Ich sah zu Menkhoff herüber und versuchte, an seinem Gesicht abzulesen, was er über diese Geschichte dachte, die Markus Diesch gerade erzählt hatte. Es schien ihn nicht sehr zu interessieren. Aber was hatte ich anderes erwartet? Meinen Partner interessierte grundsätzlich nichts, was Lichners Schuld auch nur ansatzweise in Frage stellte. Sosehr ich Menkhoff auch in all den Jahren schätzen gelernt hatte, sein stures Verhalten bei diesem Thema konnte ich nicht nachvollziehen, und es ging mir gehörig auf die Nerven, jetzt, wo das alles wieder hochkochte. Vielleicht empfand ich es auch als so extrem, weil ich zwei Tage zuvor noch fest davon überzeugt gewesen war, mich nie mehr mit Dr. Joachim Lichner befassen zu müssen.
Wieder beschlich mich dieses Gefühl, etwas bei der Durchsuchung von Lichners Wohnung übersehen zu haben, und noch immer konnte ich es nicht greifen.
»Wir waren im Klinikum, um uns die Unterlagen über die Geburt von Dr. Lichners Tochter anzusehen«, sagte Menkhoff neben mir. Ich beobachtete Dieschs Gesicht, er zeigte sich überrascht. »Der Doc hat eine Tochter?«
»Sie soll vor rund zwei Jahren auf der Station zur Welt gekommen sein, auf der Sie arbeiten, Herr Diesch.«
Aus der Überraschung in seinem Gesicht wurde Ungläubigkeit. »Das kann nicht sein, das hätte ich doch mitbekommen. Wann genau war das?«
»Im Juni 2007.«
Diesch starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin, er schien angestrengt nachzudenken. »Juni 2007«, wiederholte er murmelnd. »Nein, Urlaub hatte ich da nicht, glaube ich. Aber wenn Jo Lichners Tochter auf der Station zur Welt gekommen wäre, dann hätte ich ihn doch sehen müssen. Es sei denn …«
»Es sei denn was?«, hakte ich nach, als ich den Eindruck hatte, er wolle den Satz nicht beenden.
»Na ja, es sei denn, er hat sich nicht für das Kind interessiert, was weiß ich, vielleicht, weil er sich inzwischen von der Frau getrennt hat? So was erleben wir häufiger, als Sie vielleicht denken.«
»Oder es hat diese Geburt niemals gegeben und der Eintrag in die Datenbank wurde gefälscht«, sagte Menkhoff. »Kennen Sie einen Arzt mit Namen Bartholomé?«
»N … Nein, warum?«
»Wie steht es mit Anna Gerling?«
»Anna Gerling … warten Sie … Gerling … ist die nicht Ärztin auf der Inneren?«
»Nein, Hebamme.«
»Oh, dann hab ich mich wohl vertan. Nein, die kenn ich auch nicht.«
»Wie ist Ihr Verhältnis zu Susanne Trumpp?«
»Da gibt es kein Verhältnis, ich kenne sie kaum. Sie arbeitet auf der gleichen Station, ab und zu haben wir zusammen Dienst, aber ganz selten.«
»Kennen Sie vielleicht ihr Passwort für die Patientendatenbank?«
»Für die Patientendatenbank? Nein, wie kommen Sie auf die Idee? Es ist verboten, das Passwort an andere weiterzugeben.«
Menkhoff winkte verächtlich ab. »Es ist auch verboten, Ausweise zu fälschen, und trotzdem gibt es immer wieder Leute, die so was machen.«
Markus Diesch betrachtete seine Handflächen. »Ich weiß, dass ich damals den einen oder anderen Fehler gemacht habe, aber ich habe meine Strafe dafür abgesessen.« Seine Stimme hatte einen weinerlichen Klang, was so gar nicht zu ihm passen wollte.
»Na und?«, blaffte Menkhoff ihn an, doch ich fiel ihm ins Wort. »Sie haben sich also noch nie unter dem Namen Ihrer Kollegin in das Programm eingeloggt, zum Beispiel weil Sie Ihr eigenes Passwort vergessen haben und etwas eingeben mussten?«
»Nein, das habe ich nicht«, antwortete er und hörte sich an wie ein störrisches Kind. »Warum sollte ich?«
Ich sah Menkhoff an, und als der kurz nickte, sagte ich: »So wie’s aussieht, hat jemand einen falschen Eintrag in die Datenbank gemacht und anschließend eine gefälschte Geburtsbescheinigung ans Standesamt geschickt. Das heißt, aus behördlicher Sicht gibt es ein Kind, das in Wahrheit gar nicht existiert. Für den Eintrag ins Melderegister reicht aber die Geburtsbescheinigung des Krankenhauses nicht aus. Die Ausweise der Eltern müssen vorliegen und ihre Geburtsurkunden, und wenn die beiden nicht verheiratet sind, außerdem noch eine schriftliche Anerkennung der Vaterschaft. All das müsste der oder diejenige also auch gefälscht haben.«
Es dauerte einen Moment, bis Dieschs Augen groß wurden und er sich aufrichtete. »Jetzt verstehe ich das erst. Es werden irgendwelche Papiere gefälscht, und wer kommt dafür natürlich nur in Frage: der ehemalige Knacki. Das ist verdammt unfair.«
»Reden Sie keinen Unsinn, Herr Diesch«, sagte Menkhoff. »Natürlich denken wir zuerst an den verurteilten Fälscher, wenn in seinem direkten Umfeld etwas gefälscht wird. Was denn sonst? Das ist nicht unfair, das ist logisch. Also?«
Diesch sprang auf, sein Atem ging schnell. »Ich hab damit nichts zu tun. Warum soll … das Motiv, was ist mit dem Motiv? Warum sollte ich das gemacht haben? Was hätte ich denn davon?«
Menkhoff hob die Schultern. »Tja, Lichner hat Sie genervt. Vielleicht hat er Sie so sehr genervt, dass Sie das Bedürfnis hatten, ihm eins auszuwischen? Vielleicht hat er Sie auch richtig wütend gemacht? Er kann ein Kotzbrocken sein, Herr Diesch, und ich hätte sogar ein gewisses Verständnis dafür, wenn Sie ihm was anhängen wollten.«
»Nein. Ich hab damit nichts zu tun, ehrlich. Der Doc … Jo und ich, wir haben uns gut verstanden. Wir haben nie gestritten, kein einziges Mal. Gucken Sie doch in meiner Akte nach.«
In diesem Augenblick fiel mir endlich ein, was dieses komische Gefühl bedeutete, das mir keine Ruhe ließ, seit wir Lichners Wohnung verlassen hatten. Wie hatte ich das vergessen können? Menkhoff stand auf und sagte: »Wir melden uns wieder bei Ihnen, falls wir noch Fragen haben.«
Ich erhob mich ebenfalls und folgte ihm nach draußen.
Als wir endlich so weit von Dieschs Haustür entfernt waren, dass er uns auf keinen Fall mehr hören konnte, sagte ich: »Bernd, wir haben eben in Lichners Wohnung was vergessen.«
»Ja? Was denn?« Es hörte sich nicht so an, als ob er sich wirklich dafür interessierte.
»Diese eine Seite in der Kiste, mit dem Teil von Lichners Diagnose … Erinnerst du dich noch, was da draufgestanden hat?«
Menkhoff grummelte etwas, zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Hosentasche und hielt es mir hin. Als ich es aufklappte, sah ich, dass es die Seite war, von der ich gerade gesprochen hatte. Menkhoff musste sie eingesteckt haben, ohne dass ich es bemerkt hatte.
Ich tippte auf die Stelle, die ich meinte. »Da, der Querverweis am Ende: Siehe P-Doku 112/1993, das meine ich.«
Er schien nicht zu verstehen. »Na und? Schätze, das ist ein Hinweis auf einen anderen schwachsinnigen Bericht. Aber wie wir gesehen haben, war das das einzige Blatt in der Kiste. Was soll’s also?« Ich nickte eifrig. »Genau, du hast es gesagt: Es war das einzige Blatt in dieser Kiste. Und was ist mit den anderen? Was ist mit der Kiste, auf der wahrscheinlich so was steht wie: K-L?«
»Du denkst, Nicoles Patientenakte befindet sich vielleicht in dieser Kiste, zusammen mit …«
Menkhoff blieb so abrupt stehen, dass ich noch zwei Schritte weiterlief. Ich drehte mich zu ihm um. »Ja, zusammen mit denen der anderen Patienten, deren Namen mit K anfängt. Das ist doch naheliegend. Ich frage mich, warum wir nicht gleich daran gedacht haben.«
»Glaubst du wirklich, Nicole hätte … Glaubst du, sie war bei ihm regulär in Behandlung, Alex?«
»Ja, logisch. Es gibt keinen Grund, warum Lichner sonst eine Patientendokumentation über sie haben sollte.« Er überlegte einen Moment, dann sah er auf seine Armbanduhr. »Also gut, aber es ist zu spät, wir können nicht mehr zusammen dahin. Wart mal, vielleicht ist Lichner noch nicht weg.«
Er zog sein Handy und rief auf dem Präsidium an. Lichner war nicht mehr dort, das hörte ich aus Menkhoffs Antworten heraus. Als er aufgelegt hatte, sagte er: »Er ist gerade weg, aber es könnte trotzdem noch klappen. Die Biermann sagt, Kollegen bringen ihn gerade zur Zeppelinstraße. Da fahren wir jetzt auch hin. Du lässt mich dort raus und machst dich direkt auf den Weg nach Kohlscheid. Ich werde ihn eine Zeitlang ablenken, damit er dir nicht in die Quere kommt, okay?«
»Okay«, sagte ich. »Aber wie willst du ihn bitte ablenken?«
»Ich möchte wissen, was mit Nicole los ist oder war, Alex. Und wenn es sein muss, lade ich das Arschloch zum Essen ein, auch wenn mir der Appetit vergeht. Egal wie, ich werde ihn auf jeden Fall lange genug aufhalten.«
Noch immer standen wir ein Stück voneinander entfernt. Ich überbrückte die Distanz mit zwei langsamen Schritten und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ja, wer weiß, vielleicht bekommen wir endlich ein paar Antworten.« Und ich meinte wir.