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24. Juli 2009, 11.16 h

Lichner machte ein verdutztes Gesicht, als er die Tür öffnete und sich uns schon wieder gegenübersah. Er zeigte ein flüchtiges, lichneruntypisches Lächeln. »Haben Sie was verg –«

»Meine Tochter ist entführt worden, aus dem Kindergarten.«

Lichner riss die Augen auf und stand wie versteinert da, zwei, drei Sekunden lang. Dann sagte er: »Das … das tut mir leid«, und das war so untypisch für ihn, dass ich ihn dafür eine Weile anstarrte. »Ist das … sicher? Ich meine, sind Sie sicher, dass –«

»Wissen Sie was davon?«, fiel ihm Menkhoff ungeduldig ins Wort und machte noch einen Schritt auf ihn zu. Seine Körperhaltung war eine einzige Drohung. »Lichner … Wenn Sie etwas wissen, dann sagen Sie mir sofort, was mit Luisa ist. Wenn meiner Tochter was passiert, bring ich den Verantwortlichen eigenhändig um. Also machen Sie den Mund auf.« Wie schon einige Male zuvor standen sie sich dicht gegenüber, aber jetzt wich Lichner dem Blick meines Partners aus, und ich war fast sicher, dass er etwas darüber wusste, was mit Luisa passiert war. Menkhoff schien es ähnlich zu gehen. Er packte ihn am Hemd, ballte die Hände zu Fäusten und schrie ihn an: »Reden Sie!«

»Was soll das?«, beschwerte sich Lichner. »Lassen Sie mich sofort los!« Mir wurde klar, dass ich dastand wie in einer Statistenrolle. Ich machte einen Schritt auf die beiden zu und drückte sie auseinander, Menkhoff ließ tatsächlich von Lichner ab, der sich fluchend sein Hemd wieder glattzog.

»Zum letzten Mal, Lichner«, sagte Menkhoff gefährlich leise, »wissen Sie, was mit meiner Tochter passiert ist?«

»Nein, ich weiß es nicht«, antwortete Lichner. »Aber ich habe eine Ahnung. Hoffentlich täusche ich mich. Mein Gott, damit habe ich nicht gerechnet. Kommen Sie …«

Er machte auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe zu seiner Wohnung hoch, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Wir folgten ihm. In seiner Wohnung ging er geradewegs zu einer kleinen Kommode, auf der ein schnurloses Telefon in der Station stand. Kurze Zeit später legte er den Hörer wieder zur Seite und sagte: »Sie meldet sich nicht.«

»Wer meldet sich nicht?«, bellte Menkhoff, und ich wunderte mich wieder einmal darüber, wie groß die Blockade in ihm sein musste, dass er diese Frage überhaupt stellte.

»Nicole«, sagte ich.

»Ich hab es Ihnen doch heute Morgen schon einmal zu erklären versucht«, sagte Lichner. »Allerdings konnte ich nicht ahnen, dass sie ausgerechnet –«

»Was reden Sie da?«, schrie Menkhoff.

»Haben Sie mir überhaupt nicht zugehört? Sie müssen Nicole finden.« Lichners Stimme klang nun beschwörend. »Ich habe befürchtet, dass sie so etwas tun könnte, aber ich hätte nicht gedacht … Herr Menkhoff, es ist sehr wahrscheinlich, dass sie Ihre Tochter entführt hat. Ich denke, sie möchte das Mädchen vor Ihnen beschützen.«

»Vor mir beschützen? Was soll das denn heißen? Sie sind doch total irre. Wieso soll sie Luisa vor mir beschützen wollen? Und lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, verdammt nochmal.«

Lichner sah an Menkhoff vorbei und richtete seinen Blick ins Nichts zwischen uns. »Wir haben uns vor einiger Zeit unterhalten. Über Sie. Darüber, dass Sie jetzt verheiratet sind und eine Tochter haben. Nicole hat mich gefragt, ob ich glaube, dass Sie ein guter Vater sind. Ich … mein Gott, Sie haben damals alles drangesetzt, dass ich ins Gefängnis komme. Unschuldig. Ich habe gesagt, dass man um des Mädchens willen nur hoffen kann, dass Sie in der Vaterrolle besser sind als in der eines Polizisten. Und … dass ich das aber bezweifle.«

Menkhoff sah Lichner verständnislos an, als erwarte er gleich die Auflösung eines Rätsels von ihm. »Ja und?«, machte er. »Ich kann Sie auch nicht ausstehen.«

»Er meint, dass das der Grund dafür ist, dass Nicole Luisa entführt haben könnte, Bernd.«

Menkhoffs Miene änderte sich, die Verwirrung war gewichen, stattdessen spiegelte sich nun die ganze Fassungslosigkeit in seinem Gesicht wider. »Sie wollen mir also ernsthaft weismachen … Nicole soll meine Luisa entführt haben?«

»Ja«, sagte Lichner. »Ich glaube, dass Ihre Tochter bei Nicole ist.«

»Wissen Sie, wo sie sein könnte?«

Lichner dachte einen Moment lang nach, hob dann aber die Schultern. »Nein.«

»Wir könnten …«, setzte ich an, aber Menkhoff fiel mir ins Wort. »Los, wir fahren. Ich rufe von unterwegs im Präsidium an und gebe eine Fahndung nach Nicole raus.« An Lichner gewandt, sagte er: »Wenn Sie mich verarschen, mach ich Sie fertig, Lichner, das schwör ich Ihnen.« Damit verließ er die Wohnung.

»Kann sein, dass wir Ihre Hilfe noch brauchen«, sagte ich so zu Lichner, dass Menkhoff es nicht hören konnte. »Werden Sie uns helfen?«

»Ja«, sagte er nach kurzem Zögern. »Trotzdem.«

Ich nickte und folgte meinem Partner. Menkhoff rief im Präsidium an, kaum dass wir im Auto saßen, und ordnete eine Fahndung nach Nicole Klement wegen des Verdachts der Entführung an. Ich konnte aus jedem Satz den Kampf heraushören, den er dabei in seinem Innersten austrug.

Um zwanzig vor zwölf erreichten wir das Präsidium, keine fünf Minuten später betraten wir das Büro unserer Chefin. Sie erhob sich, kam um ihren Schreibtisch herum und sah Menkhoff mitfühlend an. »Es tut mir leid, Herr Menkhoff, eine schlimme Sache. Kommen Sie bitte beide mit, die anderen warten schon im Besprechungsraum.«

Das Zimmer, das wir für Besprechungen nutzten, lag ihrem Büro schräg gegenüber. Es hatte etwa die Größe von drei normalen Büroräumen, darin vier zu einer großen Fläche zusammengestellte Tische mit einfachen Stühlen daran, einem alten Sideboard und einer weißen Leinwand an der Stirnseite. Im hinteren Bereich der Tischfläche stand neben einem Telefon der dazugehörige Beamer in einem Nest aus Kabeln.

Die anderen, das waren Kommissar Wolfert und Oberkommissar Meyers, den Menkhoff kurz zuvor schon am Telefon gehabt hatte, sowie drei weitere Kollegen aus der MK3. Kriminaloberrätin Biermann setzte sich Wolfert und Meyers gegenüber an den Tisch, wir ließen uns auf die Stühle neben sie fallen.

»Bitte, Herr Menkhoff, berichten Sie erst kurz über Ihre Gespräche mit Herrn Lichner«, forderte unsere Chefin ihn auf.

Menkhoff erzählte in kurzen Sätzen erst von unserem Besuch bei Nicole Klement am Vortag, von dem verwirrten Zustand, in dem wir sie vorgefunden hatten, und von den Kinderfotos und ihrer skurrilen Begründung, wozu sie sie hatte. Auf dem Gesicht unserer Chefin zeigte sich Überraschung, sie unterbrach ihn aber nicht. Menkhoff fuhr mit Lichners Warnung vor Nicole in unserem ersten Gespräch an diesem Morgen fort und erwähnte dabei auch, dass er anfänglich nichts darauf gegeben hatte. Mit dem Anruf aus dem Kindergarten, was wir dort erfahren und dass wir uns anschließend ein weiteres Mal mit Lichner unterhalten hatten, schloss er schließlich seine Schilderung.

»Halten Sie es für möglich, dass Frau Klement Ihre Tochter entführt hat?«, fragte Kriminaloberrätin Biermann, als er seinen Bericht beendet hatte. Alle Augen richteten sich auf Menkhoff. Er sagte lange nichts, dann hob er die Schultern. »Ich weiß es nicht. Vor zwei Stunden hätte ich es noch für unmöglich gehalten, aber jetzt … ich weiß es nicht. Wir müssen sie schnellstens finden.«

»Wir haben einen Ring um Aachen gelegt«, erklärte Frau Biermann. »Sämtliche Kollegen des KK sind unterwegs und alles, was ich im ganzen Bezirk mobilisieren konnte. Außerdem habe ich zwei Hundertschaften der Bereitschaftspolizei und Unterstützung beim LKA angefordert. Verkehrskontrollen sind an allen Ausfallstraßen einschließlich der Autobahnen eingerichtet, in Brand selbst sind Fußstreifen unterwegs. Ich habe einen Streifenwagen in die Oppenhoffallee geschickt, aber Frau Klement ist nicht in ihrer Wohnung.«

»Wir fahren dahin«, sagte Menkhoff und stand auf. »Vielleicht finden wir einen Hinweis. Besorgen Sie uns bitte einen Durchsuchungsbeschluss. Alex, komm!«

»Moment noch«, sagte Kriminaloberrätin Biermann. Ich war gerade im Begriff aufzustehen, der Ton, mit dem sie das sagte, ließ mich aber wieder auf den Stuhl zurücksinken. »Die Leitung der Ermittlungen übernimmt mit sofortiger Wirkung Hauptkommissar Seifert. Sie, Herr Menkhoff, sind ab jetzt für die Koordination von hier aus zuständig.«

»Was?«, sagte Menkhoff harsch. »Innendienst? Kommt nicht in Frage. Es geht hier um meine Tochter, und –«

»Eben«, unterbrach sie ihn. »Und darum muss ich Ihnen die Leitung des Falles entziehen. Eigentlich müsste ich Sie komplett aus dem Ermittlungsteam rausnehmen. Nun tun Sie nicht so, als wäre das was Neues für Sie.«

Menkhoff holte tief Luft, verschluckte dann aber, was immer er auch sagen wollte. Einen Moment lang sah er mich an, dann wanderte sein Blick zu den betreten dreinblickenden Gesichtern von Wolfert und Meyers. Schließlich sagte er mit einer Stimme, der man anmerkte, dass er sie nur mühsam unter Kontrolle halten konnte: »Das geht nicht. Mein Mädchen ist entführt worden, und sie ist wahrscheinlich in großer Gefahr. Ich kann mich nicht in ein Büro setzen und Kreuzworträtsel lösen, während die Kollegen da draußen nach meinem Kind suchen. Ich denke, das werden Sie verstehen.«

»Ich habe keine Wahl«, antwortete sie streng. »Seifert übernimmt, Sie bleiben hier.«

Wutschnaubend sah Menkhoff sie an. »Gut, soll Alex den Fall leiten, das ist mir scheißegal. Aber ich werde meine Tochter suchen, und daran wird mich niemand hindern, auch keine hirnrissige Dienstvorschrift.«

Ute Biermann blieb zumindest äußerlich ruhig. »Kommen Sie beide mit in mein Büro«, sagte sie nur und verließ an uns vorbei den Besprechungsraum.

»Schließen Sie die Tür«, befahl sie, als wir hinter ihr in ihrem Büro angekommen waren. Ich tat es und blieb dann neben Menkhoff stehen. »Sie wissen doch, wer Wolferts Vater ist, oder etwa nicht?«, fragte sie, erwartete aber keine Antwort darauf. Jeder im KK11 wusste, wer Wolferts Vater war. »Soll ich mir Probleme ins Haus holen, nur weil Sie Ihren Kopf vor den Kollegen durchsetzen wollen, Herr Hauptkommissar? Ich verstehe Sie sehr gut, das können Sie mir glauben, und ich bin die Letzte, die Ihnen in dieser Situation Steine in den Weg legen möchte, aber es gibt nun mal Dienstvorschriften, und es gibt außerdem einen jungen Kollegen, der seinem Vater offenbar sehr ausführlich darüber berichtet, was hier passiert. Und dieser Vater, Herr Menkhoff, ist jemand, der uns allen hier sehr viel Ärger machen kann.«

»Das ist mir klar, Frau Kriminaloberrätin, aber ich muss Ihnen leider sagen, dass ich jetzt keine Zeit habe für diesen Kram. Ich muss mein Kind suchen. Wenn Sie mir das verbieten wollen, tun Sie’s. Aber ich gehe trotzdem.«

»Ich will nicht, ich muss«, sagte sie, nun schon ruhiger. »Herr Seifert leitet die Ermittlungen, Sie haben Innendienst. Solange ich nicht offiziell sehe, dass Sie sich meinem Befehl widersetzen, ist damit alles geklärt. Und ich kann von meinem Büro aus unmöglich alles sehen.«

Menkhoff verstand, ebenso wie ich. »Danke«, sagte er schnell. »Ist das alles?«

»Das ist alles. Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Nach zwei Sekunden fügte sie hinzu: »Ich meinte Herrn Seifert.«