»Los, umdrehen, die Hände auf den Rücken, Sie kennen das ja.« Menkhoff hielt die Waffe auf Lichner gerichtet, der sich mit versteinerter Miene umwandte. Noch immer verwirrt über das, was ich gerade gehört hatte, zog ich die Handschellen aus meinem Gürtel, sicherte die Pistole und steckte sie zurück in das Holster, dann ließ ich die metallenen Bügel um Lichners Handgelenke einrasten.
»Sie lassen sich schon wieder von ihm benutzen, Herr Seifert«, sagte er in den tristen Flur seiner Wohnung hinein. »Ich habe kein Kind, und das weiß –«
»Halten Sie den Mund«, fiel Menkhoff ihm ins Wort, und in seiner Stimme schwang etwas mit, was unangenehme Erinnerungen in mir hervorrief. »Wenn Sie dem Mädchen etwas angetan haben, werden Sie im Knast krepieren, das schwöre ich Ihnen, Sie verdammtes Schwein.«
Ich machte ein paar Schritte zurück, und Lichner wandte sich uns wieder zu. »Ich habe es Ihnen schon mehrfach gesagt, ich habe kein Kind. Weder eine Tochter noch einen Sohn. Außerdem verbitte ich mir diese Beleidigungen, Herr Hauptkommissar.«
»Sie verbitten sich Beleidigungen? Ausgerechnet? Ich sage Ihnen mal was, Herr Doktor Lichner: Wenn Sie nicht endlich die Wahrheit sagen, kann es sein, dass ich mich vergesse, und dann wird es Ihnen auch nichts nützen, dass Sie sich das verbitten.«
Der Psychiater schüttelte den Kopf. »Was soll ich Ihnen denn anderes sagen, als dass ich keine Tochter habe?« Seine Stimme klang nun bemerkenswert ruhig angesichts des Vorwurfs, mit dem er gerade konfrontiert worden war. Sein Blick heftete sich auf mich, und nicht zum ersten Mal löste er damit ein Gefühl bei mir aus, das ich nicht einordnen konnte. »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber … bitte, Sie können doch nicht ernsthaft glauben, ich würde meinem eigenen Kind etwas antun und dann behaupten, gar kein Kind zu haben. Für so verrückt können selbst Sie mich nicht halten. Da spielt mir jemand einen üblen Streich, und Sie fallen prompt darauf herein.«
Menkhoff senkte die Waffe und ging auf Lichner zu. Dicht vor ihm blieb er stehen, so dicht, dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Ich beobachtete sie beide genau und war bereit, einzugreifen, falls es notwendig werden sollte.
»Es ist so eine Sache mit dem Glauben, Herr Lichner. Es gab eine Zeit, da konnte ich nicht ernsthaft glauben, dass jemand so abartig ist, ein kleines Mädchen umzubringen, in einen Plastiksack zu stecken und wegzuwerfen wie ein verdammtes Stück Müll.« Er sprach nun so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. »Nein, ich halte Sie nicht für dumm, Lichner. Ich halte Sie für psychopathischen Abschaum, der nicht in den Bereichen denkt, die für einen normalen Menschen logisch sind.«
Lichner zeigte sich wenig beeindruckt. »Ich habe das damals nicht getan, und Sie wissen das.«
Es kam mir vor, als versuchten beide, den anderen mit dem bloßen Blick in die Knie zu zwingen.
»Das frisch gestrichene Zimmer da drinnen … das war das Kinderzimmer, oder? Das Zimmer Ihrer Tochter.« Menkhoffs Stimme klang beschwörend.
»Blödsinn.«
»Warum haben Sie ausgerechnet diesen Raum neu gestrichen, während der Rest Ihrer Bude eine vergammelte Müllkippe ist?«
»Irgendwo muss man ja anfangen.«
»Was war vorher in dem Zimmer?«
»Nichts Bestimmtes. Durcheinander, eine Abstellkammer.«
Ein erneuter Moment des stummen Anstarrens, dann nickte Menkhoff und machte ein paar Schritte zurück. »Dr. Joachim Lichner, Sie sind verdächtig, Ihre Tochter entführt zu haben. Ich erkläre Ihnen nun Ihre Rechte.«
»Sie können sich Ihre albernen Formalitäten sparen, Herr Hauptkommissar. Wir wissen doch alle drei, worum es Ihnen wirklich geht, nicht wahr?«
Menkhoffs Gesicht verfärbte sich dunkelrot, und ich befürchtete, er würde sich jeden Moment auf den Mann stürzen. »Bernd«, sagte ich beschwörend, während Bilder der Vergangenheit an mir vorbeirasten, die schon lange hätten verblasst sein müssen. Als er nicht reagierte, wiederholte ich noch einmal eindringlicher: »Bernd …«
Endlich riss er sich von den Augen seines Gegenübers los und sah mich an. »Was?« Ich schüttelte leicht den Kopf und hoffte, er würde es registrieren. Einen Moment lang schien er sich nicht schlüssig zu sein, was er tun sollte, dann aber atmete er geräuschvoll aus und drehte sich weg. »Ruf die Spurensicherung an, Alex. Die sollen diesen Stall umkrempeln und DNA-Material sicherstellen. Ich brauch was von dem Mädchen. Danach tu mir den –«
Er wurde durch ein zweimaliges, trockenes Klacken schräg hinter ihm unterbrochen und fuhr herum. Die vergammelte Tür der Nachbarwohnung wurde geöffnet, eine schlanke, stark geschminkte Frau mit roten, struppigen Haaren tauchte auf. Sie mochte Mitte dreißig sein und wirkte ungepflegt. Als sie unsere Waffen sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus und erstarrte. »Polizei!«, schnauzte Menkhoff sie an. »Verschwinden Sie.«
Hastig schlüpfte sie wieder in ihre Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.
»Mensch, Bernd …«, sagte ich und ging an Menkhoff vorbei zu der Tür gegenüber.
»Was?«
»Wart mal kurz.«
Keine fünf Sekunden nach meinem Anklopfen öffnete die Rothaarige die Tür, sie musste direkt dahinter gestanden haben. Zwischen den Fingerspitzen ihrer rechten Hand qualmte eine gerade angesteckte Zigarette. Missbilligend musterte sie mich und sah dann an mir vorbei auf Menkhoff, der noch immer mit gesenkter Waffe vor dem Psychiater stand.
»Guten Tag«, sagte ich und zog damit ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Kriminalhauptkommissar Alexander Seifert, ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Was is’n mit dem?« Sie sah zu Dr. Lichner herüber. »Hat der was angestellt?«
»Das wissen wir noch nicht. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«
»Ullrich. Beate Ullrich. Wieso?«
»Wohnen Sie hier?« Sie sah mich an, als hätte ich sie gefragt, ob sie eine Frau ist. »Was denn sonst? Hab doch aufgemacht.«
»Wie gut kennen Sie Ihren Nachbarn, Dr. Lichner?«
»Den?« Wieder der Blick in Richtung des Psychiaters. »Gar nicht. Wieso?«
Beim nächsten Wieso würde ich möglicherweise die Geduld verlieren. »Aber Sie wissen schon, dass er hier wohnt, Frau Ullrich?«
Sie tat einen langen Zug an der Kippe und sagte: »Ja, logo, weiß ich.« Der blauweiße Rauch quoll ihr dabei zwischen den Worten aus dem Mund. Normalerweise reagieren die Leute leicht nervös, wenn wir vor der Tür stehen, selbst wenn nicht gerade im Hintergrund eine Waffe auf den Nachbarn gerichtet ist. Diese Frau war entweder abgebrüht im Umgang mit der Polizei, oder sie konnte sich gut verstellen. »Wohnt Dr. Lichner alleine hier?«
»Wieso fragen Sie nich ihn?«
»Hören Sie gefälligst auf, Gegenfragen zu stellen, und antworten Sie meinem Kollegen«, fuhr Menkhoff sie an. »Oder sollen wir Sie aufs Präsidium mitnehmen?«
Das wirkte. Sichtlich eingeschüchtert, stammelte sie: »Ähm … ja, glaub schon. Also … ich mein’ … ohne Frau. Nur er und das Mädel.«
Stille, zwei, drei Sekunden lang, dann stöhnte Lichner auf und ließ die Schultern hängen. Menkhoff starrte den Psychiater an, doch der blickte an ihm vorbei gegen die Wand und sagte: »Sie lügt.«
»Wer lügt hier, Sie …«, maulte die Rothaarige zu Lichner herüber.
»Frau Ullrich, wie alt ist dieses Mädchen? Und wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nich. Vielleicht zwei oder drei oder so. Gesehen … ähm, das letzte Mal vor ein paar Tagen, glaub ich.«
»Glauben Sie. Und wie würden Sie das Verhältnis von Dr. Lichner zu seinem Kind beschreiben?«
»Wieso Verhältnis? Wie meinen Sie’n das?«
»Wie hat er sich dem Kind gegenüber verhalten? War er nett? Hat er geschimpft, geschrien?«
Sie dachte nach und sah dabei mit heruntergezogenen Mundwinkeln kaugummikauend zur Decke. »Hm … weiß ich nich. Die haben nicht geredet.«
»Sie lügt.« Es kam so leise, dass ich es fast nicht verstehen konnte.
Menkhoff machte einen schnellen Schritt auf Lichner zu. »Ach ja? Sie lügt? Und ganz zufälligerweise errät sie beim Lügen das Alter Ihrer Tochter, oder wie? Und dass sie verschwunden ist, errät sie wohl zufälligerweise auch?«
Eine Zornesfalte stand wie ein Ausrufezeichen in der Mitte seiner Stirn. »Schaff mir diesen Kerl aus den Augen, Alex. Und Sie, junge Frau, halten sich bitte zu unserer Verfügung. Falls es wider Erwarten doch etwas gibt, was Sie wissen, rufen Sie mich an.«
Sie nahm Menkhoffs Visitenkarte und steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Ich zog mein Handy aus der Tasche und forderte die Spurensicherung an.
Auf dem Weg zum Präsidium führte Menkhoff erst ein kurzes Telefonat mit der Leiterin des KK11, Kriminaloberrätin Ute Biermann, die er wohl zu Hause angerufen hatte, und dann mit unserer Dienststelle. Sonst sagte während der Fahrt niemand etwas, und ich war froh darüber.
Meine Gedanken kreisten um den Mann, der auf der Rücksitzbank neben meinem Partner saß. Dr. Joachim Lichner. Ich hatte gehofft, ihn nie wiedersehen zu müssen. Mit seinem plötzlichen Auftauchen war auch sofort wieder dieses seltsame Gefühl da, das mich damals noch lange nach seiner Verurteilung verfolgt hatte. So gut wie alles hatte darauf hingedeutet, dass Lichner das kleine Mädchen umgebracht hatte. Neunundneunzig Prozent. Aber hätten die Beweise auch ausgereicht, wenn Menkhoff nicht so besessen gewesen wäre von dem Gedanken, Joachim Lichner hinter Gitter zu bringen? Wenn es diese zarte Frau mit den langen, schwarzen Haaren nicht gegeben hätte? Oder wenn ich damals den Mumm gehabt hätte –
»Fahr vor den Eingang«, unterbrach Menkhoffs Stimme meine Überlegungen, als wir auf das gigantische gelbe Dach des Tivoli zufuhren und ich direkt davor rechts abbog. »Ich hab keine Lust, mit dem Kerl noch einen Spaziergang über den Platz zu machen.«
Neben dem Eingang des Präsidiums war ein Parkplatz zwischen zwei Streifenwagen frei. Der Pförtner hinter der Scheibe nickte uns zu und entriegelte mit einem Knopfdruck das Schloss der Glastür. »Hier sieht es ja noch genauso trist aus wie vor 15 Jahren«, bemerkte Lichner, als wir im inneren Eingangsbereich standen.
»Das hängt damit zusammen, dass wir es hier noch immer fast ausschließlich mit tristen Gestalten zu tun haben«, knurrte Menkhoff und bugsierte den Mann zur Treppe auf der linken Seite.
Im dritten Stock öffnete Oberkommissar Marco Egberts uns die Glastür, die den Teil des Flurs, in dem die Büros der Mordkommission lagen, vom Rest trennte. Als Menkhoff Lichner an ihm vorbeischob, sah Egberts dem Psychiater mit eisigem Blick nach. »Ich hab eben gehört, ihr habt einen Entführungsfall? Die eigene Tochter?«
»Mal sehn.« Mir war nicht nach langen Erklärungen zumute. Egberts würde sowieso gleich alles erfahren. »Stimmt es, dass das dieser Psychiater ist, der damals das kleine Mädchen umgebracht hat?«
»Wir sind im Verhörraum, Marco«, antwortete ich.
Unser Verhörzimmer war ein Büroraum, in dem außer einem Schreibtisch mit Telefon, Tastatur und Monitor ein einfacher, quadratischer Tisch mit weißer Kunststoffoberfläche und drei schlichte Holzstühle standen, an der Wand ein altmodisches Sideboard mit dem Drucker darauf. Hier drinnen waren es noch mindestens 30 Grad, eine Klimaanlage gab es nicht. In den meisten Büros halfen wir uns mit Tischventilatoren aus, aber ausgerechnet im Verhörzimmer stand keiner.
Menkhoff drückte den Psychiater auf einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber, Egberts blieb neben der Tür an der Wand stehen.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. »Also dann«, hörte ich von schräg hinter mir, »fangen wir nochmal von vorne an.«
»Fangen Sie alleine an, Herr Hauptkommissar«, antwortete Dr. Joachim Lichner. »Ohne Anwalt sage ich dieses Mal kein Wort.«