Als ich mit Lichner zusammen das Büro betrat, saß Menkhoff nicht mehr an seinem Platz. Ich ging davon aus, dass er vielleicht zur Toilette war oder an die Kaffeemaschine.
Lichner deutete auf einen der Stühle, die vor Menkhoffs Schreibtischen standen. »Ich darf doch?« Er setzte sich, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich lehnte mich an meinen Schreibtisch und betrachtete Lichner, der das Fußgelenk des rechten Beines auf dem Oberschenkel des linken abgelegt hatte und ganz interessiert die Fingernägel seiner rechten Hand betrachtete. Er war ein arroganter Affe, daran hatten auch die Jahre im Gefängnis nichts geändert, und ich mochte ihn nicht, so viel stand fest. Er machte es einem auch wirklich leicht, ihn nicht zu mögen. Aber war dieser undurchschaubare Mann auch ein Mörder? Menkhoffs Gefühle Lichner gegenüber gingen deutlich über bloße Abneigung hinaus. Er hasste ihn, und das war auch schon bei unserer ersten Begegnung 16 Jahre zuvor so gewesen.
Ich hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass mein Partner manchmal sehr schnell damit war, jemanden in eine Schublade zu stecken, und selbst, wenn er anschließend vielleicht merkte, dass sein erster Eindruck ihn getäuscht hatte, fiel es ihm schwer, davon wieder abzukommen. So verbissen wie bei Joachim Lichner hatte er sich aber noch bei keinem anderen seiner Wut und seinem Hass hingegeben. Dafür konnte es nur einen Grund geben: Nicole Klement, die er geliebt und der zuliebe er vielleicht einen verheerenden Fehler begangen hatte.
Was musste jetzt in ihm vorgehen, wo er wusste, dass ausgerechnet diese Frau seine Tochter entführt hatte? Was, wenn sie Luisa etwas antat? Er würde, er musste dann daran denken, dass das mit seinem Kind nur geschehen war, weil er damals dafür gesorgt hatte, dass die Mörderin nicht überführt wurde. Was musste –
»Kann ich einen Kaffee haben?«, beendete Lichner meine Überlegungen. Es war das erste Mal, dass ich ihm sogar ein wenig dankbar war für seine unhöfliche Art.
Ich konnte ihn nicht alleine in unserem Büro lassen und griff zum Telefon. Ich wollte Wolfert bitten, für zwei Minuten herüberzukommen, doch bevor ich wählen konnte, kam Menkhoff herein. Mit einem verächtlichen Blick ging er an Lichner vorbei zu seinem Stuhl, setzte sich und sah zu mir herüber. »Ich war bei der Chefin.« Ich verstand. Er hatte ihr von dem Anruf berichtet. Aber warum hatte er damit nicht gewartet, bis ich zurück war? Und hatte er KOR Biermann alles erzählt, was Nicole gesagt hatte?
Ich schob die Fragen für den Moment beiseite und nickte meinem Partner einfach zu, zum Zeichen, dass ich verstanden hatte.
Er sah Lichner über seinen Schreibtisch hinweg an, in seinem Blick lag die blanke Verachtung. »Und was wollen Sie hier? Wollen Sie jetzt auch schon die Polizeiarbeit machen?«
»Der Gedanke, dass es nötig wäre, kam mir schon hier und da, aber –«
»Er ist hier, weil sein Auto verschwunden ist«, unterbrach ich Lichner, der daraufhin tatsächlich verstummte.
»Wie können Sie sich überhaupt ein Auto leisten?«, fragte Menkhoff provokant.
»Ich glaube, ich hatte schon mal erwähnt, dass ich einiges auf der hohen Kante habe. Aber wollen wir jetzt wirklich über meine finanzielle Situation reden? Ich fahre einen Kleinwagen, und den hatte ich in der Parallelstraße meiner Wohnung geparkt. Nun ist er weg.«
»Hat Nicole einen Schlüssel für das Auto?«, fragte ich.
»Nein, aber zu meiner Wohnung. Sie muss da gewesen sein, während ich in der Arrestzelle saß.«
Menkhoff hob einige Blätter an, die auf seinem Schreibtisch verteilt waren, und griff sich einen Stift. »Kennzeichen? Fahrzeugtyp, Farbe?«
Ohne Zögern machte Lichner die Angaben, Menkhoff notierte alles, griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Menkhoff. Ich habe eine dringende Fahrzeugfahndung zum Entführungsfall.« Er gab die Fahrzeugdaten durch und die Adresse, wo das Auto gestanden hatte, sah zu Lichner herüber und sagte: »Irgendwelche auffälligen Merkmale an Ihrem Wagen? Beulen, Kratzer … ?« Lichner schüttelte den Kopf, und Menkhoff beendete das Telefonat. »Wieso steht Ihr Auto eigentlich in einer Parallelstraße und nicht vor Ihrem Haus?«
Lichner sah ihn mit Unschuldsmiene an. »Weil vor meinem Haus, dort, wo Sie bei Ihren Besuchen zu parken pflegen, Parkverbot ist, Herr Hauptkommissar, und weil ich ein gesetzestreuer Bürger bin.«
Ich beobachtete Menkhoff genau, aber er blieb ruhig. »Sie denken also, Nicole hat Ihr Auto benutzt, um meine Tochter zu entführen«, sagte er.
»Aber nein, der Gedanke wäre doch schon Polizeiarbeit, oder?«
Ich konnte unmöglich so schnell reagieren, wie Menkhoff von seinem Stuhl hochschnellte, sich nach vorn beugte und Lichner am T-Shirt packte. Obwohl er dabei so weit über dem Schreibtisch hing, dass er kaum noch Halt haben konnte, schaffte er es, Lichner aus dem Stuhl hoch- und zu sich heranzuziehen, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Mit zwei Schritten war ich neben ihm, bereit, jederzeit dazwischenzugehen.
»Wenn Sie noch einmal Ihr Schandmaul für einen Ihrer Scheißwitze aufmachen, während meine Tochter in Lebensgefahr schwebt, dann schlage ich Ihnen die Zähne ein«, sagte Menkhoff gepresst, und ich merkte seiner Stimme an, dass es ernst war damit.
Lichner spürte wohl, dass es besser war, nichts mehr zu sagen. Er stand reglos da, Menkhoffs geballte Fäuste mit einem Stück seines Shirts dazwischen unter dem Kinn, und erwiderte stumm dessen Blick.
»Lass gut sein, Bernd«, sagte ich. »Ich glaube, er hat’s kapiert.«
Ganz langsam öffnete er die Fäuste und entließ Lichner aus seinem Griff. Als er die Hände frei hatte, musste er sich auf der Schreibtischplatte abstützen, um nicht mit dem Oberkörper nach vorne zu kippen.
Lichner ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und zog sein T-Shirt notdürftig glatt. Sein Gesicht verriet nichts darüber, was in seinem Kopf vor sich ging, es glich einer Maske. Ich lehnte mich an die Kante von Menkhoffs Schreibtisch. »Gibt es sonst noch was, was uns weiterhelfen könnte, Dr. Lichner?«, fragte ich.
Lichner hob bemüht gelassen die Schultern. »Im Moment nicht, und wenn, dann würde ich …«
»Was?«, fragte ich, als er nicht weitersprach.
»Nichts. Nein, es gibt sonst im Moment nichts.«
»Dann verschwinden Sie«, sagte Menkhoff, ohne ihn dabei anzusehen.
Lichner stand auf und fragte: »Muss ich nichts unterschreiben wegen des Diebstahls?« Menkhoff reagierte nicht darauf, und schließlich schüttelte Lichner den Kopf und ging.
Ich folgte ihm. Als wir das Treppenhaus erreicht hatten, drehte er sich zu mir um. »Ihr liebenswerter Partner hat damals dafür gesorgt, dass ich unschuldig eingesperrt wurde, ob Sie das nun glauben oder nicht. Und wissen Sie was? Wenn es hier um sein Leben ginge, würde ich mich genüsslich zurücklehnen und abwarten, was passiert. Es geht aber leider nicht um sein Leben, sondern um das eines kleinen Kindes. Seines Kindes. Und dieser Mann schafft es nicht mal in dieser Situation, seinen irrationalen Hass auf mich zur Seite zu schieben und über seinen Schatten zu springen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich helfen kann, Nicole und seine Tochter zu finden, aber ich wollte es zumindest versuchen.«
»Warum eigentlich?«, fragte ich. »Warum wollen Sie uns helfen?«
Auf seinem Gesicht zeigte sich Verwunderung. »Das fragen Sie mich ernsthaft? Weil es um das Leben eines Kindes geht, das nichts dafür kann, dass es ausgerechnet Hauptkommissar Menkhoff zum Vater hat.« Ich nickte. Was konnte ich dazu noch sagen? »Und weil ich ihn beschämen möchte«, fügte er hinzu. »Ich möchte ihm zeigen, dass es Menschen gibt, die nicht alles um sich herum aus Wut oder Hass vergessen. Können Sie das verstehen, Herr Hauptkommissar, oder sind solche Vorstellungen in Polizistenköpfen grundsätzlich ausgeschaltet?«
Ich ignorierte die leichten Stiche auf meiner Stirn, weil ich mich von Joachim Lichner nicht mehr provozieren lassen wollte, und auch, weil ich das, was er vorher gesagt hatte, sogar nachvollziehen konnte. Ohne ein weiteres Wort wandte Lichner sich ab und ging zur Treppe. Sekunden später war er aus meinem Blickfeld verschwunden.
Menkhoff knallte den Telefonhörer auf das Gerät, als ich in unser Büro zurückkam. »Nichts. Nicole ist wie vom Erdboden verschluckt. Gestern hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass sie es alleine bis vor die Haustür schafft, und jetzt entführt sie ein Kind aus dem Kindergarten und versteckt sich mit ihm so gut, dass eine Hundertschaft sie nicht findet, verdammt.« Er sah zu mir herüber. »Hat Lichner noch was gesagt?«
»Er hat sich gewundert, dass du seine Hilfe nicht annimmst«, sagte ich.
»Pah! Seine Hilfe. Der Scheißkerl weidet sich doch an meiner Verzweiflung. Das ist der einzige Grund, warum er sich plötzlich so hilfreich gibt und hier extra aufkreuzt.«
»Warum wolltest du nicht, dass er etwas von Nicoles Anruf erfährt?«
»Ach, das war so ein Gefühl. Ich möchte einfach nicht, dass er über alles Bescheid weiß.«
Ich setzte mich, aber nicht hinter meinen Schreibtisch, sondern auf den Stuhl, auf dem Minuten zuvor noch Joachim Lichner gesessen hatte. Ich musste wissen, was es mit Nicoles Bemerkung zu diesem Ding auf sich hatte, von dem er damals angeblich wollte, dass sie es in den Schrank legte. Die Frage brannte mir auf der Zunge, doch als ich dieses Gesicht sah, in dem die Verzweiflung stand und die Angst um seine Tochter, verkniff ich sie mir.
»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte ich stattdessen. Er stand auf, ging zum Fenster und lehnte sich mit dem Hintern gegen die Fensterbank. »Wolfert ist mit den Fotos der Mädchen beschäftigt, die meisten der anderen Kollegen sind draußen. Ich hoffe, dass sich Wolferts Vater bald meldet wegen Nicoles Tante. Vielleicht kann die uns ja irgendwie helfen. Aber ich kann bis dahin nicht untätig hier rumsitzen.«
»Wir sollten der Chefin von Lichners Besuch erzählen.«
Er winkte ab. »Können wir später immer noch. Ich hab keine Zeit, mich mit Berichten aufzuhalten, während meine Tochter da draußen irgendwo wahrscheinlich Todesängste aussteht.«
War es wirklich nur das? Oder wollte er verhindern, dass Ute Biermann von dieser Sache mit dem Haargummi erfuhr? Rechnete er vielleicht damit, dass ich es ihr erzählte?
»Was ist eigentlich mit Lichners Wohnung in der Zeppelinstraße?«, fragte ich. »Nicole hat zwar gesagt, sie weiß nichts von der Wohnung, aber …«
»Aber vielleicht hat sie gelogen«, vervollständigte Menkhoff den Satz und stieß sich von der Fensterbank ab. »Du hast recht. Los, fahren wir.«
Mit schnellen Schritten verließ Menkhoff das Büro, bog aber zuerst nicht in Richtung Treppe ab, sondern zur anderen Seite. An der Tür zu Wolferts Büro blieb er stehen und sagte: »Wir fahren nochmal in die Zeppelinstraße. Wenn Sie irgendwas rausfinden, rufen Sie mich sofort an.«
»Die Chefin wird nicht begeistert sein«, sagte ich, als wir zusammen die Treppen heruntergingen.
»Warum?«
»Weil du im Innendienst bleiben sollst. Wegen Wolfert.«
»Ach, scheiß drauf, Wolfert ist gar nicht so übel. Außerdem weiß sein Vater, in welcher Situation ich bin.«
Als ich vom Parkplatz fuhr, sagte ich: »Es ist jetzt nicht passend, aber … es lässt mir irgendwie keine Ruhe, Bernd: Was war das damals mit dem Ding, das Nicole in den Schrank gelegt hat, weil du es wolltest? Was hat sie damit gemeint, kannst du mir das bitte erklären?« Ich war froh, ihn dabei nicht ansehen zu müssen, weil ich auf den Verkehr achten musste.
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. »Muss das ausgerechnet jetzt sein?«
»Bernd, bitte. Du hast ihr nicht widersprochen, weil du Angst um Luisa hast, oder?«
»Nein. Ich hab ihr nicht widersprochen, weil’s wahr ist, was sie gesagt hat.«