Mein eigenständiges Denken war auf eine seltsame Art komplett zum Erliegen gekommen. Alle Kanäle meines Verstandes waren auf Empfang gestellt, um kein Wort, keine Geste dieser Szene zu verpassen, die sich vor meinen Augen abspielte.
»Sie ist … Oh Gott. Sind Sie sicher?« Lichner stand da mit offenem Mund und glotzte Menkhoff an, als käme er von einem fremden Planeten.
»Ja, ich bin sicher. Ich konnte nicht anders, sie hat Luisa mit einem Messer bedroht. Ich …«
Etwas Unfassbares geschah in diesem Moment. So unglaublich, dass ich erst nicht begriff, was da passierte.
Joachim Lichner lachte.
Zaghaft erst, in kleinen Schüben, dann heftiger, hemmungsloser, den Kopf dabei schüttelnd, als hätte er einen unglaublich guten Witz gehört. »Sie haben sie wirklich erschossen?«, sagte er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. »Das … das ist grandios. Ich wusste, ich kann mich auf Sie verlassen.«
Menkhoff beugte sich ein wenig nach vorne und setzte seine Tochter vor sich auf dem Boden ab. Er ließ Lichner dabei nicht aus den Augen. Luisa wirkte sehr verstört. Menkhoff sagte leise etwas zu ihr und zeigte dabei auf das Auto, das zwischen der Hütte und mir stand. Luisa schüttelte den Kopf und umklammerte seine Beine, doch Menkhoff löste ihre Arme von sich und hielt sie fest. Er sah sie einen Moment stumm an, dann nickte er schließlich und drückte sie hinter sich, so dass er zwischen ihr und Lichner stand.
»Keine Angst, Herr Hauptkommissar, ich tue Ihrer Tochter nichts. Warum auch?« Wieder stieß er ein Lachen aus, es klang fast hysterisch. »Es ist doch alles getan.«
»Was soll das heißen, Lichner?«, fragte Menkhoff. »Sind Sie jetzt völlig verrückt geworden? Was ist getan?«
»Na, alles.« Er grinste breit, und selbst von meinem Platz aus erkannte ich dieses Grinsen wieder. Ich hatte es mir schon viele Jahre zuvor einige Male von Herrn Lichner ansehen dürfen. »Warten Sie«, fuhr er belustigt fort. »Ich erklär’s Ihnen.« Er atmete tief durch und sah sich zufrieden um. Verrückterweise erinnerte er mich in diesem Moment an meinen Vater. Immer, wenn wir an einem Ausflugsziel angekommen waren, das er für die Familie ausgesucht hatte, war er ausgestiegen, hatte sich umgesehen und dabei genau den gleichen Gesichtsausdruck gezeigt. Habe ich das nicht toll geplant?, sollte das heißen.
»Sie haben funktioniert, Herr Hauptkommissar«, begann Lichner seine Erklärung. Er grinste dabei noch immer. »Es ist alles ganz genau so geschehen, wie ich es geplant habe. Aber das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man so viele Jahre investiert hat. Es gab einige Situationen in den letzten Tagen, da habe ich Sie doch tatsächlich noch immer überschätzt, obwohl mein Vertrauen in Ihre kriminalistischen Fähigkeiten nicht eben groß ist. Dass Sie zum Beispiel Nicoles Patientendoku auf meinem Dachboden nicht gefunden haben … unbegreiflich. Vielleicht hätte ich eine gelbe Linie auf den Boden malen sollen.«
Er machte eine Pause, ließ seine Worte wirken. Menkhoff sah ihn verständnislos an. »Wovon reden Sie da, verdammt? Ich verstehe kein einziges Wort, und ich habe auch keine große Lust, mir solchen Quatsch anzuhören. Ja, Sie haben mir den entscheidenden Tipp gegeben, und dafür bin ich Ihnen dankbar, aber jetzt hab ich einiges zu tun. Da drin liegt Nicole, meine Tochter ist total verängstigt und muss schnellstens hier weg. Sie haben also hoffentlich Verständnis dafür, wenn ich jetzt meine Kollegen in Deutschland und die belgische Polizei anrufe.«
Lichner hob die Hand. »Nein, bitte, Sie sollten sich unbedingt anhören, was ich zu sagen habe. Glauben Sie mir, es ist wichtig für Sie.«
Menkhoff verdrehte den Oberkörper und warf einen Blick auf seine Tochter, die sich noch immer von hinten gegen seine Beine presste. »Also los, reden Sie. Aber beeilen Sie sich.«
»Erst einmal: Sie hatten damals, ausnahmsweise, recht, Herr Hauptkommissar: Ich musste die kleine Juliane leider zum Schweigen bringen.«
Stille. Ich vergaß zu atmen, tat sekundenlang einfach nichts, bis der Reflex einsetzte und den Sauerstoff nachdrücklich einforderte. So einfach war das also. Ein wie nebenbei dahingeworfener Satz, und alle Fragen der ganzen Jahre waren beantwortet, alle Zweifel einfach nicht mehr vorhanden. Ich horchte in mich hinein, suchte nach dem Gefühl der Erleichterung und fand etwas ganz anderes: Scham. Ich schämte mich für das, was ich diesem Mann zugetraut hatte, der nun schützend zwischen seinem Kind und einem Kindermörder stand.
»Sie wollte unbedingt ihren Eltern von mir erzählen«, fuhr Lichner fort. »Obwohl ich ihr gesagt hatte, was dann alles mit ihren Eltern geschieht, und mit ihr, und dass Sie allein daran schuld ist. Starrsinniges Kind. Ich hab ihr doch gar nichts Schlimmes getan. Ich hab noch nie einer Kleinen was Schlimmes getan. Nur ein bisschen gespielt hab ich mit ihr. Sie sind so zart in diesem Alter, so …« Er machte dabei ein beleidigtes Gesicht, als wäre ihm großes Unrecht geschehen. »Jedenfalls – meinen Glückwunsch, Sie haben trotz Ihrer offensichtlichen Unfähigkeit damals richtiggelegen. Aber ganz ehrlich …«, sein Gesichtsausdruck veränderte sich, drückte jetzt Kumpanei aus, »ohne dieses Haargummi, das die gute Nicole so wirksam platziert hatte, hätten Sie keine Chance gehabt. Dazu habe ich viel zu gut aufgepasst. Wo hatten Sie das eigentlich her? Das habe ich mich all die Jahre gefragt.«
Menkhoff sah ihn nur stumm und mit versteinerter Miene an, und Lichner winkte ab. »Ist ja auch egal. Jedenfalls hat die liebe Nicole mich verraten, so wie Judas damals seinen Herrn und Meister Jesus verraten hat. Übrigens mit einem Kuss, wie Sie wissen. Im übertragenen Sinn hat das Nicole ja auch gemacht, nicht wahr? Dafür musste ich sie bestrafen. Na ja, und dass ich über Ihren Fahndungserfolg nicht sonderlich begeistert war, können Sie sich ja vielleicht auch vorstellen, Herr Hauptkommissar.« Kumpelhaftes Lachen.
»Wovon zum Teufel reden Sie, Lichner? Ich verstehe noch immer kein Wort.«
Das Lachen verschwand mit einem Mal von seinem Gesicht, als sei ein Schalter umgelegt worden. »Ja, das habe ich befürchtet. Dann also in aller Deutlichkeit, Herr Menkhoff, damit auch Ihr Polizistengehirn es versteht. Jedes Mal, wenn ich im Knast verprügelt worden bin, wenn hirnlose Primaten im Körper eines Preisboxers mich erpresst, gedemütigt und gequält haben, wenn ich bespuckt worden bin oder ein haariger, tätowierter Gewaltverbrecher mich unter der Dusche als Vorlage zum Onanieren benutzte, dann habe ich dabei an Nicole und Sie gedacht. An jedem verfluchten Tag, dreizehn Jahre, einen Monat und zehn Tage genau, die ich in diesem Käfig eingesperrt war, habe ich mich danach gesehnt, mich an Ihnen beiden zu rächen. Es war mein Antrieb, mich nicht unterkriegen zu lassen, alles zu erdulden, was immer die da drin mit mir auch anstellten. Ich habe Pläne geschmiedet und wieder verworfen, Details geändert, verbessert, alle Möglichkeiten durchdacht, bis alles perfekt war. Ich habe jahrelang an Nicoles Patientendokumentation geschrieben.« Er stieß wieder ein von Kopfschütteln begleitetes Lachen aus. »Sie müssen zugeben, sie ist mir gut gelungen, oder? Diese Sache mit den kleinen Katzen, die sie gekillt hat, weil sie sie beschützen wollte … das war doch genial, oder etwa nicht? Ich gestehe, ich habe lange daran herumgefeilt, bis ich etwas gefunden hatte, das einerseits psychologisch nicht komplett aus der Luft gegriffen, andererseits aber doch so simpel war, dass es für Sie begreifbar ist. Aber Sie dürfen jetzt nicht denken, ich hätte alles erfunden, was da drinsteht. Etwa zehn Prozent davon sind immerhin wahr, leider Gottes. Die arme Nicole hatte wirklich keine leichte Kindheit. Ich habe es lediglich etwas … ziemlich ausgeschmückt.«
»Die Krankenakte war nicht echt? Aber was ist dann mit –«
»Das Zauberwort heißt Hypnose. Es ist wahr, dass Nicole mich im Knast besucht hat, aber sie kam nicht von alleine, sondern weil ich sie darum gebeten habe. Sie war zu diesem Zeitpunkt zum Glück ziemlich labil, und es fiel mir nicht schwer, sie bei der Stange zu halten, bis ich raus war. Tja, und dann haben wir mit den Hypnose-Sitzungen begonnen. Ich habe ihr immer wieder unter Hypnose klargemacht, dass sie dieses Trauma aus der Kindheit mit sich herumträgt. Ich habe ihr das, was Sie in der Patientendoku gelesen haben, immer und immer wieder suggeriert, so lange, bis sie am Ende selbst nicht mehr wusste, was wirklich geschehen war und was nicht.«
»Aber diese ganze Sache mit Ihrer angeblich verschwundenen Tochter Sarah …«
»… gehörte komplett zu meinem Plan. Inklusive des Geständnisses, dass ich alles nur inszeniert habe. War das nicht ein geniales Verwirrspiel? Mal ehrlich, Holmes, wer sonst noch könnte sich so etwas ausdenken?«
Menkhoff wandte den Blick von Lichner ab, starrte fassungslos vor sich auf die Erde, woraufhin Lichner breit grinste. »Ich sehe, Sie beginnen die Tragweite zu erfassen, Herr Hauptkommissar.«
»Nicoles Anruf heute auf dem Präsidium …«
»Wenn du mich unterbrichst, muss ich auflegen …«, flötete Lichner als Imitation einer Frauenstimme. »Ich habe sie den Text unter Hypnose aufsagen lassen. War sie nicht großartig? Wir haben aber auch wirklich wochenlang dafür geübt. Sie konnte es am Schluss so gut, ich hätte es sie auch live machen lassen können, aber ich habe die Aufzeichnung bevorzugt. Sicher ist sicher.«
»Aber wie … Sie haben doch vor der Tür des Präsidiums gestanden. Haben Sie von dort aus mit dem Handy …?«
»Nein, das war viel einfacher. Ich hatte einen sehr verlässlichen Helfer.«
»Diesch?«, knurrte Menkhoff.
»Sie erinnern sich, dass ich von meinem Ersparten sprach? Eine hübsche Summe. Für 100 000 Euro kann man sich vieles kaufen. Auch einen loyalen Gehilfen.«