meint, nicht als Oberes, Edles, Verklärtes darzustellen ist. Sonst würde es zur Sonntagsreligion, zur dekorativen Rechtfertigung des Weltlaufs. Soll das Andere nicht verschachert werden, so ist es incognito, beim Verlorenen aufzusuchen. Nicht was über den Betrieb der Selbsterhaltung erhaben sich dünkt, von dem es profitiert, entgeht jener Konzeption zufolge dem Schuldzusammenhang, sondern was unter die Räder kam, die Last zu tragen hat und daran zu jenem Gegendruck erwacht, den die coincidentia oppositorum von Mahlers Musik zusammendenkt mit dem utopischen Sprengstoff. Ihn widerte die eigene Position an, auf die er doch nicht verzichten mochte, weil er den Weltlauf zu genau kannte, um nicht stets dessen gegenwärtig zu sein, daß Mangel ihm jene Spanne an Freiheit verweigern könnte, deren seine menschliche Bestimmung bedurfte. Die sozialistische Neigung des Arrivierten aber gehört einer Epoche an, in der das Proletariat selbst schon eingegliedert war. Der Instinkt des Enkels der Hausiererin hält es nicht mit dem, was zu jenen Bataillonen sich formiert, welche die stärkeren sind, sondern, sei's auch verzweifelnd und illusionär, mit dem Rand der Gesellschaft. Das nicht Domestizierte, in das Mahlers Musik mit Einverständnis sich versenkt, ist zugleich auch archaisch, veraltet. Deswegen band die Kompromißfeindliche sich ans tradierte Material. Es gemahnte sie an die Opfer des Fortschritts, auch die musikalischen: jene Sprachelemente, welche vom Prozeß der Rationalisierung und Materialbeherrschung ausgeschieden wurden. Nicht den Frieden wollte Mahler bei jener Sprache finden, den der Weltlauf verstört, sondern er hat sie in die Gewalt genommen, um mit ihr der Gewalt zu widerstehen. Der schäbige Rückstand des Triumphs klagt die Triumphierenden an. Mahler entwirft ein Rätselbild aus jenem Fortschritt, der noch nicht begonnen hat, und der Regression, die nicht länger als Ursprung sich verkennt.
II
Mahler ist fortschrittlich nicht durch handgreifliche Innovationen und avanciertes Material. Antiformalistisch bevorzugt er das Komponierte vor den Mitteln des Komponierens derart, daß er keiner geradlinigen geschichtlichen Bahn folgt. Schon zu seiner Zeit drohte sie, die Einzelqualitäten, das Beste, das er nicht vergessen wollte, zur blanken Einheit der Organisation zu nivellieren. Ihn befriedigt die Totale lediglich dort, wo sie aus den nicht substituierbaren Eigenschaften der musikalischen Details resultiert. Wie seine Symphonien die immanente Logik musikalischer Identität anzweifeln, so widerstreben sie auch jenem historischen Verdikt, das seit dem Tristan die Musik eindimensional weitertrieb: der Chromatisierung als Entqualifizierung des Materials. Nicht als Reaktionär, doch als scheute er den Preis des Fortschritts, besteht er auf Diatonik als auf einem selbstverständlich Tragenden, während sie bereits von der Forderung autonomen Komponierens zerrüttet ist. Trotz solcher verspäteten Harmlosigkeit des Materials jedoch sind seine Werke, von ihrem ersten Erscheinen an, als anstößig empfunden worden. Der Haß gegen ihn, mit antisemitischen Nebentönen, war von dem gegen die neue Musik gar nicht so verschieden. Der Schock, den er erteilte, hat sich im Lachen entladen, einem bösen nicht ernst Nehmen, das das Wissen verdrängt, etwas sei doch daran. Wie kaum für einen anderen gilt für Mahler, daß, was über den Standards ist, diesen zugleich nicht ganz genügt; der allemal geläuterte Geschmack von Akademikern der Tonkunst kann die Mahlerschen Durchbrüche kopfschüttelnd eines Kindischen überführen. Dem Wagnerischen Wunsch, Musik müsse endlich mündig – erwachsen also – werden, hat Mahler nicht umstandslos sich gebeugt. Unbeirrtheit des Traums und ein Infantiles lassen bei ihm nicht säuberlich sich scheiden. Als Debussy die Pariser Premiere der Zweiten Symphonie protestierend verließ, hat der geschworene Antidilettant wie ein rechter Fachmann sich benommen; ihm mag die Zweite so geklungen haben, wie die Bilder von Henri Rousseau mitten unter den Impressionisten des Jeu de Paume aussehen. Mit dem Begriff des Niveaus ist Mahler unvereinbar; während er es zunächst nicht sicher besitzt, erschüttert er es dann, um die selbstgerechte Befangenheit seines Begriffs, schließlich den Kulturfetischismus zu demolieren; nicht zuletzt darauf antwortet Wut. All das trug inmitten der Tonalität sich zu. Vielleicht sind Verfremdungseffekte überhaupt nur an einem einigermaßen Vertrauten möglich; wird es ganz geopfert, zergehen auch sie. Der Bau von Mahlers Akkorden entspricht durchweg der Dreiklangsharmonik; überall sind tonale Schwerpunkte offenbar, nirgends wird die übliche tonale Idiomatik ausgesperrt. Manches ist hinter den neunziger Jahren zurück. An Stufenreichtum muten zumindest die früheren Symphonien weniger zu als Brahms, an Chromatik und Enharmonik weniger als der reife Wagner. Mahlers Atmosphäre ist der Schein des Verständlichen, in den das Andere sich kleidet. Schreckhaft antezipiert er das Kommende mit vergangenen Mitteln.
Neu ist der Ton. Er bürdet der Tonalität einen Ausdruck auf, dessen sie von sich aus schon nicht mehr fähig ist. Indem sie überfordert wird, überschreit sie sich: eine Bläserstelle des Scherzos der Siebenten Symphonie, auch eine Oboenstimme der ›Rewelge‹ bezeichnet die Partitur als »kreischend«. Das Forcierte aber wird selbst zum Ausdruck. Tonalität, die große musikalische Vermittlungskategorie, hatte sich konventionell-abschleifend zwischen die subjektive Intention und das ästhetische Phänomen geschoben. Mahler erhitzt sie von innen, vom Ausdrucksbedürfnis her derart, daß sie noch einmal aufglüht, redet, als wäre sie unmittelbar. Als explodierende vollbringt sie, was danach an die emanzipierte Dissonanz des Expressionismus überging. Das erste Trio des bereits sehr groß einsetzenden Trauermarschs der Fünften Symphonie antwortet nicht mehr mit lyrisch subjektiver Klage auf die objektive Trauer von Fanfare und Marsch. Es gestikuliert, erhebt ein Geschrei des Entsetzens vor Schlimmerem als dem Tod. Von den Angstfiguren der Schönbergischen ›Erwartung‹ ward es nicht überboten. Seine Gewalt zieht es paradox daraus, daß solcher Erfahrung noch keine musikalische Sprache bereit stand. Durch den verstörten Kontrast zur harmlosen, deren sie sich bedient, wird jene Erfahrung schlagender, als wenn die klagende Dissonanz schon ganz freigesetzt und damit wiederum eingespielt wäre. In dem sich ins Wort fallenden Duett der schneidenden Trompeten und der regellosen Geigen verwirrt sich der Gestus des Hetmann, der zum Mord ermuntert, mit dem Jammer der Opfer: Pogrommusik, so wie die expressionistischen Dichter den Krieg prophezeiten. Nach den von der Form gefaßten Marschteilen, dem emphatischen cis-moll treibt die extreme, der sicheren Mitte von Gestalt sich weigernde Ausdruckslage der Stelle das Kunstwerk ins Protokoll wie fünfzig Jahre später Schönbergs ›Überlebender von Warschau‹. Dabei aber ist die Tonalität bereits reflektierend ergriffen, als Darstellungsmittel. So hatte sie allerdings das gesamte tonale Zeitalter hindurch, in jedem einzelnen bedeutenden Komponisten, zumal in Beethoven, stets wieder fungiert, wann immer jene subjektive Intentionen objektivieren mußten. Indem jedoch Mahler die Sprache der zweiten Natur zum Reden bringt, schlägt sie qualitativ um.
Er stört das Gleichgewicht der tonalen Sprache. Unter ihren Elementen unterstreicht, bevorzugt er geflissentlich eines, das in ihr neben anderen vorhanden ist, keineswegs jedoch herausragt, und das erst durch den auffälligen Gebrauch mit Ausdruck sich füllt. Seit den Jugendliedern mit Klavier, bis zum Adagio-Thema der Zehnten Symphonie, spielt Mahlers zähe Idiosynkrasie mit dem Wechsel der beiden Tongeschlechter Dur und Moll. Er ist die technologische Formel, in welcher der Überschuß der poetischen Idee sich verschlüsselt: von Einzelwendungen, wo Dur und Moll schroff alternieren, über die Motivkonstruktion, die in der Sechsten Symphonie den Übergang von Dur in Moll, die Senkung der großen in die kleine Terz als Einheitsmoment des Ganzen wählt, bis zur Anlage von Großformen, die – am prägnantesten im ersten Satz der Neunten – durch den althergebrachten Dualismus von Maggiore- und Minore-Partien organisiert werden. Auch die Melodik schwankt zwischen großen und kleinen Terzen oder anderen dem Dur-Moll-Charakter äquivalenten Intervallen, bei identisch bewahrten Motiven. Mahler hat damit den Einwand der Manier provoziert. Ihm zu begegnen erheischt Besinnung auf den Ausdruck in Musik. Dieser ist nicht Ausdruck von etwas Bestimmtem; nicht zufällig ward espressivo zu einer allgemeinen Vortragsbezeichnung. Sie zielt auf markierte Intensität. Sie wächst der Musik zu aus deren ferner Vergangenheit, vor der Phase von Rationalität und eindeutiger Signifikation. Als ausdrucksvolle verhält Musik sich mimetisch, nachahmend, wie Gesten auf einen Reiz ansprechen, dem sie sich im Reflex gleichmachen. Dies mimetische Moment tritt in der Musik allmählich mit dem rationalen, der Herrschaft übers Material zusammen; wie beide aneinander sich abarbeiten, ist ihre Geschichte. Versöhnt werden sie nicht: auch in Musik unterdrückt das rationale Prinzip, das der Konstruktion, das mimetische. Dieses muß sich polemisch behaupten, sich selbst setzen; Espressivo ist der durchgelassene, rezipierte Protest des Ausdrucks gegen den Bann, der über ihn erging. Je versteinerter jedoch das musikalische System der Rationalität, desto weniger gewährt es dem Ausdruck seine Stätte. Damit er überhaupt noch in tonalen Mitteln laut werde, muß er einzelne herausbrechen, zur überwertigen Idee steigern, so sehr zu Ausdrucksträgern sie verhärten, wie das umgebende System sich verhärtete. Manier ist die Narbe, welche der Ausdruck in einer Sprache hinterläßt, die eigentlich zum Ausdruck schon nicht mehr zureicht. Die Mahlerschen Abweichungen sind Sprachgesten nächstverwandt: seine Eigenheiten krampfen sich zusammen wie im Jargon. Paradigmatisch sind manche hin- und herzuckenden, zugleich heftigen und gehemmten Motivwiederholungen im Maggiore des Trauermarschs der Fünften Symphonie1. Zuweilen – keineswegs bloß im Rezitativ – hat Mahlers Musik dem sprechenden Gestus so durchaus sich angeähnelt, daß sie klingt, als redete sie buchstäblich, wie es einmal, in der musikalischen Romantik, der Mendelssohnsche Titel ›Lieder ohne Worte‹ verhieß. Im Trio des Scherzos der Siebenten Symphonie, durchaus einer Dur-Moll-Partie, singen instrumentale Liedwendungen einen imaginären Text2. Extreme Sprachähnlichkeit ist eine der Wurzeln der Mahlerschen Symbiose von Lied und Symphonie, an der auch während der mittleren Instrumentalsymphonien nichts sich änderte. Die Fünfte etwa zitiert im ersten Satz ein Kindertotenlied3, das zweite Trio des Scherzos ist vom Typus des Maggiore in ›Wo die schönen Trompeten blasen‹, das Adagietto, tatsächlich Lied ohne Worte, hängt mit ›Ich bin der Welt abhanden gekommen‹ zusammen, und im Rondofinale ist eines der Hauptmotive aus dem Wunderhornlied gegen die Kritiker exzerpiert. Lied und Symphonie treffen sich in der mimetischen Sphäre, diesseits säuberlich getrennter Gattungen. Die Liedmelodie verdoppelt nicht das, wovon gesungen wird, sondern vermacht es gleichsam einer kollektiven Tradition. Auch Instrumentales und Vokales sind bei Mahler nicht unvermischten Wesens; die Instrumente schmiegen der singenden Stimme sich an, diese ergeht sich vorsubjektiv, melismatisch wie dann erst wieder in einer späten Phase der Neuen Musik. Guido Adler schon spricht von der »Begleitung von Worten zu seiner Musik«4, im Gegensatz zu jener »Begleitung der Musik zu den Worten«, die auf der Verdinglichung von beidem beruht. Alle Kategorien werden bei Mahler angenagt, keine etabliert sich in unproblematischen Grenzen. Ihr Verschwimmen entspringt nicht in Mangel an Artikulation, sondern revidiert diese: weder das Deutliche noch das Verwischte wird als endgültig definiert, beides schwebt. Wie der sich selbst überspielende Ausdruck ins Material seine Spuren gräbt, so ereilen ihn umgekehrt Spuren des Dinghaften und Konventionellen im Sentimentalen. Indem Mahler einer gleichsam vorkritischen, noch akzeptierten, aber nicht mehr tragfähigen Sprache das Eigene abverlangt, wird er dem Klassizismus inkommensurabel. Die Komplexion seiner Musik verwehrt widerspruchsfreie Synthesis. Ihr Gegensatz, das perennierend nicht Eingeschmolzene, heißt Manier; sie steht ein für den immer wiederholten und immer wieder vereitelten Versuch. Die Schicht des Dinghaften in Mahlers Musik, unerbittlich gegen die Illusion von Versöhnung der antagonistischen Elemente im Unversöhnten, ist kein Makel kompositorischer Insuffizienz, sondern verkörpert einen Gehalt, der seiner Auflösung in die Form sich verweigert. Mahlers Dur- hat ihre Funktion. Sie sabotiert die eingefahrene Musiksprache durch Dialekt. Mahlers Ton schmeckt, so wie man in Österreich die Rieslingtrauben ›schmeckert‹ nennt. Sein Aroma, beizend und flüchtig zugleich, hilft als enteilendes zur Vergeistigung. Das Schwankende, Ambivalente jenes Tons, darin wie im volkstümlichen Freischütz Liebe mit Kummer stets Hand in Hand zu gehen pflegt, setzt technisch ein Verhältnis zu Dur und Moll voraus, das zur Entscheidung nicht sich drängen läßt. Das Tongeschlecht hält sich offen, als stammte es aus einer Vorwelt, in der die antithetischen Prinzipien noch nicht als logische Gegensätze fixiert sind. Die Zwiespältigkeit, das Leiddurchtränkte auch noch der glückvollen Regung aber ist nicht, wie die billige Mahlerauffassung es will, auf Mahler als psychologisches Subjekt zu reduzieren, kein Zustand seiner Seele, sondern eine Reaktionsform in der Erfahrung des Wirklichen, ein Verhalten zur Realität, vergleichbar dem Galgenhumor, der übrigens Mahler nicht fremd war. Immer wieder wird über Mahlers Musik als Abbild seiner Seele geschwatzt. So heißt es jüngst noch in der Einleitung zu der Kletzkischen Platte der Neunten Symphonie, Mahler habe darin seine »inneren, persönlichen Probleme« kompositorisch ausgedrückt, und »when people talk about their souls the result is not always uniformly profitable«5. Weisheit desselben Schlages peroriert über Mahler als ›tragische Figur‹ und bekundet, indem sie mit unberechtigter Superiorität über seinen angeblichen Zwiespalt Krokodilstränen vergießt, die Rancune, die dem Habitus der Würdigung allemal innewohnt. Mahlers »innere, persönliche Probleme« mögen für seine Musik, zu ihrem Segen, nicht »uniformly profitable« gewesen sein, aber sie haben ihr sicherlich weniger Schaden zugefügt als der barbarische Strich im zweiten Satz jener sonst gar nicht üblen Grammophonaufnahme; die Rede von ihnen besagt wohl überhaupt mehr über die Hilflosigkeit von Geisteshistorikern geistigen Gebilden gegenüber als über diese selbst. So selbstverständlich Mahler, wie alle neuere Musik, Durchseelung voraussetzt; so wenig er bei den Tapetenmustern tönend bewegten Spiels sich bescheidet, so wenig sind seine Symphonien, in ihrem Zug zur Entäußerung, zur Totalität, an eine Privatperson gekettet, die in Wahrheit sich zum Instrument machte, um sie zu produzieren. Das widerwärtige Gegenbild zum zwiespältigen Mahler entwirft das kompositorische Subjekt als blonden Siegfried, einen harmonischen, mit sich einstimmigen Menschen, der, indem er singt, wie der Vogel singt, seinen Zuhörern ebensoviel Glück bereiten soll, wie fälschlich ihm selbst zugeschrieben wird. Das Cliché reimt sich bequem auf das entgegengesetzte vom Titanen, von dem Gott weiß warum mit sich selbst ringenden Beethoven, der es schließlich doch schafft. Aber die Qualität von Musik bewährt sich nicht in der dubiosen Leistung des Freudenbringers. Sie rangiert um so höher, je tiefer sie der Widersprüchlichkeit der Welt innewird, die auch das Subjekt durchfurcht. Mehr als bloß widersprüchlich wird sie, wo sie die Spannungen, die sie austrägt, durch ästhetische Synthesis ins Bild eines real möglichen Einen transformiert. Nicht daß Mahler die Person, und gar das immanente Subjekt seiner Kompositionen, konfliktlos gewesen wäre. Der Ton des Traumatischen an Mahlers Musik, ein subjektives Moment der Gebrochenheit, ist nicht zu verleugnen, und er hat ihn gegen die Ideologie der mens sana in corpore sano gefestigt. Aber auch wo der musikalische Verlauf Ich zu sagen scheint, ist sein Bezugspunkt, analog zum latenten objektiven Ich der literarischen Erzählung, durch den Abgrund des Ästhetischen geschieden von der Person, die das Gebilde niederschrieb. Mahler hat nicht die Wunde als expressiven Inhalt gestaltet wie Wagner im dritten Akt des Tristan. Sie manifestiert sich objektiv im musikalischen Idiom und in den Formen. Dadurch wird der Schatten von Negativität in seinen Symphonien so plastisch. Die Wunde der Person, das, was die Sprache der Psychologie neurotischen Charakter nennt, war aber eine geschichtliche Wunde zugleich, insoweit sein Werk mit ästhetischen Mitteln das ästhetisch bereits Unmögliche realisieren möchte. Nicht zum kleinsten Teil hat er sich legitimiert, indem er aus dem Defekt selber die Produktivkraft zog, die psychologischen Brüche zu objektiven erhob. Ticks des Subjekts sind dort in seiner Musik übrig, wo sie nicht ganz sich objektivierte, aber sie ist kein Seismogramm der Seele; dazu ward Musik erst im Expressionismus. Stattdessen erscheint bei Mahler jener subjektiven Vorstellung, die Musik physisch wie ein Rauschen im Kopf fühlt, die objektive Welt noch einmal, entgegenständlicht, begrifflich nicht festzunageln, zugleich aber höchst bestimmt und einsichtig. Subjektivität wird von Musik nicht so sehr mitgeteilt oder ausgesprochen, als daß in ihr wie auf einem Schauplatz ein Objektives sich zuträgt, dessen identifizierbares Gesicht ausgelöscht ist. Eher spielt ein Orchester im musikalischen Bewußtsein, als daß es auf ein Orchester sich projizierte. Vielleicht befähigt diese Auswendigkeit des musikalisch Inwendigen Musik zu jener Leistung, aus der die Psychoanalyse sie erklären möchte, zur Abwehr der Paranoia, zur Beschwichtigung des pathischen Narzißmus. Es ist nur eine andere Wendung für den gleichen Sachverhalt, daß dem, der die Sprache der Musik versteht, sich verdunkelt, was sie bedeutet: bloßes Bedeuten wäre lediglich Bild jener Subjektivität, deren Allmachtsanspruch an ihr zunichte wird. Mahlers Musiksprache hat ihre Dignität daran, daß sie ganz und gar sich verstehen läßt und sich selber versteht, aber der Hand entgleitet, die das Verstandene packen will. Nicht an ihren einzelnen Intentionen, sondern erst an dem Gewebe, in dem sie aufscheinen und wiederum versinken, wird dies Medium dem Gedanken zugänglich, in der Totalität. – Mahlers Musik drückt nicht Subjektivität aus, sondern diese bezieht in ihr Stellung zur Objektivität. In seiner Dur-Moll-Manier konzentriert sich das Verhältnis zum Weltlauf; Fremdheit zu dem, was das Subjekt gewaltsam ›abweist‹; Sehnsucht danach, der nach der endlichen Versöhnung von Innen und Außen. Die starren polaren Momente sind in der musikalischen Erscheinung vermittelt, und ihr Ineinander bewirkt den Ton. Zum Sigel der Trauer wird das längst in der Syntax der abendländischen Musiksprache neutralisierte, als Formelement sedimentierte Moll nur, indem der Kontrast zum Dur es als Modus erweckt. Sein Wesen ist es, Abweichung zu sein; isoliert übte es jene Wirkung nicht mehr aus. Als Abweichung bestimmt dies Moll zugleich sich als das nicht Integrierte, nicht hinein Genommene, gleichsam noch nicht Seßhafte. Im Kontrast der beiden Tongeschlechter ist bei Mahler ein für allemal die Divergenz von Besonderem und Allgemeinem geronnen. Moll ist das Besondere, Dur das Allgemeine; das Andere, Abweichende wird, mit Wahrheit, dem Leiden gleichgesetzt. So schlägt im Dur-Moll-Verhältnis der Ausdrucksgehalt sinnlich-musikalisch sich nieder. Der Preis dafür ist eine Regression: was Mahler der entwickelten musikalischen Kunstsprache noch einmal abverlangt, ist nichts anderes, als wofür Dur und Moll einst dem Kind standen. Solche Erweckung ist die Figur des Neuen in Mahlers Musik. Tonalität, die im permanenten Dur-Moll-Spiel sich schärft, wird zum Medium von Moderne. Die Ambivalenz des Tongeschlechts kritisiert insofern schon die Tonalität, als sie diese, durch Rückbildung, so preßt, bis sie ausdrückt, was sie nicht mehr ausdrücken kann; auch bei Schönberg wurde die Tonalität nicht durch ihre Verweichlichung sondern durch konstruktive Anspannung gebrochen. Die Mahlerschen Moll-Akkorde, welche die Dur-Dreiklänge desavouieren, sind Masken kommender Dissonanzen. Das ohnmächtige Weinen jedoch, das in ihnen sich zusammenzieht, und das, weil es Ohnmacht einbekennt, sentimental gescholten wird, löst die Erstarrtheit der Formel, öffnet sich dem Anderen, dessen Unerreichbarkeit weinen macht.
Darstellungsmittel bei Mahler ist die Tonalität insgesamt, und vorab der Dur-Moll-Dualismus, um der Abweichung willen, des Ferments eines Besonderen, das im Allgemeinen nicht untergeht und eben darum des Allgemeinen bedarf, des Bezugssystems, an dem es ablesbar wird und von dem es differiert. Allgemein sind in Mahlers Kompositionen am Ende die Abweichungen selbst. Der Ton stellt sich her nicht – wie exemplarisch bei Brahms – durch die Artikulation aller verfügbaren Mittel sondern durch Einsprengsel, die das unangefochten Herkömmliche affizieren. Die akademische Musiktheorie spricht von ›eingebürgerten‹ Akkorden und Ähnlichem. Davon wimmelt Mahlers Musik; von Assimiliertem und doch nicht ganz Autochthonem, von harmonischen und melodischen Akzidentien, chromatischen Zwischenstufen und -noten, Moll-Einschiebseln in Dur-Stellen, Intervallen aus der harmonischen Mollskala in der Melodik. Er benutzt ein Instrumentarium von Kunstmitteln, die gleich Fremdwörtern von der Diatonik längst geduldet, aber nicht eins mit ihr sind, und die durch ihr quantitatives Übergewicht diese unterhöhlen, wie wenn die rationale Ordnung der Musik sei's noch nicht ganz durchgesetzt wäre, sei's schon wieder schwankte. Vielfach verstößt die Vorliebe für jene Momente gegen die Normen des guten Musikertums. Der frühere Mahler mißachtet die elementare Forderung der Schule nach kraftvollem Fortgang der Stufen. Er häuft Orgelpunkte, Bässe, die zwischen den Hauptstufen pendeln wie im Marsch und in volkstümlichen Tänzen, verschiebt Akkorde in Parallelen, gern von Quinten. Der Generalbaß hat über ihn, wie etwas später bei Puccini und Debussy, keine rechte Autorität mehr. Auffällig auch seine Modulationsscheu; ihrer wurde er nie ganz ledig. Ursprünglich mag sie pure Unbeholfenheit gewesen sein; aber bei bedeutenden Künstlern tritt, was einmal Defekt war, indem es beharrt, zugleich in den Dienst der Sache. Daß bei Mahler Modulatorik, übrigens mit erheblichen Ausnahmen zumal in der Sechsten, Siebenten und Neunten Symphonie, relativ untergeordnet blieb, gewinnt kompositorischen Sinn. Auch mit Rücksicht auf die Vertikale verfährt Mahler selten analytisch-differential. Er organisiert nicht durch die Harmonik im Kleinsten, sondern verschafft durch sie dem Ganzen Licht und Schatten, Vordergrund- und Tiefenwirkungen, Perspektive. Darum sind ihm Tonartenflächen wichtiger als ihr bruchloser Übergang oder die harmonische Durchartikulation jeder einzelnen Fläche in sich: seine Harmonik ist makrologisch. Rückungen werden vor unmerklich-glatten Modulationen bevorzugt. Die Idee makrologischer Harmonik wirkt bis in die Anlage ganzer Symphonien hinein. In der Siebenten steht der erste Satz, nach einer im Tonartenplan weit ausladenden Einleitung, in e-moll. Die drei Mittelsätze – allesamt, auch das Scherzo, Nachtstücke – senken danach sich in die Unterdominanzregion. Die erste Nachtmusik ist in der Unterdominanztonart der Dur-Parallele von e-moll, C-Dur, beheimatet; das Scherzo fällt weiter zur Moll-Parallele der Unterdominante von C nach d-moll; die zweite Nachtmusik schließlich hält sich auf derselben harmonischen Ebene, hellt diese jedoch auf, indem sie das d-moll durch dessen Dur-Parallele, F, ersetzt. Das Finale restituiert das Gleichgewicht zwischen dem ersten Satz und den Mittelstücken. Diese indessen haben so viel Schwere, daß jenes Finale sie nicht ganz kompensiert. Es muß eine Dominante unterhalb der Paralleltonart des ersten Satzes bleiben, also im C-Dur der ersten Nachtmusik. Die harmonische Homöostase der gesamten Symphonie, die Haupttonart, wäre demnach C-Dur, und die Siebente eine C-Dur-Symphonie. – Im Gesamtplan entspricht die abrupte Behandlung der Tonarten den überraschenden Akzidentien im Einzelnen. Sie erlaubt perspektivische Verhältnisse zwischen großen Tonartenflächen anstelle des nivellierenden Übergangs, ähnlich manchen Stellen der Eroica und der Neunten Symphonie von Beethoven, und vielen bei Bruckner. Auch die reife Technik der Sechsten Symphonie und des Lieds von der Erde operiert häufig mit Rückungen um der plastischen Differenz der harmonischen Ebenen willen, ohne Furcht vorm statischen Moment in der Symphonie. Alle kompositorischen Dimensionen, auch die Metrik, tendieren zur Abweichung. Generell herrschen bei Mahler die geraden Taktzahlen vor. Agogische Modifikationen, Dehnungen und Verkürzungen jedoch werden mit Lust auskomponiert, insbesondere identische Motive in verschiedenen Längenverhältnissen, verdoppelt oder halbiert fortgesponnen: die Quantität solcher vom Vortrag angeregter Nuancen wird zur Qualität der Musik selbst.
Noch der Großrhythmus von Mahlers Formen, die Bewegung des Ganzen, ist dem Wechsel von Maggiore und Minore nah; wie vordem bei Schubert einer von Trauer und Trost. Daß diese Bestimmung in Mahlers Sinn lag, dafür gibt es ein außerordentliches Zeugnis. Zum Text des Glockenchors der Dritten Symphonie – im Wunderhorn trägt er den von Mahler verschwiegenen, insgeheim um so nachhaltigeren Titel ›Armer Kinder Bettlerlied‹6 – hat er etwas hinzugefügt; mit seinen Texten, auch dem Klopstockschen Auferstehungshymnus, dem ›Wer hat denn dies Liedlein erdacht‹, den chinesischen Vorlagen für den ›Abschied‹ verfuhr er nicht anders, als wo er in faßlich wiederholte Liedmelodien abändernd eingriff. Auf die von ihm mit »bitterlich« – einem Wort, dessen Timbre, wie das von »kläglich«, bei Mahler nachhallt – bezeichnete Stelle7 »Und sollt ich nicht weinen, du gütiger Gott« antworten im dreifachen Pianissimo, zu grellen Oboenakzenten, die Soprane, mit Mahlers eigenen Worten: »Du sollst ja nicht weinen! sollst ja nicht weinen.« Der sprachlose Wille der Musik dringt in die Sprache. Musik ruft sich selber beim Wort, als Einspruch. Pathetisch kehrt die Intention wieder im Hymnus der Achten Symphonie, bei der Anrufung des Parakleten. Indem Musik aber den Trost anredet, will sie nicht sowohl ihn ausdrücken als selber trösten. Damit ist das Gefühl der Vergeblichkeit bloßen Trostes bei Mahler stets beigemengt. Der Einspruch weiß mit sich Bescheid: nicht umsonst ist jener Glockenchor der Dritten thematisch verkoppelt mit der Vierten Symphonie, dem absurden Traum aus Blöken und schwermütigem Trost. Mütterlich fährt Mahlers Musik denen, welchen sie sich zuwendet, über die Haare. So verschränken sich in den Kindertotenliedern Zärtlichkeit des Nächsten und zwielichtiger Trost des Fernsten. Sie blicken auf die Toten wie auf Kinder. Die Hoffnung des nicht Gewordenen, die als Schein von Heiligkeit um die sich legt, welche früh starben, erlischt auch den Erwachsenen nicht. Mahlers Musik bringt Speise dem vernichteten Mund, wacht über dem Schlaf der nicht mehr Erwachenden. Gleicht jeder Tote einem, der von den Lebenden ermordet wurde, so auch einem, den sie zu erretten hätten. »Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen«, nicht weil sie Kinder waren, sondern weil fassungslose Liebe den Tod faßt einzig, als wäre der letzte Ausgang der von Kindern, Heimkehrenden. Bei Mahler ist Trost der Reflex von Trauer. Bangend konserviert Mahlers Musik darin jenes Besänftigende, Heilende, das Überlieferung seit undenklichen Zeiten der Musik als Kraft zuschrieb, Dämonen zu bannen, und das doch zur Schimäre verblaßt nach dem Maß der Entzauberung der Welt. Auf die Frage, was er einmal werden wolle, soll Mahler als Kind geantwortet haben: Märtyrer. Weil seine Musik am liebsten selbst der Paraklet sein möchte, übernimmt sie sich und wird uneigentlich. Das tingiert ihre gesamte Formsprache. Wie der Trost aufgeht als strahlendes Als ob, so spricht Mahler in indirekter Rede. Von je hat man das notiert als sein ironisches oder parodistisches Moment. Schönberg hat die meist phrasenhafte und feindselige Beobachtung auf ihre Wahrheit gebracht. »His Ninth is most strange. In it, the author hardly speaks as an individual any longer. It almost seems as though this work must have a concealed author who used Mahler merely as his spokesman, as his mouthpiece.«8 Versteckt sich der wahre Komponist, so ist der manifeste der Kapellmeister, welcher die Objektivität des Werkes gegen den fehlbaren Autor vertritt. Nach der Wagnerischen ist die Mahlersche die zweite Kapellmeistermusik höchsten Ranges; eine die sich selbst vorträgt. Der gesellschaftliche Standort der Komposition hat derart sich verändert; sie hat sich so sehr in sich zusammengezogen, daß sie eines Mediums zwischen dem Komponisten, der nicht einfach mehr sich mitteilt, und der Sache bedarf, so wie im Film der Regisseur zum Träger der Sache wird und den Autor alten Stils eliminiert. In jener Zwischenschicht verschränkt sich Mahlers Gebrochenheit mit der geschichtlichen Formproblematik. Daß er in einem Augenblick, der die sanktionierte symphonische Form als buchstäblich bereits nicht mehr zuließ, unverdrossen der symphonischen Objektivität nachhing, nötigt zum Einschub der vermittelnden Instanz. Das der Musik selbst innewohnende Subjekt, an dem ihr vortragender Gestus haftet, offenbart sich wie in der literarischen Formkategorie der Rahmenerzählung. Feind aller Illusion, betont Mahlers Musik seine Uneigentlichkeit, unterstreicht die Fiktion, um von der Unwahrheit selber zu heilen, zu welcher Kunst zu werden beginnt. So entspringt im Kraftfeld der Form, was als Charakter von Ironie an Mahler wahrgenommen wird. Merkmale der Kapellmeistermusik, die Nachbilder des Bekannten im neu Produzierten, hört bei ihm jeder Esel. Nicht jedoch die Leistung der Kapellmeisterinstanz in der kompositorischen Formulierung. Ihr fällt die gebrochene uneigentliche Objektivation auf Kosten der spontanen Einheit von Komponiertem und kompositorischem Subjekt zu. Die vermeintliche Naturwüchsigkeit des engen Stroms primärer kompositorischer Vorstellungen berichtigt sich durch die Kenntnis des Kapellmeisters von allen Möglichkeiten, aus denen er auswählen kann. Sie infiltriert den Kompositionsvorgang technologisch mit jener Reflexion, die vom Unverstand der Mahlerschen Intellektualität aufgebürdet wird. Dem Kapellmeister als Komponisten ist nicht bloß der Orchesterklang im Ohr sondern auch die Orchesterpraxis, das Wie der instrumentalen Spielweisen samt jenen Anspannungen, Schwächen, Übertreibungen und Mattheiten, welche seine Intention sich erobert. Grenzlagen und Ausnahmesituationen des Orchesters, wie der Dirigent gerade an Fehlleistungen sie studieren mag, erweitern seine Sprache, so wie die Erfahrung vom Orchester als einem lebendig spielenden, Korrektiv jeder statischen Vorstellung vom Klang, der Musik hilft, sich spontan hervorzubringen, im Fluß zu bleiben. Orchesterpraxis, in der Betriebssphäre ein unselig Positives, Fesselndes, entbindet bei Mahler die kompositorische Phantasie. Selbst seine transzendierenden Augenblicke mögen zum Urbild die zufahrende Bewegung haben, mit der der Dirigent sein Orchester packt, so wie eine Kritik Speidels der Mahlerschen Interpretation des Lohengrinvorspiels es nachrühmt. Wo immer Mahler gegen das Gefälle der Musik Charaktere als ein Besonderes setzt, dürfte die Darstellungsweise des Dirigenten in seine Komposition transferiert sein. Sie entzieht seinen Stücken die Wörtlichkeit, als wären sie einfach von Natur so, wie sie sind. Daß Mahler der musikalischen Kultur als von ihrer Sprache durchtränkter Meister zugehört und ihr doch disparat ist, wird zum Äther seiner Sprache. Sie ist eingeschliffen und die eines Fremden zugleich. Ihre Fremdheit verstärkt sich gerade durch ein allzu Vertrautes, dessen Kompositionen entraten, die so tief einig sind mit ihrer Sprache, daß diese dialektisch mit jenen sich wandelt. Bei Mahler treten Geläufiges und Dinghaftes in eine dem Deutsch Heines9 verwandte Konstellation. Brüche der Form sind darum ihm nicht vorzuhalten, weil er seine Idee an Gebrochenheit selbst hat. Wie man des öfteren behauptete, wie er es auch wohl selbst äußerte, spielte bei ihm die hartnäckige Vorstellung einer Brücke zwischen Volks- und Kunstmusik noch herein. Er hoffte auf kollektives Vernommenwerden, ohne daß er dem doch etwas an Differenziertheit hätte opfern, den Stand des eigenen Bewußtseins hätte verleugnen mögen. Objektiv-musikalisch stand dahinter das Bedürfnis nach Stärkung des Melos, nicht um seiner selbst willen – in großer Symphonik war es stets sekundär – sondern weil die Riesendimensionen der Sätze, ihr Anspruch auf Totalität, auf ›Welt‹, nichtig hätte bleiben müssen ohne das Substrat, das in ihnen seine Geschichte hat; Synthesis liefe leer ohne das Mannigfaltige, das sie synthesiert; sie darf überhaupt nicht absolut werden, wenn sie nicht ihren Sinn verlieren soll. Aber jenes Bedürfnis wurde in den zur Vulgärmusik herabgesunkenen Volksmelodien so wenig mehr befriedigt wie von aller fortgeschrittenen Kunstsprache der Epoche. Volksmusik war schon ihr eigenes Trugbild; darum mußte Mahler ihr die symphonische Intensität gewissermaßen einspritzen. Nicht zuletzt drückt seine Gebrochenheit die Unmöglichkeit jeglichen Ausgleichs zwischen dem einmal Divergenten aus. Die Anleihen beim Volkslied und bei volkstümlichen Musikformen werden durch die Kunstsprache, in die sie verschleppt sind, mit unsichtbaren Anführungszeichen versehen und bleiben Sand im Getriebe der rein musikalischen Konstruktion. Der musikalischen Logik fährt die Besinnung auf das gesellschaftliche Unrecht in die Parade, das Kunstsprache unabdingbar denen antut, die am Bildungsprivileg nicht teilhaben. Der Streit der hohen mit der unteren Musik, in dem seit der industriellen Revolution der objektive gesellschaftliche Prozeß von Verdinglichung, zugleich von Auflösung der naturwüchsigen Residuen ästhetisch sich spiegelte, und den kein künstlerischer Wille schlichtete, erneuert sich in Mahlers Musik. Seine Integrität hat für die Kunstsprache sich entschieden. Aber der Bruch zwischen den beiden Sphären war zu seinem eigenen Ton geworden, dem von Gebrochenheit. Durchweg wäre seine Musik als Pseudomorphose zu entziffern; die Abweichungen sind deren Inbegriff. Dazu wäre er mit Bruckner zu konfrontieren, mit dem man ihn, als wäre bloße Länge eine qualitative Kategorie, in den westlichen Ländern so bedenkenlos zusammenspannt. Mahler spürt Sinn im Sinnverlassenen auf, das Sinnverlassene im Sinn. Nichts dergleichen bei Bruckner; so viel ist wahr an der penetranten Rede von dessen Naivetät. Brüchig wird Bruckners Formsprache gerade, weil er sie ungebrochen verwendet. Selbst subjektivistische Elemente wie die Wagnerische Enharmonik verwandeln sich zurück in Vokabeln eines Vorkritischen, Dogmatischen. Was er von sich aus möchte, überantwortet sich, darin ähnlich dem so viel späteren Anton von Webern, ohne Zögern dem Material. Durch den Verzicht des ästhetischen Subjekts, sein Material eingreifend zu bestimmen, wie es in der großen abendländischen Musik zur Norm geworden war, empfängt seine Musik den Ton des gegen den Strich Komponiertseins. Das Gefälle von Bruckners Symphonik ist konträr zum Glauben an Komposition als subjektiven Schöpfungsakt. Demgegenüber ist Mahlers Sprache Pseudomorphose, weil sie vom objektiven Medium ihres Vokabulars zugleich sich distanziert. Sie tut ihm Gewalt an, um es beschwörend zu einer Verbindlichkeit zu nötigen, die an ihm selber problematisch ward. Ein Ausländer spricht Musik fließend, aber wie mit einem Akzent. Nur urige Reaktionäre haben das eifernd gewahrt, die Schönbergschule hat es aus Protest geflissentlich überhört, während gerade im Moment des Uneigentlichen, das die Lüge der Eigentlichkeit demaskiert, Mahler seine Wahrheit hat. Das fahle oder grelle, trübe oder überscharfe Licht, das die Abweichungen auf die Musiksprache werfen, die sie umgibt, entzieht dieser die Selbstverständlichkeit: sie erscheint wie von außen. Was musikalisch vorhanden ist, wird transparent. Aus Uneigentlichkeit wird das unersetzlich Einmalige destilliert; ein Sinn, der abwesend bliebe, wo das Besondere als Echtes ganz mit sich identisch sein wollte. Objektiv weiß und gestaltet Mahlers Musik, daß Einheit sei nicht trotz der Brüche, sondern allein durch den Bruch hindurch.
Was an Mahler klingt, als wäre es hinter seiner eigenen Zeit zurück, ist mit der Idee verzahnt. Sein Erfahrungskern, Gebrochenheit, das Gefühl der Entfremdung des musikalischen Subjekts, will sich ästhetisch realisieren, indem auch die Erscheinung nicht als unmittelbar sich gebärdet sondern ebenfalls gebrochen, eine Chiffre des Gehalts; auf diesen wiederum wirkt die abgetrennte Erscheinung zurück. Bei ihm sind die musikalischen Phänomene ebensowenig à la lettre zu verstehen, wie der Erfahrungskern geradeswegs kompositorische Struktur werden kann. Zog jegliche andere große Musik der Epoche sich zurück auf das, was in ihr einheimisches Reich fällt, ohne Anleihe bei einer ihr heteronomen Realität oder Sprache, so innervierte Mahlers Musik das Abgespaltene, Partikulare, ohnmächtig Private solcher Reinheit. In Mahler dröhnt ein Kollektives, die Bewegung der Massen etwa so, wie noch im erbärmlichsten Film für Sekunden die Gewalt der Millionen, die damit sich identifizieren. Schaudernd macht Mahlers Musik selber sich zum Schauplatz kollektiver Energien. Daß er späterhin sogar das Medium der Kammermusik verschmähte, das einer geliebt haben muß, der täglich beobachten konnte, wie sehr der Orchesterapparat das Komponierte vergröbert, zeugt davon. Mahlers Musik ist Traum des Individuums vom unaufhaltsamen Kollektiv. Zugleich aber drückt sie objektiv aus, daß Identifikation mit ihm unmöglich sei. Wie sie von der Nichtigkeit des isolierten und sich selbst als absolut verkennenden Ichs weiß, so weiß sie, daß dies Ich nicht sich aufspielen darf, als wäre es kollektives Subjekt unmittelbar. Von objektivistischen Veranstaltungen wie denen des Neoklassizismus nach ihm fehlt jede Spur; in ihren Sphären wird Mahler gehaßt. Seine Musik redet weder lyrisch vom Einzelnen, der in ihr sich ausdrückt, noch bläht sie sich zur Stimme der vielen auf oder versimpelt um ihretwillen. Sie hat ihre antinomische Spannung an der Unerreichbarkeit beider für einander. Auch wo Mahlers Symphonien das Echo kollektiver Bewegung entwerfen, gehorchen sie der Pseudomorphose durch die Stimme des Subjekts, das einsam für jene redet, zu denen hoffnungsloser Drang es zieht. Identifiziert Mahlers Musik sich mit der Masse, so fürchtet sie diese zugleich. Die Extreme ihres kollektiven Zuges, etwa im ersten Satz der Sechsten Symphonie, sind jene Augenblicke, wo der blinde und gewalttätige Marsch der vielen dazwischen fährt: Augenblicke des Zertrampelns. Daß der Jude Mahler den Faschismus um Dezennien vorauswitterte wie Kafka im Stück über die Synagoge, motiviert wohl in Wahrheit die Verzweiflung des fahrenden Gesellen, den zwei blaue Augen in die weite Welt schickten. Mahler relativiert den Standpunkt des Individuums als des substantiellen Trägers von Musik, ohne renegatenhaft zu positiver Kollektivität überzulaufen. Auch das ist eine der Facetten seiner Sprache. Sie fügt sich als eine zweite der Musik, aus den Trümmern der sei's veralteten, sei's unerreichbaren kollektiven10. Unterdessen hat diese Intention von Thornton Wilder bis Eugène Ionesco auf die avancierte Literatur übergegriffen. Wo aber Mahlers Musik nicht selbst als gebrochen auftritt, muß sie zerbrechen. Auch sie ist dem Gedanken von Karl Kraus untertan, daß ein gut gemalter Rinnstein mehr sei als ein schlecht gemalter Palast. Das hat seine Entwicklung konzediert. Technische Selbstkritik wird zu der an der Idee. Sie geleitet zur Schwelle der Intention fortgeschrittener Musik: daß Komponieren keine Chance von Objektivation hat, daß sie nicht anders vor der gesellschaftlichen Wahrheit standhält, als wo der Komponist, ohne über die ästhetische Gestalt des Komponierten hinauszulugen, rückhaltlos dem sich überläßt, was im eigenen Umkreis ihm erreichbar ist.
Zu seinen Lebzeiten hat ihm, nach dem Zeugnis Schönbergs, ein angesehener Kritiker vorgeworfen, seine Symphonien seien nichts als »gigantische symphonische Potpourris«11. So absurd das heute angesichts der Erkenntnis von Mahlers Konstruktionen dünkt, so getreu notiert es doch, was an ihnen bestürzte. Das war ihr Irreguläres, Unschematisches. Seit Berlioz begleitete den symphonischen Integrationsprozeß als Schatten Irrationalität der kompositorischen Verfahrungsweise. Bei Mahler versteckt sie sich nicht länger, offenbart aber zugleich die eigene Logik. Verglichen mit Mahlers unschematischer Prozedur war die gesamte Musik seiner Zeit, auch die des früheren Schönberg, traditionalistisch insofern, als sie fachmännisch war. Aktuell an Mahler ist genau der Kampf mit dem Fachmann. Was im Potpourri Not der wahllosen Aneinanderreihung arrivierter Melodien war, wird bei ihm Tugend eines Gefüges, das empfindlich die eingefrorenen Gruppierungen der anerkannten Formtypen auftaut. Der Zusammenhang, den diese garantieren sollten, wird nun von der Gebrochenheit der prägnanten Themen und Gestalten gestiftet; vom Anschein des schon Bekannten, durch den ein jegliches mehr ist, als es bloß ist. In der spätromantischen Symphonik, vor allem den sogenannten nationalen Schulen, bei Tschaikowsky oder Dvorák, war das vorbereitet. Die fiktiv volksliedhafte Spezifikation der Themen placiert diese derart im Vordergrund, daß sie die Vermittlungskategorien der klassizistischen Tradition, wo sie sie bemühen, zum theatralischen Rummel oder zum Füllsel entwerten. Was bei ihnen unfreiwillig vulgär war, wird bei Mahler zur herausfordernden Allianz mit der Vulgärmusik. Schamlos paradieren seine Symphonien mit dem, was allen in den Ohren liegt, Melodieresten der großen Musik, schalen volkstümlichen Gesängen, Gassenhauern und Schlagern. Sogar solche klingen an, die erst viel später geschrieben wurden, wie das Maxim-Chanson in der Ersten Symphonie oder gar, im zweiten Satz der Fünften, das Berlinische ›Wenn du meine Tante siehst‹ aus den zwanziger Jahren. Von den potpourriähnlichen spätromantischen Stücken holt er sich die zugleich auffälligen und eingängigen Einzelprägungen, beseitigt aber das läppisch gewordene Zwischenwerk. Stattdessen entwickelt er die Beziehungen konkret aus den Charakteren. Manchmal läßt er diese übergangslos aufeinanderprallen, solidarisch mit der späteren Kritik Schönbergs am Vermittelnden als dem Ornamentalen, nicht zur Sache Gehörigen. Mehr als einem Desiderat Mahlers genügt das Potpourri. Es schreibt dem Komponisten nicht vor, was auf was zu folgen habe; es befiehlt keine Wiederholungen, entzeitlicht nicht die Zeit durch prästabilierte Ordnung ihres Inhalts. Den verwesten Themen aber, die es zusammenrafft, hilft es zum Nachleben in der zweiten Musiksprache. Diese bereitet Mahler artifiziell. Ihm wird das Potpourri Form durch unterirdische Kommunikation seiner zerstreuten Elemente, eine Art triebhaft ungebundener Logik. Jakobinisch stürmt die untere Musik in die obere ein. Die selbstgerechte Glätte der mittleren Gestalt wird demoliert vom unmäßigen Klang aus den Pavillons der Militärkapellen und Palmengartenorchester. Geschmack hat für Mahler so wenig Autorität wie für Schönberg12. Symphonik gräbt nach dem Schatz, den allein noch der Wirbel von Pauken aus der Ferne oder Stimmgeräusche verheißen, seitdem Musik als Kunst häuslich sich einrichtete. Sie möchte die Massen ergreifen, die vor der Kulturmusik flüchteten, ohne doch ihnen sich gleichzuschalten. Daß sie schwerlich symphonischen Organismen ohne Krücken folgen und desto lieber über deren Mangel an Kultur sich entrüsten würden, ist nicht einkalkuliert. Wohl aber wird die Konsequenz daraus gezogen, daß die disparaten Niveaus nicht dekretorisch wiederzuvereinigen sind. Das ungehobene Untere wird als Hefe in der hohen Musik verrührt. Drastik, Sinnfälligkeit eines musikalisch Einzelnen, das weder auszutauschen noch zu vergessen wäre: die Kraft des Namens13 ist vielfach in Kitsch und Vulgärmusik besser behütet als in der hohen, die schon vorm Zeitalter radikaler Konstruktion all das dem Stilisationsprinzip opferte. Jene Kraft wird von Mahler mobilisiert. Frei wie nur einer, der selber von Kultur nicht ganz verschluckt ist, greift er auf musikalisch obdachlosem Zug nach dem zerbrochenen Glas auf der Landstraße und hält es gegen die Sonne, daß alle Farben darin sich brechen. »Daß gerade er, der Bedürfnislose, der ›Barbar‹, wie wir ihn oft wegen seiner Abneigung gegen Luxus und die Annehmlichkeiten und die Verschönerung des Lebens nannten, von solcher Herrlichkeit umgeben sei, erscheint ihm wie eine Ironie des Schicksals, die ihm oft ein Lächeln über sich selber abzwingt.«14 Im erniedrigten und beleidigten Musikstoff schürft er nach unerlaubtem Glück. Er erbarmt sich des Verlorenen, damit es nicht vergessen sei und der Gestalt zum Guten anschlage, die es behüten soll vor der sterilen sich selbst Gleichheit. Wie ingeniös er das Heteronome, den Bodensatz fürs autonome Gebilde einsammelt, bezeugt das skandalös gewagte Posthornsolo der Dritten Symphonie. Darin komponiert Mahler das subjektive Rudiment aus, das Rubato des Blasenden. Fanfare und Lied spielen ineinander: der wirkliche Liedeinsatz15 erfolgt auf der Dominante, als wäre unerhörbar ein Melodieteil schon vorhergegangen; die Dehnungen des Vertrags verändern auch hier metrisch die Melodie, retten sie vor trivialer Achttaktigkeit. Unmerklich expressiv ist die Harmonik dazu. Ist Banalität Inbegriff musikalischer Verdinglichung, so wird sie bewahrt und gemildert zugleich durch die beseelt improvisierende Stimme, die dem Dinghaften sich einlegt. So wird noch das Brüchige eingebaut, ohne daß das Ganze zerbräche. Beim zweiten Auftritt des Posthorns aber horchen, nach Mahlers Vorschrift, die Geigen diesem nach16; als schüttelten sie den Kopf darüber. Indem sie das Unmöglich des Geschmacks reflektieren, der auf seinem Urteil: Kitsch besteht, bejahen sie die Möglichkeit, das Versprechen, ohne das keine Sekunde sich atmen ließe.
Mahler hat die Revolte wider die bürgerliche Musik aus dieser selbst herausgelesen. Seit Haydn wird in ihr ein Plebejisches tradiert. In Beethoven rumort es, übrigens ist auch Faust, auf dem Osterspaziergang mit dem pedantisch gelehrten Famulus, Sprecher jener Schicht, als wäre sie Natur. Die Emanzipation der bürgerlichen Klasse fand ihr musikalisches Echo. Ästhetisch jedoch so wenig wie in der Realität war sie identisch mit der Menschheit, die sie proklamiert. Humanität wird eingeschränkt vom Klassenverhältnis. Daß sie den formal Gleichberechtigten vorenthalten bleibt, macht deren Attitude aufsässig. Solange sind die Bürger Plebejer, wie ihr autonomer Geist nicht universal sich verwirklicht. Auch im Kunstwerk: schlecht Gekleidete, Unmanierliche tummeln sich in einem festlichen Raum, dessen absolutistische Imago die bürgerliche Musik weiter entwirft. Mit der Konsolidierung des Bürgertums hatte sich dann das plebejische Element allmählich zum folkloristischen Reiz gemäßigt. Bei Mahler, in einer Phase, in der die erdrückende Realität vom ästhetischen Sensorium nicht mehr im Bilde zu schlichten war, wird jener Klang schrill. Was zuzeiten der bürgerliche Geschmack als rote Blutkörperchen zur eigenen Regeneration goutierte, trachtet nun jenem nach dem Leben. Noch Beethoven versöhnte das plebejische Moment mit dem klassizistischen im Verhältnis zu einem Mannigfaltigen, das zwar als ›Material‹ bearbeitet wird, nirgends aber eigenständig, ungeschliffen heraussticht. Mahlers Stunde aber kannte kein Volk mehr, das als naturwüchsig sich hätte wahrnehmen lassen, und dem musikalisches Spiel mit Anstand sein Kostüm hätte entleihen können. Ebensowenig erlaubt der mittlerweile erreichte Stand der musikalischen Materialbeherrschung, das Plebejische zu absorbieren. Darum verkörpert bei Mahler das Untere nicht Elementarisches und Mythos, nichts Naturhaftes, auch wo seine Musik derlei Assoziationen streift wie in den Stimmungen der Herdenglocken; dort holt eher eine Musik Atem, die sich den Weg zurück versperrt weiß, als daß sie jenen Weg vortäuschte. Vergebens die Suche nach Geistfernem in Mahler. Vielmehr ist das Untere bei ihm das Negativ der Kultur, die mißlang. Form, Maß, Geschmack, schließlich die Autonomie der Gestalt, die seinen Symphonien selbst vorschwebt, sind gebrandmarkt von der Schuld derer, die die anderen davon ausschließen. Wodurch Kunstwerke zum Sinnzusammenhang werden, der Schein, der sie abdichtet von der Schmach der Wirklichkeit; ihr Wählendes und Erlesenes, basiert nicht bloß gesellschaftlich auf der materiellen Verfügung und der in dieser entspringenden Bildung, sondern trägt das Vorrecht als noli me tangere hinein in ihr Allerheiligstes. Der Geist, der in großer Musik desto selbstherrlicher sich zelebriert, je größer sie ist, verachtet die niedrige, körperliche Arbeit der anderen. Nach solchen Regeln möchte Mahlers Musik nicht mitspielen. Desperat zieht sie an sich, was Kultur verstößt, so armselig, verwundet, verstümmelt, wie Kultur es ihr übermacht. Das Kunstwerk, gekettet an Kultur, möchte die Kette zerreißen, Barmherzigkeit üben am schäbigen Rest; jeder Takt bei Mahler öffnet weit die Arme. Was aber von der Norm der Kultur fortgewiesen ward, der Freudische Abhub der Erscheinungswelt, erschöpft sich, nach der Idee solcher Symphonik, nicht vollkommen in Komplizität mit der Kultur: Freuds Lehre vom Einverständnis von Es und Über-Ich gegen das Ich ist wie Mahler auf den Leib geschrieben. Abhub soll das Kunstwerk hinaustreiben über den Schein, zu dem es unter der Kultur ward, und etwas von jener Leibhaftigkeit wiederherstellen, durch welche Musik von anderen ästhetischen Medien insofern sich unterscheidet, als ihr Spiel nichts vorstellt. Kraft des Unteren als eines Gesellschaftlichen meint Mahlers Musik hinaus über den Geist als Ideologie. Die erste Niederschrift des Themas »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« aus der Achten Symphonie, seit Dezennien in der Wohnung Alban Bergs, steht auf einem Stück Klosettpapier. Der verborgene Impuls seiner Musik will den Überbau vertilgen, zu dem vordringen, was die Immanenz der Musikkultur verdeckt. Dessen aber ist Kunst so wenig wie irgendeine Gestalt der Wahrheit als reiner Unmittelbarkeit mächtig. Unverführt von der Romantik des Eigentlichen und Wesentlichen, prätendiert Mahler nirgends, jenes Nackte unmetaphorisch, als an sich Seiendes vor Augen zu stellen. Daher die Gebrochenheit. Was bei Beethoven noch als Spaß sich vermummt: daß die Vögel am Ende der Szene am Bach wie mechanische Spielzeuge leiern; die unfreiwillige Komik der Ursymbole aus Wagners Ring, wird zum Apriori alles dessen, was in Mahlers Musik Natur heißt. Erst die Einsicht darein schützt Mahler vor jenem Enthusiasmus, der seit seinen Anfängen in dem grausligen Wort ›kosmisch‹ sich zusammenfaßte und dem Hohn über den Intellektuellen sich darbietet, der auf der Alm Stunden der Einkehr feiere. Nicht jedoch verspottet Mahler wie Strawinsky seine infantilen Modelle. Der Stellung der Mahlerschen Musik zur Objektivität ist hämisches Archaisieren fremd. Weder am ohnmächtig Alten noch am impotenten Subjekt kühlt er sein Mütchen. In seinen vielberufenen ironischen Momenten klagt das Subjekt der Vergeblichkeit der eigenen Anstrengung sich an, anstatt die verlorene und beschworene Bilderwelt zu verlachen. Nie beruhigt sich Mahler bei jenen Momenten. Das Subjekt, das aus dem Überbau hinabsteigt, reißt hoch und verändert, worauf es stößt. Wollte man, auf die Gefahr des prompten Mißverständnisses hin, Mahler und Strawinsky mit Strömungen der Psychologie vergleichen, dann hielte Strawinsky es mit den Jungschen Archetypen, während das aufklärerische Bewußtsein von Mahlers Musik an die kathartische Methode jenes Freud mahnt, der, deutsch-böhmischer Jude wie Mahler, in einer kritischen Phase dessen Leben kreuzte, aus Ehrfurcht vor dessen Sache darauf verzichtete, die Person zu heilen, und damit ums Ganze den Diadochen überlegen sich zeigte, welche Baudelaire mit der Diagnose seines Mutterkomplexes erledigen. Das kompositorische Subjekt bildet bei Mahler nicht sich der infantilen Schicht an, sondern läßt sie herein, um sie zu entmythologisieren. Nach der Destruktion der zur Ideologie erniedrigten Kultur von Musik schichtet sich aus den Bruchstücken und Erinnerungsfetzen das zweite Ganze. In ihm läßt subjektiv organisatorische Kraft Kultur wiederkehren, gegen welche Kunst sich auflehnt, aber die sie nicht ausrottet. Jede Mahlersche Symphonie fragt, wie aus den Trümmern der musikalischen Dingwelt lebendige Totalität werden kann. Nicht trotz des Kitschs, zu dem sie sich neigt, ist Mahlers Musik groß, sondern indem ihre Konstruktion dem Kitsch die Zunge löst, die Sehnsucht entbindet, welche der Kommerz bloß ausbeutet, dem der Kitsch dient. Der Verlauf von Mahlers symphonischen Sätzen entwirft Rettung kraft der Entmenschlichung.
III
Wie Mahler jeweils verfährt, richtet sich nicht nach überkommenen Ordnungsprinzipien, sondern nach dem spezifischen musikalischen Inhalt und der Konzeption des Gesamtverlaufs. Wesentliche Gattungen seiner Formidee aber sind Durchbruch, Suspension und Erfüllung. Durchbruchsstellen sind jene der Ersten Symphonie, später die D-Dur-Wendung der Bläser im zweiten Satz der Fünften. Suspensionen komponieren das alte senza tempo aus in dem Fortgang gegenüber exterritorialen Partien; vom Totenvogel vorm Choreinsatz der Zweiten über die Posthornepisode der Dritten, über die Episoden in den Durchführungen der ersten Sätze der Sechsten und Siebenten bis zu den Takten des Frühlings im ›Trunkenen‹ des Lieds von der Erde und der gehaltenen Stelle der Burleske der Neunten. Die Mahlerschen Suspensionen sedimentieren sich mehr stets zu Episoden. Diese sind ihm wesentlich: Umwege, die rückwirkend als die direkten sich erweisen. Von den kodifizierten Formkategorien kommt der Mahlerschen von Erfüllung am nächsten noch der Abgesang der Barform, der seiner Generation durch die Meistersinger eingeübt war. Erfüllungen als Abgesang sind etwa das kurze Expositionsende im ersten Satz der Dritten oder der Schluß der Reprise des Finales der Sechsten, ehe die Einleitung zum letzten Mal erscheint; auch die dritte Strophe des ersten Satzes des Liedes von der Erde. Daß, bis zu ihrer Renaissance in Wagner, Abgesänge die gesamte Generalbaßära hindurch kaum geschrieben wurden, erklärt sich wohl damit, daß sie, als Erfüllung eines musikalischen Zusammenhangs durch ein ihm gegenüber wesentlich Neues, mit der Idee der immanenten Geschlossenheit der neueren Musik kollidierten, deren Ökonomieprinzip alles wie Zinsen vom Grundstock hecken ließ. Mahlers Revolte gegen solche Sparsamkeit erinnerte sich an den Abgesang unabhängig von historischer Bildung. Als Abgesang wird in Mahlers Symphonik, was nicht formimmanent, nicht kalkulabel ist, selbst zur Formkategorie, Anderes und Identisches zugleich. Das Uneigentliche tastet nach seinem An sich; nach dem, was die einzelnen Themen aus Askese gegen den subjektiven Anspruch, das Ganze aus sich heraus zu schaffen, ausgespart haben. Archaische Reste in der Volksmusik, vor allem im Marsch, mögen Mahler zur Rekonstruktion von Abgesängen bewogen haben. Ihr Vorbild in körperlicher Bewegung ist die Folge von auf der Stelle Treten und Frei weg. Aufgespeicherte Kraft wird losgelassen. Erfüllung ist Entfesselung, das physische Muster von Freiheit. Zu ihrem Typus rechnen weiter, ohne Abgesangsfunktion, der Repriseneinsatz im ersten Satz der Achten, die Fortissimo-Wiederkehr des Hauptthemas im Anfang des ersten Satzes der Neunten und sehr vieles im Finale der Sechsten, schon das Ende von deren Seitensatz in der Exposition. Erfüllt jedoch sind bei Mahler nicht nur solche Formteile, sondern jene Idee ist die gesamte symphonische Struktur hindurch am Werk. Allenthalben wird die Verpflichtung von Erwartung honoriert. Musik heimst Erfüllung als Gewinst ein, wo sie auf dramatische Schürzung, momentanen Einstand verzichtet. Mahler konnte Erfüllungsfelder beim frühen Brahms finden; so im ersten Satz des g-moll-Klavierquartetts, auch in der Marschepisode von dessen Andante. Die Geschichte der Musik des neunzehnten Jahrhunderts hatte, insoweit sie an Leitton und Chroma sich orientierte, die Spannungen ungemein vermehrt, die Entspannungen entwertet. Dadurch ist technisch eine Disproportion, dem Gehalt nach etwas von Versagung entstanden. Beides hat sich verstärkt, je weniger die Mittel, die konventionell Erfüllung vorspiegelten, vor allem die Wiederherstellung der Haupttonart, angesichts der anwachsenden Spannungen mehr ausreichten. Der Diatonik hielt Mahler sicherlich nicht zuletzt darum die Treue, weil er die Spannungen energischer ausgleichen wollte, als die Mittel des Tristan gestatteten. Da er jedoch nicht mehr schlicht auf die Tonalität vertrauen konnte, wurden ihm Erfüllungen zur Aufgabe der rein musikalischen Gestalt. Wo Doppelpunkte oder Fragezeichen komponiert sind, dürfen sie von keinem bloßen Satzzeichen beantwortet werden sondern stets nur mit einem Satz. Die aktuelle Energie der Charaktere darf nirgends geringer sein als die potentielle der Spannung: die Musik sagt gewissermaßen voilà. Dies Moment hat dann Schönberg geerbt, dessen Satz, die Musiktheorie handle immer nur von Anfang und Schluß und nie vom Entscheidenden dazwischen, auf jenen Sachverhalt anspielt. Seine Idee des Spannungsausgleichs durch den dynamischen Inbegriff der Form ist das Selbstbewußtsein eines Mahlerschen Bedürfnisses. Gerechtigkeit waltet in der Kompositionstechnik. Aber sie erschöpft sich nicht im Maß für Maß. Der permanente Bedacht auf Erfüllung zitiert das Unaustauschbare mitten in die kompositorische Verfahrungsweise, anstatt es als abstraktes Wunschbild oder als poetisierende Vision draußen zu halten. – Durchbruch ist stets Suspension, die des Immanenzzusammenhangs; aber nicht jede Suspension ist Durchbruch. Daß sie zu diesem die Kraft hat, lernt Mahler bezweifeln; kaum mehr riskieren seine Sätze nach der Fünften die Vorstellung eines Transzendenten als neue Unmittelbarkeit. Unwillkürlich hat seine kompositorische Logik jener philosophischen sich angeglichen, der zufolge aus der Dialektik nicht ins Unbedingte sich herausspringen läßt ohne Gefahr des Rückfalls ins gänzlich Bedingte: er scheut sich kompositorisch den Namen Gottes zu nennen, um ihn nicht seinem Widerpart auszuliefern. Die Intention des Durchbruchs wird allmählich mediatisiert. Die Suspensionen kündigen die Formimmanenz, ohne die Gegenwart des Anderen positiv zu behaupten; Selbstbesinnungen des in sich Befangenen, nicht länger Allegorien des Absoluten. Retrospektiv werden sie von der Form aufgefangen, aus deren Elementen sie gefügt sind. Mahlers Erfüllungsfelder leisten in der Form, durch ihre Relation zum Vorhergegangenen, was der Durchbruch vom Außen sich versprach und was der symphonisch-dramatische Typus der Explosion des Augenblicks vorbehielt. Momentan bei Mahler ist der Durchbruch, die Suspensionen dehnen sich aus, Erfüllungen sind thematische Gestalten spezifischen Wesens. Darin aber, daß Mahlers Musik das Versprechen hält; daß es dort wahrhaft kommt, wo sonst, nach Busonis Bemerkung, Höhepunkte erreicht werden, nach denen es enttäuscht und enttäuschend wieder von unten anfängt, kommt ein Verlangen nachhause, das eigentlich, vom ungebändigten Geist, an alle Musik herangetragen wird und über das der gebändigte nur darum als Geschmack erhaben sich wähnt, weil er immer wieder darum betrogen ward und in den größten Kunstwerken am meisten. Die Idiosynkrasie gegen den Kitsch ekelt sich vor dessen Anspruch, das Erwartete zu sein, das er doch durch seinen Defekt entwürdigt. Er äfft mit dem, was er zugleich vor der Kunst voraus hat. Mahler möchte die schlechte Alternative wegräumen, indem er dem Kitsch raubt, was die hohe Musik versagt, und ihn vom Schwindel kuriert durch den Zug der hohen Musik, dem allein Erfüllung wahrhaft zuteil wird. Nimmt Mahler Abschied vom glorreichen Augenblick, so hinterläßt ihm dieser Flächen der dauernden Gegenwart. In seinen Erfüllungspartien verweilt, was sonst entflieht, wie vor ihm vielleicht nur manchmal bei Bruckner: dem Fis-Dur-Mittelsatz aus dem Adagio von dessen Siebenter Symphonie. Die aus einem unscheinbaren Kontrapunkt aus dem Hauptthemenkomplex gebildete G-Dur-Episode nach der Exposition des ersten Satzes der Vierten Symphonie Mahlers, eine selige Stelle, liegt vor dem Hörer da wie das Dorf, vor dem ihn das Gefühl ergreift, das wäre es1. Daß die Musik solcher Dauer mächtig werde, entschädigt für die Abdankung des authentisch symphonischen Prinzips. Das Mahlersche Formgefühl verlangt aber, daß dieser episodische Charakter der Gesamtsymphonie nicht wieder entgleite; das lang ausgesponnene erste Thema des Variationssatzes der Vierten hat, ohne alles schrille Pathos, denselben Frieden eines wunschlos Heimatlichen, geheilt vom Schmerz der Grenze. Seine Verbürgtheit, welche die Beethovensche nicht zu fürchten braucht, besteht die Probe dadurch, daß Sehnsucht rastet, unbestechlich jedoch wieder laut wird im klagenden zweiten Thema, mit dem singenden Nachsatz des Transzendierens2.
An Mahlerschen Kategorien wie Suspension oder Erfüllung geht eine Idee auf, die über den Umfang seines oeuvres hinaus dazu beitragen könnte, Musik durch Theorie zum Sprechen zu bringen: die einer materialen Formenlehre, also der Deduktion der Formkategorien aus ihrem Sinn. Sie wird von der akademischen Formenlehre versäumt, die mit abstrakt-klassifikatorischen Einteilungen wie der nach Hauptsatz, Überleitung, Nebensatz und Schlußsatz haushält, ohne daß sie diese Abschnitte ihrer Funktion nach begriffe. Bei Mahler überlagern sich die üblichen abstrakten Formkategorien mit den materialen; zuweilen werden jene spezifisch zu Trägern des Sinnes; zuweilen auch konstituieren sich materiale Formprinzipien neben oder unter den abstrakten, die zwar weiterhin das Gerüst beistellen und die Einheit stützen, selber aber keinen musikalischen Sinnzusammenhang mehr hergeben. Mahlers materiale Formkategorien werden physiognomisch besonders deutlich dort, wo die Musik einstürzt wie im Kaleidoskop. Der Ausklang der Durchführung des ersten Satzes der Neunten Symphonie etwa wirkt, nach den Worten von Erwin Ratz, »wie ein furchtbarer Zusammenbruch«3. Die traditionelle Formenlehre kennt, meist in den Schlußgruppen vor der Coda, Auflösungsfelder. In ihnen zergehen die thematischen Konturen in ein mehr oder minder formelhaftes Tonspiel, etwa auf der Dominante; nicht ungewöhnlich sind auch über verhältnismäßig weite Strecken auskomponierte Diminuendi. Die Einsturzpartien Mahlers jedoch vermitteln nicht mehr bloß zwischen anderen oder besiegeln Entwicklungen, sondern sprechen für sich selbst. Während sie eingebettet sind in den Gesamtverlauf der Form, erstrecken sie sich in dieser zugleich als ein Eigenes: die negative Erfüllung. Tritt in den Erfüllungsfeldern ein, was die Entwicklung verhieß, so ereignet sich in den Einstürzen, wovor der musikalische Verlauf sich ängstigt. Sie modifizieren nicht bloß die Komposition, die in ihnen weniger dicht würde oder vollends zerstäubte. Sie sind Formteile als Charaktere. Materiale Formenlehre hätte durchweg Formabschnitte Mahlers zum Gegenstand, die anstatt mit Charakteren ausgefüllt, dem eigenen Wesen nach als Charaktere formuliert werden. Die Kategorie des Einsturzes läßt auf ein sehr frühes und einfaches Modell sich zurückverfolgen, den Schluß des dritten Gesellenlieds: »Ich wollt', ich läg' auf der schwarzen Bahr'«, wo über einem Dominantorgelpunkt aneinandergereihte Akkorde nach unten schreiten. Sie gehen nicht zu einem Anderen über; sie sind selber Ziel, die Motivfragmente danach bloß noch Coda; das letzte Lied dann Epilog. Diesen Typus hat Mahler unverkennbar im ersten Satz der Zweiten Symphonie übernommen4, der überhaupt die Tendenz zusammenzustürzen zeigt. Mit voller Meisterschaft ist ein solcher Zusammenbruch komponiert im Trauermarsch der Fünften Symphonie5. Er dynamisiert die Form, ohne daß doch die traditionellen Formrayons durch Entwicklung einfach abgeschafft wären; vielmehr ist die Dynamik des Katastrophenabschnitts selbst zugleich ein Charakter, ein quasi räumliches Feld. Nicht nur wird durch die Einsturzteile einem formalen Entspannungsbedürfnis genügt, sondern sie entscheiden inhaltlich die Musik durch ihren ausgeführten Charakter.
Mahlers Charaktere insgesamt machen eine Bilderwelt aus. Der erste Blick sieht sie als romantisch, sei's ländlich-landschaftlich, sei's kleinstädtisch, wie wenn der musikalische Kosmos an einem unwiederbringlichen gesellschaftlichen sich wärmte; wie wenn die ungestillte Sehnsucht nach rückwärts projiziert wäre. Daß Mahler trotzdem vor Spitzweg und den Butzenscheiben gefeit war, indem sein Schwung die Idylle, nach dem Modell der Wagnerischen Meistersinger, zum Entwurf eines dynamischen Ganzen ausweitete, war nur durch die Gebrochenheit seiner imagines möglich. Umgekehrt werden diese gebrochen auch vom symphonischen Zug, dessen Totalität die Unmittelbarkeit der Details auslöscht. In den Gedichten, mit denen Mahlers Musik sich durchtränkte, denen des Wunderhorns, waren Mittelalter und deutsche Renaissance selber schon Derivate wie auf gedruckten fliegenden Blättern, die von edlen Rittern melden, während sie bereits halbwegs Zeitungen sind. Wahlverwandt war Mahler seinen Texten weniger in der Illusion des Heimeligen als im Vorgefühl unverändert-wilder Zeitläufte, das ihn in geordnet spätbürgerlichen Verhältnissen überfiel, vielleicht motiviert von der Not seiner eigenen Jugend. Seinem Mißtrauen gegen den Frieden der imperialistischen Ära ist Krieg der Normalzustand, die Menschen sind wider ihren Willen gepreßte Soldaten. Er plädiert musikalisch für die Bauernlist gegen die Herren; für die, welche Reißaus nehmen vor der Ehe; für Außenseiter, Eingekerkerte, darbende Kinder, Verfolgte, verlorene Posten. Auf Mahler allein paßte das Wort sozialistischer Realismus, wäre es nicht selber so depraviert von Herrschaft; häufig klingen die russischen Komponisten der Jahre um 1960 wie ein verschandelter Mahler. Berg ist der legitime Erbe jenes Geistes; in den Ländler, der im Wozzeck den armen Leuten zum ungelenken, unfreien Tanz aufspielt, tönt ein Klarinettenrhythmus aus dem Scherzo der Vierten Symphonie herein. Die vorwaltende Ideologie des Wahren, Schönen, Guten, mit der Mahlers Musik zu Anfang sich gemein macht, schlägt um in stichhaltigen Protest. Mahlers Menschheit ist eine Masse von Enterbten. Das materialistische Moment lassen auch die Spätwerke nicht sich abmarkten: die Desillusion, in der sie terminieren, antwortet auf das geschichtliche Leid, dessen Furchen Mahlers Musik auf dem Antlitz einer Vergangenheit gewahrt, von der noch zu singen und zu erzählen wäre. Mahlers Romantik negiert sich selbst durch Entzauberung, Trauer, langes Eingedenken. Geschichtlich aber ist seine Bilderwelt, auch als die seiner eigenen Stunde, Abschiedsgruß dessen, was an Enklaven des traditionalen, vorkapitalistischen Europa im spätindustriellen sein Dasein fristete und was, verurteilt schon von der Entwicklung, vom Widerschein eines Glücks strahlt, das niemals gegenwärtig war, solange die einfache Warenwirtschaft als Produktionsform herrschte. Mahlers altdeutsche imagines sind ebensosehr Traumwünsche ums Jahr 1900. Zur zweiten Nachtmusik der Siebenten Symphonie könnten Verse das Motto abgeben wie die Rilkeschen »Die Uhren rufen sich schlagend an, und man sieht der Zeit auf den Grund«. Der Band, in dem sie stehen, heißt ›Buch der Bilder‹. Sie waren ephemer genug, und ein Hauch ihrer Sentimentalität beeinträchtigt auch die Mahlersche Bilderwelt. Seine Musik jedoch reicht über ihre Dimension dadurch hinaus, daß sie nicht, wie etwa auch die Wesensschau der gleichzeitigen Phänomenologie, in den Bildchen sich stillt, sondern diese zu einer Bewegung verhält, die schließlich doch die jener Geschichte ist, welche das beseligte Verharren in den Bildern so gern vergessen möchte.
Bunt verschieden, spielen dabei die Bilder proteisch ineinander. Über ihren Wandel wacht extreme Bestimmtheit der Komposition. Jedes Phänomen, vom ganzen Symphoniesatz bis hinunter zur Einzelphrase, zum Motiv und seiner Abwandlung leistet genau, eindeutig das, was es leisten soll: die neue Musik, Berg zumal, hat ihm das abgesehen. Entwicklungen bei ihm sprechen gleichsam: dies ist eine Entwicklung; unverkennbar schroff fahren Unterbrechungen dazwischen; öffnet sich die Musik, so hört man die Doppelpunkte; erfüllt sie sich, so übertrifft die Linie merklich an Intensität was vorherging, und verläßt nicht die errungene Ebene. Auflösungen verwischen klar die Konturen und den Klang. Das Marcato unterstreicht das Wesentliche, meldet: »Hier bin ich«, ein Danach wird von Fragmenten früherer Motive demonstriert, ein in Fluß Kommen vom harmonischen Fortgang; was ganz anders sein soll und neu erscheinen, ist es wirklich. Solche Präzision arbeitet die Charaktere heraus: sie fallen zusammen mit ihrer emphatischen Formfunktion, der characteristica universalis von Mahlers Musik. Die Norm von Deutlichkeit, der er zumal die Instrumentation rigoros unterwarf, entstand aus kompositorischer Selbstbesinnung: je weniger die Tonsprache mehr die Musik artikuliert, desto strenger muß diese selbst für ihre Artikulation sorgen. Deshalb nennt sie gleichsam ihre Formen beim Namen, komponiert ihre Typen aus wie nachmals paradigmatisch Schönbergs Bläserquintett6; der imaginäre Adrian Leverkühn, der mehr von Mahler empfing als bloß das hohe g der Celli vom Ende der ersten Nachtmusik der Siebenten Symphonie, hat jenes Prinzip zum Kanon seiner Werke erkoren. Mahlers Unnaivetät im Verhältnis zur eigenen Sprache hat in Verdeutlichung ihr technisches Korrelat. Was charakterisiert, ist eben dadurch schon nicht mehr einfach, was es ist, sondern, wie das Wort Charakter es will, Zeichen. Seine funktionellen Charaktere: was jeweils die Einzelpartie für die Form leistet, hat Mahler aus dem Fundus der traditionellen Musik geschöpft. Aber sie werden verselbständigt, ohne Rücksicht auf ihre Stellung im tradierten Schema verwendet. So kann er Melodien erfinden, die schlechterdings den Charakter des Nachher haben, Essenzen von Sonatenschlußgruppen: solcher Art ist etwa die Abgesangsgestalt des Adagiettos der Fünften Symphonie7. Ihr Charakter dürfte herrühren vom gedehnten Beginn, einem Zögern, das den Zeitverlauf sistiert und die Musik zum Rückblick verhält. Essentiell ist solchen schließenden Modellen der von Mahler überhaupt bevorzugte Sekundschritt nach unten. Er ist der sich senkenden Stimme abgehorcht, melancholisch wie der Sprechende, der Endungen fallen läßt. Ohne daß Bedeutungen dazwischen sich schöben, wird ein Sprachgestus auf die Musik übertragen. Freilich fungiert ein so Alltägliches wie der Sekundschritt nach abwärts gestisch nur als Hervorgehobenes; das Adagietto ist reich an Sekundsenkungen schon vorher, aber erst in jenem Nachsatz werden sie durch die Dehnung zum Besonderen. Insgesamt neigt Mahlers Musik zur Senkung. Ergeben schickt sie sich ins Gravitationsgefälle der musikalischen Sprache. Indem jedoch Mahler ausdrücklich es sich zueignet, färbt es sich mit expressiven Valeurs, die ihm im üblichen tonalen Zusammenhang mangelten. Sie kontrastieren Mahler und Bruckner. Die Differenzen des Tonfalls stehen für solche der Intention, der affirmativen Bruckners und der Mahlerschen, die ihren Trost in rückhaltloser Trauer hat. So rein wie in jenem Abgesang indessen wohnen selten die Mahlerschen Charaktere den Einzelgestalten inne. Meist sind sie mitbestimmt durch ihr Verhältnis zu Vorhergehendem. Die chromatisch absteigende Schlußgruppe im ersten Satz der Zweiten Symphonie wirkt zerschmettert-beruhigt nur nach dem heftigen Ausbruch8.
In die charakteristische Einzelheit sickert der Sinn ein, der samt dem ritualen Vollzug des Ganzen entwich. Darum jedoch findet die Musik nicht ihren Frieden in Details, die geladen, aber bloß aufgereiht und gegeneinander gleichgültig wären. Je weniger vielmehr die Form substantiell vorgegeben ist, desto hartnäckiger fragen nach ihr Kompositionen, die mit der schutzlosen Einzelheit anheben. Das Ganze, das einmal apriorischer Grund der Komposition war, wird zur Aufgabe eines jeden Mahlerschen Satzes. Form selber soll charakteristisch, Ereignis werden. Diese Fragestellung war innerhalb der Tradition herangewachsen. Symphonischer Zug, Schwung war die Fähigkeit der Musik, Momentum zu gewinnen wie zumal in Beethovens Durchführungen. Auch Mahler gebricht sie nicht; großartig manifestiert sie sich in manchen Stellen des Walzerkomplexes des zunächst statisch exponierten Scherzos der Neunten Symphonie9. Mahlers Gesamtsätze aber sind durchweg Ströme, auf denen hinfährt, was immer an Einzelnem in sie hineingerät, ohne daß sie doch je das Bestimmte ganz aufsögen. Sie können das Charakteristische nicht verschwinden machen, weil sie keine Struktur jenseits der Konfiguration des Charakteristischen anerkennen. Solche Intention aufs Ganze ist Mahlers Antithesis zur Spätromantik, die ihren Ehrgeiz an der bloßen Charakteristik des Einzelnen hatte und damit es zur Ware verdarb. Noch wo der junge Mahler nach der Übung der Zeit genreähnliche Stücke schreibt, erbeben sie vom Ganzen; selbst was der Beschränktheit sich freut, möchte der eigenen Schranken ledig werden. In die wohlgeordneten Gruppen des ersten Satzes der Fünften sind dynamische Partien eingelassen: so schon in der Rückleitung nach dem ersten Trio10. Siedend fährt die Fanfare bei ihrer ersten Wiederkehr in der Marschexposition in eine Masse, die mit einem Beckenschlag aufzischt11. So wird disziplinwidrige Klage frei inmitten der einigermaßen statischen Flächen eines militärisch durchstilisierten Marschs. Schmerzvoll entäußert bei Mahler das lyrische Einzelsubjekt durch den Formverlauf, den es initiiert, sich seiner bloßen Einzelheit. Nicht harmonisch stimmen Einzelnes und Ganzes zusammen wie im Wiener Klassizismus. Ihr Verhältnis ist aporetisch. Der Zug der Totale muß das Einzelne relativieren, um sich durchzusetzen; die Details dürfen ihm nicht konziliant willfahren, wenn sie nicht die Charakteristik verlieren sollen, die allein zum Ganzen sie qualifiziert; bei all ihrem Eigensein bleiben sie gegenüber der Idee eines Ganzen wesentlich unabgeschlossen. Wie Mahler die Aporie bewältigt, ist seine kompositorische Leistung. Entweder er experimentiert mit dem Einzelnen so lange, bis doch ein Ganzes daraus wird. Oder er vermeidet geflissentlich, kunstvoll die gerundete Ganzheit: dann wird ihre Absenz zum negativen Sinn. Oder er prägt das Einzelne, Irreguläre, das klingt wie ein von der Gesamtkomposition passiv rezipierter Einfall, insgeheim doch schon derart, daß es nicht einfach da, nichts Endgültiges, ›Hinzunehmendes‹ ist, sondern über sich und sein begrenztes Sosein hinaus will. Verbindliche Unverbindlichkeit der Einzelformulierung, der Verzicht auf fixierte Themen ist dazu das vornehmste Mittel. Subjektivität, die bei Mahler ans Objektive ihres Stoffes sich zu entäußern scheint, reicht doch in diesen hinein: daran hat seine objektivistische Intention ihre Grenze. Die plastisch-nachsingbaren Modelle, die von der Liedmelodie sich herleiten, ruhen gleichwohl nirgends in sich. Die alte Dynamik der symphonischen Kompositionsweise hat sich der emanzipierten Details bemächtigt. Zuweilen gehen sie über ins Andere, zuweilen verlangen sie es als Kontrast; manchmal spalten sie sich auf wie einst im Klassizismus die Auflösungsfelder. Insofern wehrt Mahlers Musik sich ebenso gegen den Formalismus der Akademien wie gegen die flache Assoziation von Partikularem in der neudeutschen Schule. Visiert wird ein objektives Ganzes, das weder etwas von der subjektiven Differenzierung opfert, noch die eigene Objektivität erschleicht.
Darum hat dem universalen Charakterisierungsbedürfnis Mahlers der begrenzte Typenschatz der großen Musik allein nicht genügt. Durch den unangefochtenen Primat des Ganzen über die Teile im Wiener Klassizismus gerieten dort die Gestalten vielfach einander ähnlich und rückten zusammen. Sie scheuten den extremen Kontrast, ohne den gerade das Mahlersche Ganze nicht sich formiert. Nach Sukkurs sieht er sich nicht nur in der absinkenden Spätromantik sondern vor allem in der Vulgärmusik um. Diese offeriert ihm drastische Stimulantien, welche der selektive Geschmack der oberen Musik ausschied, wie das ›Elektrisierende‹ der Militärkapellen. Die Stelle mit den Trillern aus der Allegro-Exposition des Finales der Sechsten Symphonie12 glaubt man wer weiß wie oft in Märschen schon vernommen zu haben. Durch den Kontext aber, in dem jene Triller pfeifen, werden sie blutig unmetaphorisch, wie sie es an Ort und Stelle niemals sich träumen ließen. Dies Tödliche, Unstilisierte ist den Mahlerschen Charakteren wesentlich: Freude ist eigentlich, und nicht nur bei ihm, kaum ein Charakter. Wo der junge Mahler in ungebrochenem Österreichisch wohlig zu komponieren vorhat, wie im Andante der Zweiten Symphonie, nähert er sich dem Gefälligen, später im Adagietto der kulinarischen Sentimentalität; die Musik des reifen Mahler kennt Glück nur noch als widerrufliches, wie in der schillernden Episode der Sologeige in der Reprise des Finales der Sechsten Symphonie13; der Trunkene im Frühling jubiliert so, wie Wagner am Schluß des ersten Tristanaktes für die Komposition es entdeckt hat: »O Wonne voller Tücke! O Trug – geweihtes Glücke!«14 Charakterisierung, Objektivation des Expressiven, ist mit Leiden verschwistert. Ihr schmerzliches Moment durchsäuert in den Spätwerken die gesamte Komplexion Mahlers. Seine tonale, überwiegend konsonierende Musik hat manchmal das Klima der absoluten Dissonanz, die Schwärze der neuen. Zuweilen werden die Charaktere des Ausbrechenden und des Finsteren eins im Ton panischer Wildheit; außer im ersten Trio aus dem Trauermarsch der Fünften und vielem aus der Sechsten potenziert vor allem in der Durchführung der Dritten sich die Kraft des Musikstroms und seiner Strudel ins Schreckhafte; die Komposition wird disproportional zum Leib des Menschen. Wild stellt der Ausbruch von dorther sich dar, woraus ausgebrochen wird: der antizivilisatorische Impuls als musikalischer Charakter. Solche Augenblicke rufen die Lehre der jüdischen Mystik herauf, welche das Böse und Zerstörende als versprengte Manifestation der zerstückten göttlichen Gewalt deutet; insgesamt dürften die Mahlerschen Züge, denen man das Cliché pantheistischer Gesinnung aufgeklatscht hat, eher aus einer unterirdisch-mystischen Schicht stammen als aus der ominösen monistischen Naturgläubigkeit. Das könnte die von Guido Adler zögernd als »paradox« vorgebrachte Bemerkung erhellen, monotheistische und pantheistische Aspekte überschnitten sich in Mahler15.
Charakterisiert wird das Mahlersche Klangmaterial bis in die Physiognomik von Instrumenten hinein, die ungebändigt aus dem Tutti herausspringen: die emanzipierten, das Gleichgewicht störenden Posaunen im ersten Satz der Dritten Symphonie; hallende, dröhnende Paukenmotive in der ersten Nachtmusik und dem Scherzo der Siebenten, auch schon dem der Sechsten. Im Mahlerschen Orchester kippt erstmals die Balance um, die bei Wagner, trotz allen Zuwachses an Farbe gegenüber dem Klassizismus, noch waltet. Die Verdeutlichung der Einzelstimme geht auf Kosten der Klangtotale. Im Finale der Ersten Symphonie steigert sich Zerrissenheit über alles vermittelnde Maß hinaus in ein Ganzes von Verzweiflung, hinter der dann freilich der bedenkenlose Schlußtriumph zu einem bloßer Regie verblaßt. Der geschlossene Klangspiegel zerbricht in einer neuen Musik mit traditionellen Mitteln. Zwischen dem akademisch Mißglückten und dem ästhetisch Gelungenen ist darin so wenig zu unterscheiden wie stets bei bedeutenden Kunstwerken. Genialisch beweist Mahlers Formgefühl sich daran, daß er inmitten der zerklüfteten Gesamtlage eine ungemein lange und intensive, nicht abreißende Oberstimmenmelodie setzt, so als bedürfe jene Anlage des anderen Extrems, eines gegenüber dem Ganzen sich verselbständigenden Teilganzen, das in seiner Umgebung, die es nicht eindämmen kann, zu glühen beginnt. Derselbe Instinkt, der Mahler dem Atomisierten das Undurchbrochene zu kontrastieren befiehlt, verhindert ihn dann, wider das Sonaten- und Rondoschema, daran, die ihrer Struktur nach einmalige Des-Dur-Melodie zu wiederholen. Sie erscheint bloß noch fragmentarisch, im Wirbel der Atome. Durch ihre eigene Vernichtung wird sie doch noch integriert; selbständig könnte sie nach solcher Vernichtung nicht ein zweites Mal kommen. Mahler verfährt mit der Form unschematisch nicht aus der bloßen Gesinnung des Innovators sondern aus der Erkenntnis, daß musikalische Zeit, im Gegensatz zur Architektur, keine einfachen Symmetrieverhältnisse gestattet. Das Gleiche ist ihr ungleich, Ungleiches mag Gleichheit stiften; nichts ist indifferent gegen die Sukzession. Was immer geschieht, muß spezifisch dem Rechnung tragen, was zuvor geschah. Die Erste Symphonie, in der Mahler noch nicht mit der Schwere der Tradition es aufnimmt, ist an antiformalistischen Charakteren besonders reich. Unvermittelte Kontraste schleudert sie bis zur Ambivalenz von Trauer und Spott. Das Potpourri des dritten Satzes gibt sich vom Weltlauf geschlagen, den zu bewältigen es verzweifelt, und koordiniert Unvereinbares, schon ziemlich zu Beginn16 und vor allem bei der plötzlichen Beschleunigung17.
Die Charaktersymphonie schlechthin ist die Vierte. Ihre Totalität, gänzlich gebrochen, ist vom charakterisierenden Bedürfnis hervorgebracht, das Ganze Charakter so sehr wie seine Elemente. Sie untersteht einem Gesetz von Verkleinerung. Ihre Bilderwelt ist die von Kindheit. Die Mittel sind reduziert, ohne schweres Blech; Hörner und Trompeten bescheidener besetzt. Keine Vaterfiguren haben Einlaß in ihren Bezirk. Der Klang hütet sich vor jener Monumentalität, die sonst seit Beethovens Neunter der symphonischen Idee sich gesellt. Solche Askese macht die instrumentale Charakterisierungskunst sich zunutze: was als solistisch intime Farben, als melodische, nicht fanfarenhafte Stimmen, als weichere und dunklere Substitute der Bläserbässe die Hörner in der Vierten hergeben, ist ohne Beispiel, selbst in den Meistersingern. Die Notwendigkeit, aus kleiner Palette das vielfältigste Kolorit hervorzuholen, resultiert in neuen Kombinationen wie der gedeckt-düsteren von tiefen Hörnern und Fagotten im zweiten Satz, neuen Timbres wie dem transparenten der Klarinetten im letzten. Das Unisono der vier Flöten in der Durchführung18 verstärkt nicht bloß den Klang. Es schafft einen sui generis, den einer Traumokarina: so müßten Kinderinstrumente sein, die keiner je vernahm. Die Verminderung des Apparats führt der Symphonik kammermusikalische Verfahrungsweisen zu, auf die dann Mahler, nach dem Alfresco der drei ersten Symphonien, immer wieder zurückgriff, am entschiedensten in den Kindertotenliedern, die im Variationensatz der Vierten zitiert sind19. So wenig jene freilich, im letzten Gesang, Kammermusik bleiben, so wenig die Vierte Symphonie. Wann immer sie es will, übt sie große Tuttiwirkungen aus, denen die Kammerkomplexe als Moment sich einfügen. Auch sie sind Funktionen der Komposition, des Satzes: durchleuchten das subtile, unablässig sich modifizierende Stimmgeflecht. Zu den breiten Pinselstrichen kontrastiert es nicht nur, sondern geleitet zu ihnen durch Verdichtung. Bei der Klimax am Ende der Durchführung schallt die pathetische Fanfare der Fünften herein20. Sie soll, nach einer Mahler zugeschriebenen Äußerung, die Durchführung, die in Schumanns Sinn »fast zu ernst« sich gebärdet, zur Ordnung und zum Spiel zurückrufen; mit einem Gestus wienerischer Skepsis war alles so gut wie nichts. Durch die Stelle werden die vier ersten Symphonien mit den mittleren rein instrumentalen verklammert. Alle Werke Mahlers kommunizieren unterirdisch miteinander wie die Kafkas durch Gänge des von diesem geschilderten Baus. Kein Werk von ihm ist so durchaus Werk, daß es gegen die anderen Monade wäre. Die kompositorische Souveränität, die er in der Ökonomie der Vierten erwarb und retrospektiv auf die Bilderwelt der sogenannten Wunderhornsymphonien übertrug, bildet schon jeden Takt gänzlich durch. In der Vierten Symphonie kontrapunktiert er erstmals im Ernst, ohne daß freilich die Polyphonie schon über den Vorstellungsschatz der früheren Stücke herrschte. Der Kontrapunkt will jene Intensität der Faktur herstellen, die durchs Opfer des schweren Blechs sich mindern mochte. Aber auch die Kontrapunkte charakterisieren. Im ersten Themenkomplex des ersten Satzes wird einer von Klarinetten und Fagotten improvisiert21, umhüllt von den Streichern, dennoch bei richtiger Aufführung nicht zu überhören. Durch das Nonenintervall, das in der fausse reprise nach dem Expositionsende in den Vordergrund dringt, erobert er allmählich die Gleichberechtigung eines Hauptthemas, die ihm der schulgemäße Aufbau zunächst verweigert. Das übergroße Intervall, vom kleinen d bis zum eingestrichenen h, nach dem das Kontrapunktthema von Anbeginn sich auszustrecken scheint, wird erst in jener fausse reprise von den Celli gebührend eingelöst22. So lang ist Mahlers symphonischer Atem, daß er eine Spannung über viele Gruppen eines Satzes hin latent durchfühlen läßt und erst bei der Wiederkehr des Modells ausgleicht. Nicht weniger spontan ist die Formbehandlung. Auf dem Höhepunkt des ersten Satzes wird ein absichtsvoll infantiles, lärmend lustiges Feld23 erreicht, dessen Forte immer ungemütlicher wird bis zur Rückleitung mit der Fanfare. Schleunigst aber, und anstößig nach aller Formenlehre, wiederholt es sich in der Reprise24, anstelle der ursprünglichen Überleitung25. Das hat seinen genauen Formsinn. Die Lärmstelle nämlich ist motivisch jener früheren Überleitung – oder, wenn man will, dem Abgesang zum Hauptthema – verwandt. Käme jedoch die Stelle in ihrer ersten Gestalt wieder, so fiele sie gegen ihre Modifikation im ersten fanfarenhaften Lärmfeld ab. Eine Fanfare nun ist nicht weiter zu entwickeln; nur zu repetieren, als käme manisch die Musik vom Gedanken an den Ausbruch nicht los. Darum nimmt sie hier lieber primitive und verfrühte, aber durch Unregelmäßigkeit eindringliche Identität in Kauf, als ein weiter Entferntes aufzuwärmen oder in der Reprise abermals eine Dynamik anzudrehen, welche die sehr ausführliche der Durchführung vergebens nur duplizierte. Wenn dann, nachdem die Durchführung, unterm Diktat der Fanfare, versickernd den Reprisenbeginn maskiert hat, die Musik mit einer Generalpause von der Szene gejagt wird, bis plötzlich26 das Hauptthema inmitten seiner Reprise fortfährt27, so gleicht das dem Glück des Kindes, das jählings aus dem Wald durchs Schnatterloch auf dem altertümlichen Miltenberger Marktplatz sich findet. Der Haydnscherz der Kindersymphonie weitet sich in der Vierten zu einem geräumigen Phantasiereich, in dem gleichsam alles noch einmal vorkommt. So wie jenes Lärmfeld machen Kinder Lärm, die auf Töpfe schlagen und womöglich sie zusammenhauen. Der Zerstörungsdrang, der böse hinter aller Triumphmusik lauert und sie beschämt, wird entsühnt als unrationalisiertes Spiel. Die gesamte Vierte Symphonie schüttelt nichtexistente Kinderlieder durcheinander; ihr ist das goldene Buch der Musik das Buch des Lebens. Wie das Geräusch der großen Trommel darin, haben vor dem siebenten Jahr einmal die Trommeln ausgesehen; sie ist der solitäre Versuch der musikalischen Kommunikation mit dem déjà vu, von waschechter Farbe wie die imago des Zigeunerwagens und der Schiffskajüte. Sie gewahrte Mahler auch an den Märschen, denen sein Ohr alles vergessend nachlief wie Kinder dem klingenden Spiel von Triangel und Schellenbaum. Klingendes Spiel ist dem musikalischen Sensorium des Kindes ein Ähnliches wie bunte Fahrscheine dem optischen, herausleuchtend aus dem alltäglichen Grau, letzte Spur einer vom Kommerz noch nicht konfiszierten Wahrnehmungswelt. Unter den Kinderbildern von Mahlers Musik fehlt nicht die verwehende Spur von Musikzügen, die fern aufblitzt und mehr verheißt, als sie je in betäubender Nähe bringt; unwillkürlich erinnert, klingen die Märsche, die einst Zwang ausübten, bei Mahler wie Träume von ungeschmälerter Freiheit. Erleichtert war die Adaptation der Märsche, weil sie, trotz ihrer Zugehörigkeit zur von Bildung abgewerteten unteren Musik, über einen Kanon von Verfahrungsweisen, eine relativ hoch entwickelte Formensprache verfügten, deren Suggestivkraft der symphonischen gar nicht so fern war, wie es dem Kulturhochmut dünkte. Wie später in den Jazz, ist wahrscheinlich im neunzehnten Jahrhundert ein gewisser Typus künstlerisch unprätentiöser, aber handwerklich qualifizierter Musiker in die Militärmusik gegangen und hat dort einer kollektiven Unterströmung recht genaue kompositorische Formeln gefunden; das mochte Mahler an ihnen bewundern. Wer aber auf Märsche den Besitztitel anmeldet wie einst auf seine Bleisoldaten, dem öffnet sich das Tor ins Unwiederbringliche. Kaum ist das Entrée billiger als der Tod. Mahlers Musik ist wie Eurydike aus dem Totenreich entführt. Nicht nur im zweiten Satz der Vierten überblenden sich die Bilder des Kindes und des Todes. Dämmert über Äonen die Sprache auf, die man als Kind verstand, so ist das Glück, abermals sie zu sprechen, gekettet an den Verlust von Individuation. Kinder, welche die komplexe und vielschichtige Musik Mahlers kaum richtig auffaßten, haben doch vielleicht im Irrtum den seligen Schmerz von Liedern wie ›Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald‹ besser verstanden als die Erwachsenen. Indem Mahler ihnen die musikalische Speise kocht, mißt er abgründig dem geschichtlichen Vorgang der Regression des Hörens sich an. Einer im Ich geschwächten Menschheit, unfähig zu Autonomie und Synthesis, springt er tröstlich bei. Er simuliert die zerfallende Sprache, um das Potential dessen freizulegen, was besser wäre als die stolzen Kulturgüter.
Nirgends ist Mahlers Musik mehr Pseudomorphose als in der seraphischen Symphonie. Die Schelle des ersten Takts, die ganz leise die Flötenachtel anfärbt, hat von jeher den normalen Hörer schockiert, der sich zum Narren gehalten fühlte. Wirklich ist es eine Narrenschelle, die, ohne es zu sagen, sagt: Was ihr nun vernehmt, ist alles nicht wahr. Eine Textstelle aus dem Wunderhorngesang ›Der Schildwache Nachtlied‹, in dem herrlich dissonanten Mittelteil der weit geschwungenen Intervallbögen, heißt: »An Gottes Segen ist alles gelegen! Wer's glauben tut! Wer's glauben tut!«28 Das kommentiert das Bild der Seligkeit, mit dem die Symphonie endet. Sie malt das Paradies bäuerlichanthropomorph aus, um anzumelden, daß es nicht sei. Der Unglaube, der das Christentum in allen bekehrten Ländern grundiert, die es unterwarf, und in dem Reste mythischer Naturreligion mit Ansätzen von Aufklärung undurchdringlich sich vermischen, zieht ein in musikalische Bilder des Glaubens. Die Narrenschelle hat sogleich ihre kompositorische Konsequenz. Das Hauptthema, das dem Ununterrichteten wie ein Zitat aus Mozart oder Haydn klingt und in Wahrheit aus dem Nachsatz des Gesangsthemas im Allegro moderato von Schuberts Es-Dur-Sonate für Klavier op. 122 stammt, ist von allen Mahlerschen das uneigentlichste. Disparat bleiben der symphoniefremde Schellenanfang und das naiv sich gerierende, auseinandergenommene, herumgewürfelte Thema. Auch die Instrumentation ist nicht geheuer. Undenkbar wären die konzertierenden Solobläser der Einleitungstakte in jenem Wiener Klassizismus, nach dem das Hauptthema auslugt. Mit der Konsequenz des Unstimmigen stellen dann immer weiter Bläserstimmen den sicheren Primat der Streicher in Frage; so schon in der Fortsetzung des Hauptthemas, einem Nachsatz in hohen, mit Anstrengung melodieführenden Hörnern29. Vollends gebrochen ist das Ende vom Lied der himmlischen Freuden, das Mahler sicherlich mit Bedacht aus dem Zyklus der Wunderhornlieder ausschloß. Nicht nur bescheiden sind jene Freuden wie ein nützliches süddeutsches Gemüsegärtchen, voll von Mühe und Arbeit: »Sanct Martha die Köchin muß sein«30. Verewigt in ihnen sind Blut und Gewalt, Ochsen werden geschlachtet, Rehe und Hasen laufen zum Festschmaus auf offener Straße herbei. Das Gedicht kulminiert in einer aberwitzigen Christologie, die den Heiland der darbenden Seele als Nahrung serviert und unwillentlich das Christentum als mythische Opferreligion verklagt: »Johannes das Lämmlein auslasset, der Metzger Herodes drauf passet.« Dazu intonieren die Flöten die staccato-Achtel aus der Narreneinleitung des ersten Satzes und die Klarinetten deren Sechzehntelfigur. Mit den traurig lächerlichen Verwicklungen einer rudimentären Durchführung trübt Musik unmißverständlich ein Paradies, das sie rein nur dort hält, wo sie selber Himmelsmusik spielt. Die durch Parodien berühmte Geigenstelle aus der Coda des ersten Satzes aber, die drei »sehr zurückhaltenden« Viertel vorm letzten Grazioso-Einsatz des Hauptthemas31 sind wie ein lange zurückschauender Blick, der fragt: Ist das alles denn wahr? Musik schüttelt dazu den Kopf; deshalb muß sie mit der karikierenden Konvention des fröhlichen Beschlusses der vor-Beethovenschen Symphonie sich Courage kaufen und sich aufheben. Mahlers Theologie ist, abermals wie die Kafkas, gnostisch; seine. Märchensymphonie so traurig wie die Spätwerke. Erstirbt sie nach den verheißenden Worten »daß alles für Freuden erwacht«, so weiß keiner, ob sie nicht für immer einschläft. Die Phantasmagorie der transzendenten Landschaft wird von ihr gesetzt und negiert zugleich. Unerreichbar bleibt Freude, und keine Transzendenz ist übrig als die von Sehnsucht.
Selbst die von Intentionen überquellende Vierte aber ist keine Programmusik. Von dieser unterscheidet sie sich nicht bloß durch Verwendung der sogenannten absoluten Formen Sonate, Scherzo, Variationen, Lied; auch die drei letzten, umfangreichen symphonischen Dichtungen Straussens kennen dergleichen. Umgekehrt ist Mahler, auch nachdem er vom Programm nichts mehr wissen wollte, nicht umstandslos unter die Praxis von Bruckner oder Brahms, oder gar die Ästhetik von Hanslick zu subsumieren. Die Komposition hat das Programm verschluckt; die Charaktere sind seine Denkmäler. Mahlers wahre Differenz vom Programm wird erst in der Konstellation der Charaktere mit dem Banalen recht einsichtig. Er verschreibt darum sich nicht dem Programm, weil er weder dem Zufall ausgeliefert sein will, ob die poetischen Hilfsvorstellungen sich einstellen oder nicht, noch die Bedeutung der musikalischen Gestalten dekretorisch festlegen. Die Charakteristik bei Strauss scheitert daran, daß er die Bedeutungen rein vom Subjekt her, autonom definiert. Das erlaubt ihm seine trouvailles bis zur Elektra, verhindert aber zugleich das zwingend Beredte, auf das er alles setzte. Mahlers Medium ist stattdessen das der objektiven Charakteristik. Jedes Thema hat, über den bloßen Notensachverhalt hinaus, sein geprägtes Wesen, fast jenseits der Erfindung. Warten die Motive der Programmusik auf die Etiketten der Leitfäden und Erläuterungen, so besitzen die Mahlerschen Themen ihren eigenen Namen jeweils an sich, ohne Nomenklatur. Solche Charakteristik aber hat Aussicht auf Verbindlichkeit nur, wofern die kompositorische Phantasie nicht Intentionen nach Belieben hervorbringt, also nicht etwa Motive ersinnt, die nach einem Plan dies oder jenes ausdrücken sollen, sondern mit einem musiksprachlichen Material arbeitet, in dem Intentionen bereits objektiv vorhanden sind. Sie werden dann von der kompositorischen Phantasie, als vorgedachte, gleichsam zitiert und dem Ganzen zugeeignet. Die Materialien, die das leisten, sind jene, die banal heißen: in denen Bedeutung allgemein, vorm individuellen kompositorischen Zugriff, sich sedimentierte und zur Strafe die Spontaneität lebendigen Vollzugs einbüßte. Solche Bedeutungen regen abermals sich unter dem Stab der Komposition und fühlen ihre Kraft. Sie werden zu Kompositionselementen herabgesetzt und zugleich aus ihrer dinghaften Starrheit gelöst. Derart ist Mahlers Musik »konkret zur Idee« bestimmt. Überall ist sie mehr, als sie bloß nach ihren Parametern wäre; nirgends aber auch bedarf es, um dies Mehr zu verstehen, eines abstrakten Wissens jenseits ihrer Erscheinung oder des Einschnappens von Assoziationen, die ebensogut ausbleiben könnten. Insofern wird das Novum der Mahlerschen Konzeption erzeugt durch etwas, was isoliert genommen reaktionär gescholten werden könnte.