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24. Juli 2009, 08.32 h

Der nächste Morgen war der bis dahin heißeste dieses Jahres. Dass ich nur knappe vier Stunden geschlafen hatte, machte es nicht gerade besser. Schon als ich mich gegen acht mit einer Tasse Kaffee auf die Terrasse setzte, brach mir binnen Sekunden der Schweiß aus. Es war eine drückende, schwüle Hitze, die durch den fast durchgängig bewölkten Himmel am Entkommen gehindert wurde. Es sollte in vielerlei Hinsicht auch der heißeste Tag werden.

Ich klingelte an Menkhoffs Tür, aber statt meines Partners öffnete mir Frau Christ und erklärte, Menkhoff sei direkt aus dem Haus gegangen, als sie angekommen war, gegen Viertel nach sieben. Ich fragte mich, ob er wirklich so sauer auf mich war, dass er nicht mit mir ins Büro fahren wollte, konnte es mir aber nicht vorstellen. Andererseits konnte man bei ihm wohl keine normalen Maßstäbe ansetzen, wenn es um Nicole Klement ging. Ich setzte mich ins Auto und rief im Büro an. Nach zweimaligem Läuten hob Menkhoff ab. »Guten Morgen«, sagte ich verhalten. »Ich bin’s, Alex. Ich steh vor deinem Haus.«

»Ja, tut mir leid. Ich bin seit sechs Uhr wach und hab einen Scheißkater. Ich hab’s zu Hause nicht mehr ausgehalten und bin gleich los, als Frau Christ kam. Ich wollte so früh nicht bei euch anrufen.«

»Alles klar, ich bin gleich da.« Erleichtert legte ich auf und fuhr los.

Man sah ihm an, dass er eine kurze Nacht und mehr Alkohol als ich gehabt hatte. Seine Haut sah fahl aus, und die sonst nur leichten Tränensäcke unter seinen Augen waren dunkel und ausgeprägt. Noch bevor ich meinen Computer anschaltete, sagte ich: »Bernd, wegen gestern Abend … Ich würde mich gern nochmal mit dir darüber unterhalten.«

Er sah von seinem Schreibtisch auf. »Warum? Wir haben ziemlich unterschiedliche Vorstellungen, Alex, und ich möchte mir so was nicht anhören. Ich kenne Nicole, du kennst sie nicht.«

»Aber das, was in diesen Berichten steht, hast auch du nicht gewusst, Bernd.«

Er schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. Es gab einen Knall, den man in allen Büros der Mordkommission hören musste. »Ja, verdammt, das stimmt, und ich kann sogar verstehen, dass sie nichts davon erzählt hat, nachdem ich das gestern Abend gelesen habe. Sie versucht wahrscheinlich einfach, diesen Dreck irgendwann zu vergessen und ein halbwegs normales Leben zu führen. Das versucht sie vielleicht schon, seit sie ein kleines Mädchen war. Ich habe Nicole jahrelang erlebt, ich weiß, was ihr zuzutrauen ist und was nicht. Und ich sage dir, was immer dir da im Kopf rumspukt, ist Blödsinn.«

Es war wie ein Fluch. Er schaffte es immer wieder, mich zu verunsichern, und nicht zum ersten Mal überlegte ich, ob das wohl an den Argumenten lag, die er anbrachte oder eher an seiner Person. Aber ich wollte mich dieses Mal nicht von ihm unterbuttern lassen. »Und das Foto von Juliane Körprich in ihrer Wohnung, Bernd? 15 Jahre nachdem das Mädchen umgebracht worden ist? Und dass Nicole behauptet, diese Mädchen zu beschützen? Welche Erklärung hast du dafür?«

Er atmete tief ein, doch anstatt mich anzubrüllen, hielt er die Luft einen Moment an und stieß sie dann geräuschvoll aus. Und mit diesem lauten Ausatmen sackte er in sich zusammen. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte Bernd Menkhoff sich vom lautstarken Verteidiger zu einem Mann, der verletzlich wirkte, fast schon bemitleidenswert. »Ich weiß es nicht, Alex. Das lässt mir seit letzter Nacht auch keine Ruhe mehr. Ich glaube nicht, dass Nicole zu etwas … Schlimmem fähig ist, aber … ach verdammt, ich weiß es einfach nicht.«

»Liebst du sie noch?«

Er sah mir in die Augen, und ich sah die Verzweiflung in seinem Gesicht. »Nein«, sagte er leise. »Ich habe mir diese Frage selbst gestellt, und ich bin sicher, das ist vorbei. Ich liebe meine Frau. Aber verantwortlich fühle ich mich trotzdem noch für Nicole.«

Menkhoff tat mir leid, und ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, was in ihm vorgehen musste. »Was willst du jetzt machen?«, fragte ich und hoffte, er würde nicht wieder versuchen, mir einzureden, alles sei in Ordnung.

»Nochmal mit Lichner reden. Ich trau diesem Kerl einfach nicht. Diese Geschichte mit seiner angeblich entführten Tochter, dann Nicoles Krankenakte … Ich hab ein verdammt komisches Gefühl bei der Sache.«

 

Wir verzichteten darauf, Lichners Telefonnummer ausfindig zu machen und ihn anzurufen. Menkhoff hielt es für besser, ihn nicht vorzuwarnen.

Auf der Fahrt nach Kohlscheid unterhielten wir uns darüber, welchen Zweck wohl Lichners vergammelte Wohnung in der Zeppelinstraße haben konnte, aber keiner von uns hatte auch nur ansatzweise eine Idee. Ihn danach zu fragen würde mit ziemlicher Sicherheit lediglich eine weitere unverschämte Antwort zur Folge haben, das war uns klar.

Um kurz vor halb zehn klingelten wir an Lichners Tür. Er war zu Hause. Wenn Menkhoff gehofft hatte, ihn überraschen zu können, so sah er sich getäuscht.

»Ah, da sind Sie ja«, sagte er, als er die Tür öffnete. »Kommen Sie rein.« Die Begrüßung machte mich ebenso stutzig wie die Tatsache, dass er dabei sein unverschämtes Grinsen nicht zeigte. »Was heißt hier: Da sind Sie ja?« Mein Kollege versuchte erst gar nicht, freundlich zu klingen.

»Das heißt, dass man keine hellseherischen Fähigkeiten braucht, um zu wissen, dass Sie herkommen würden, nachdem Sie die Akten durchgesehen haben.« Es klang völlig Lichner-untypisch. Keine Spur von Überheblichkeit oder Sarkasmus. Er schien ausnahmsweise zu meinen, was er sagte.

Wir gingen hinter Lichner die Treppe zu seiner Wohnung hoch. Er lotste uns ins Wohnzimmer, wo wir uns auf die Couch setzten. Da der Raum direkt unter der Dachschräge lag, herrschten darin Temperaturen, die wohl jenseits der dreißig Grad lagen.

»Also, Herr Hauptkommissar, was denken Sie jetzt über Nicole Klement?«

Menkhoff schien zu überlegen, wie er mit Lichner sprechen sollte. Die Art, wie Lichner sich uns gegenüber an diesem Morgen benahm, veranlasste aber wohl auch ihn, ihm etwas gemäßigter zu begegnen. »Ich denke, dass das, was ich da gelesen habe, einiges von dem erklärt, was ich an Nicole nicht verstanden habe.«

»Sonst nichts?«

Menkhoff legte den Kopf ein wenig schief. »Wir waren gestern bei ihr. Sie benimmt sich sehr eigenartig. Hat das was damit zu tun, dass sie wieder mit Ihnen zusammen ist?«

Lichner betrachtete seine Hände. »Ja, ich denke schon, aber mit ziemlicher Sicherheit anders, als Sie es denken.«

»Das heißt?«

»Das heißt, ihr Zustand hat sich schon wieder ein wenig gefestigt. Es war viel schlimmer.«

»Wovon lebt sie eigentlich? Arbeitet sie?«

»Soll das ein Witz sein? Das wäre im Moment unmöglich. Sie bekommt staatliche Hilfe, und hier und da unterstütze ich sie. Meine Praxis ist früher gut gelaufen, bevor Sie meinen Weg gekreuzt haben, und ich habe einiges auf der hohen Kante.«

Ganz ohne kleine Sticheleien schien es bei Lichner also doch nicht zu gehen, und verrückterweise beruhigte mich das ein wenig.

»Was sind das für seltsame Fotos, die sie auf ihrem Schrank stehen hat?«, fragte Menkhoff.

Lichner hob die Brauen. »Fotos? Welche Fotos meinen Sie?«

»Die von den Mädchen. Unter anderem von Juliane Körprich.« Ich sah, dass Lichner zusammenzuckte, und ich war sicher, dass auch Menkhoff es bemerkte.

»Was soll das nun wieder? Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Und wieso von den Mädchen? Wie viele sind es?«

Menkhoff atmete schnaufend aus. »Vier. Es sind vier, einschließlich Juliane.«

Lichner wischte sich mit der Hand über den Mund. Er schien nervös zu sein. Etwas, was ich bis dahin noch nicht bei ihm erlebt hatte. »Nicole war sehr krank, und sie ist es auch noch immer. Sie würde niemandem absichtlich etwas Böses tun, aber ihre Vorstellungen von Gut und Böse haben durch die traumatischen Ereignisse in ihrer Kindheit wenig mit dem zu tun, was Sie als richtig und falsch ansehen.«

»Was wollen Sie damit sagen, Lichner? Sie können sich Ihre idiotischen Andeutungen sparen, denn ich …«

»Und Sie könnten endlich aufhören, herumzukläffen wie ein wildgewordener Kettenhund. Ich habe nicht vor, mich in idiotischen Andeutungen zu ergehen. Ich möchte Ihnen helfen, und ob es nun in Ihr schwarzweißes Weltbild passt oder nicht, es ist mir ernst damit.«

»Und das soll ich glauben? Warum sollten ausgerechnet Sie uns helfen wollen, und vor allem: Wobei?«

»Wenn Sie mir mal zuhören würden, könnten Sie es erfahren.«

Der Psychiater verhielt sich so komplett anders als sonst, dass ich regelrecht darauf wartete, dass er gleich wieder sein unverschämtes Grinsen aufsetzen und sich darüber lustig machen würde, wie wir ihm auf den Leim gingen. Stattdessen sagte er ernst: »Ich habe Ihnen einiges zu sagen, und es kann sehr wichtig sein. Danach werden Sie sowieso tun, was Sie für richtig halten. Vielleicht werden Sie mich sogar wieder ins Gefängnis stecken.« Er machte eine Pause, in der Menkhoff und ich uns ansahen. »Hören Sie sich nur ausnahmsweise bis zum Ende an, was ich Ihnen sage, bevor Sie sich ein Urteil bilden, und versuchen Sie, dabei zumindest halbwegs objektiv zu sein. Können wir das vereinbaren?« Mir war, als unterhielten wir uns gerade mit einer Light-Version von Dr. Joachim Lichner. Seine aggressiven, rhetorischen Fähigkeiten waren zweifelsfrei nach wie vor da, aber er schien bemüht, sie im Zaum zu halten. Auch Menkhoff war von Lichners Verhalten offenbar überrascht. Er reagierte überhaupt nicht auf seine Worte. Ich spürte, dass das, was Lichner uns sagen wollte, ihm wichtig sein musste, und tat, was er schon zigmal mit uns gemacht hatte: Ich nutzte den Moment aus. »Wenn Sie uns was Wichtiges zu sagen haben, dann tun Sie das, aber wir lassen uns von Ihnen keine Bedingungen diktieren, Dr. Lichner. Reden Sie oder lassen Sie’s bleiben.«

Er sah mich an, und dieses Mal war es nicht der Blick, bei dem ich stets das Gefühl gehabt hatte, er versuche in meine Gedanken einzudringen. Dann nickte er.