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23. Juli 2009, 14.28 h

Ich schreckte von einem Geräusch direkt neben dem offenen Fenster des Audis hoch und öffnete die Augen. Menkhoff stand schnaufend neben dem Wagen. »Alex, aufwachen«, sagte er ungeduldig. »Rutsch rüber.«

Ich schob mich ächzend über die Mittelkonsole auf den Fahrersitz. Ich hatte geschwitzt, und mein Shirt war am Rücken nass. Die Berührung mit dem Leder des Sitzes war im ersten Moment unangenehm. Ich schnallte mich an, während Menkhoff sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Selbst im Schatten erschien es mir unerträglich hell, aber ich wusste, das würde sich nach wenigen Sekunden wieder legen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich mit geschlossenen Augen dagelegen und über die Vergangenheit nachgedacht hatte, aber geschlafen hatte ich definitiv nicht. Ich startete den Motor.

»Das ist alles eine solche Scheiße!« Bernd Menkhoff schlug mit der geballten Faust auf die Mittelkonsole.

Ich fuhr rückwärts aus der Parklücke. »Was ist denn los, Bernd?«

»Mist, verdammter, das ist los. Sie ist psychisch krank, das ist los.« Noch immer ging sein Atem schnaufend. »Sie hat mir keine einzige vernünftige Antwort gegeben, Alex. Ich hab mir gedacht, sie steht wahrscheinlich unter irgendwelchen Medikamenten, wer weiß, was dieses Arschloch ihr gegeben hat. Das war übrigens das Einzige, was sie zugegeben hat: dass sie im Moment ein paar Schwierigkeiten hat, weil sie öfter durcheinander ist, und dass Lichner ihr deswegen Tabletten gegeben hat. Aber das Schlimmste kommt noch: Hast du dir die Fotos von den Kindern mal näher angesehen?« Er ließ mir nicht die Zeit zu antworten. »Beim Rausgehen hab ich mir diese seltsame Galerie mal angekuckt. Alles Mädchen, zwischen vier und sechs, schätze ich. Und … verdammt, eines dieser Mädchen kennen wir.« Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welches dieser Kinder ich kennen sollte, und zuckte mit den Schultern.

»Juliane«, sagte Menkhoff. »Ich hab sie gleich erkannt. Eines der Mädchen auf den Fotos ist Juliane Körprich.«

Fast hätte ich das Lenkrad losgelassen, so erschrak ich, als ich den Namen hörte. Ich bremste ab, lenkte den Wagen mit zwei Reifen auf den Gehweg und hielt an. »Was sagst du da? Aber wie ist das …«

»Ich hab sie darauf angesprochen, und weißt du, was die gute Nicole dazu sagt? Erst mal gar nichts. Und dann schaut sie mich an wie eine Kuh, wenn’s donnert, und meint: ›Ich weiß es nicht.‹«

»Moment, Bernd, nochmal für mich zum Mitdenken: Da oben in Nicoles Wohnung steht ein Bild von dem Mädchen, das ihr damaliger Freund umgebracht hat? Und du hast sie gefragt, warum das Foto da steht, und sie sagt, sie weiß es nicht?«

»Ich hab sie gefragt, woher sie das Foto hat, und sie behauptet, sie weiß es nicht mehr. Und sie wüsste auch gar nicht, wer das Mädchen auf dem Foto ist, und kann sich das nicht erklären. Mensch, Alex, ich hab die Schnauze so dermaßen voll von dieser ganzen Scheiße.« Ich sagte nichts dazu und fuhr wieder los.

Nach einem kurzen Schweigen sagte mein Kollege: »Ich hab Nicole gefragt, ob ich die Fotos mitnehmen kann. Sie sagte, das geht nicht. Weil sie sie dann nicht mehr beschützen kann. Sie hat allen Ernstes gesagt, sie beschützt diese Mädchen, und das geht nur, wenn sie da stehen bleiben.«

»Das klingt, als ob sie dringend ärztliche Hilfe benötigt.«

»Ja, Alex, das denke ich auch. Und das habe ich ihr auch gesagt, bevor ich gegangen bin. Sie meinte, sie hat alles, was sie braucht.«

»Lichner.«

Er nickte. »Wahrscheinlich.«

»Wovon lebt sie eigentlich? Weißt du, ob sie einen Job hat?« »Danach hab ich sie nicht gefragt. Sie hätte es mir wahrscheinlich sowieso nicht sagen können. Sie hat Arzthelferin gelernt, so hat sie Lichner damals kennengelernt. Als wir zusammen waren, hat sie bei einem Hautarzt in der Stadt gearbeitet, aber ob sie da noch ist … Keine Ahnung.«

Mir fiel etwas ein, was zwar in keinem direkten Zusammenhang mit Nicole stand, aber trotzdem wichtig war, und eine kurze Ablenkung von der Person Nicole Klement war in diesem Moment sicher nicht schlecht. »Was ist mit dieser Krankenpflegerin, deren Name in der Datenbank gestanden hat? Sollten wir die nicht noch befragen? Vielleicht –«

»Nicht jetzt«, fiel Menkhoff mir ins Wort. »Das können wir auch morgen noch tun. Da es ja offenbar kein Kind gibt, das entführt wurde, spielt es keine Rolle, ob wir uns jetzt oder morgen früh mit ihr unterhalten. Wir haben einen langen Abend vor uns. Tu mir den Gefallen und setz mich am Napoleonsberg ab.«

»Wenn du meinst.«

»Ich muss den Kopf frei bekommen und gehe von da zu Fuß nach Haus. Ich ruf die Biermann noch an und gebe ihr Bescheid. Und … ich möchte noch ein bisschen Zeit mit meiner Tochter verbringen. Ich hab gerade das dringende Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen.« Ich nickte. »Wir treffen uns gegen acht bei mir, dann ist Luisa im Bett.«

»Alles klar.«

Ich setzte Menkhoff an der gewünschten Stelle ab. Vom Napoleonsberg bis zu seinem Haus in Brand waren es etwa zwei Kilometer. Über den Indeweg wäre es kürzer gewesen, aber er brauchte wohl einen etwas längeren Spaziergang.

Um drei war ich zu Hause. Bevor ich ausstieg, warf ich einen Blick über die Schulter auf den Rücksitz. Die vier Ordner waren wahrend der Fahrt verrutscht und lagen kreuz und quer. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich vielleicht einen davon mitnehmen sollte. Melanie kam frühestens um fünf, ich war also noch zwei Stunden allein. Ich hätte schon mal einen Teil lesen können, den wir dann am Abend weniger zu bewältigen hatten, und außerdem … Und außerdem war ich zu neugierig. Ich drehte mich um und stieg aus. Das, was dort auf diesen Hunderten von Seiten stand, ging mich im Grunde gar nichts an. Es war eine Patientenakte. Menkhoff hatte mich gebeten, ihm zu helfen, okay. Genau das würde ich auch tun, mit ihm zusammen, am Abend, und nicht mehr. Ich würde die zwei Stunden nutzen, ein wenig zu entspannen.

Im Haus ließ ich mit dem Schalter neben der Terrassentür die Markise ausfahren und legte Polster auf die beiden Liegen. Dann ging ich in die Küche, nahm ein Käsebrot und ein Glas Apfelsaftschorle mit auf die Terrasse und streckte mich auf der Liege aus.

Diese Sache mit Nicole ging mir näher, als ich es für möglich gehalten hätte. Wir waren uns in den Jahren, die sie mit Menkhoff zusammen gewesen war, nie vertrauter geworden. Der Funke, der nötig war, jemanden wirklich sympathisch zu finden, sprang einfach nicht über, obwohl wir uns eine Weile relativ häufig zu dritt gesehen hatten. Wir begegneten uns nett und waren höflich zueinander, aber eine gewisse Reserviertheit stand dabei immer wie eine unsichtbare Mauer zwischen uns. Dass ihr jetziger Zustand mich innerlich so aufwühlte, machte mich nachdenklich. Ich sah ihr feingeschnittenes Gesicht vor mir und die unendlich traurigen Augen darin. Dann schob sich ein anderes Bild darüber. Der tote Körper eines kleinen Mädchens. Die blonden Locken von Dreckklumpen durchsetzt, die zarten Lippen dunkelblau, an ihrem Hals große, dunkle Flecke …

Das Entsetzen von damals war plötzlich wieder da, der Schmerz.

Das Nächste, was ich sah, war Mels Gesicht, das auf beiden Seiten von ihren Haaren fast komplett verdeckt wurde, die allen physikalischen Gesetzen zum Trotz waagerecht nach vorne abstanden, als würde jede einzelne Strähne auf mich zeigen. Einige Spitzen dieser Haare kitzelten mich sogar auf der Wange. Noch während ich über diese seltsame Perspektive rätselte, richtete sich Mel lächelnd auf und sagte: »Hallo Schatz, haben sie dich entlassen?«

Ich hob den Oberkörper ein Stück an und stützte mich mit den Ellbogen auf der Liege auf. »Nein, ich … ist es schon fünf?«

»Es ist schon halb sechs. Seit wann bist du zu Hause?«

Halb sechs? Ich hätte gewettet, dass ich – wenn überhaupt – eine Minute zuvor erst eingeschlafen war.

»Seit drei.« Ich schwang die Beine von der Liege.

Mel war schon auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, blieb aber überrascht stehen. »Wie kommt’s, dass du so früh schon Dienstschluss hast?«

»Hab ich leider noch nicht. Wir müssen heute Abend noch einen ganzen Berg Akten durchgehen, und weil es sicher sehr spät wird, haben wir eine kleine Pause eingelegt.«

»Na super.«

Ich konnte die Enttäuschung deutlich in ihrer Stimme hören. Und ich konnte sie verstehen. »Es tut mir leid, aber … es gibt da ein paar schreckliche Sachen … Nicole Klement, weißt du …«

Melanie kam zu mir zurück, setzte sich neben mich auf die Liege und legte mir die Hand in den Nacken. »Nicole Klement? Erzählst du’s mir?« Ich dachte nur einen kurzen Moment an Dinge wie Schweigepflicht, dann nickte ich. »Ja.«