Menkhoff kam schon nach wenigen Minuten an unseren Tisch zurück. Die Kellnerin brachte gerade den Espresso und den Kaffee, den Wolfert und ich uns bestellt hatten. Ich versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, aber es gelang mir nicht. Etwas hatte sich in Menkhoffs Gesicht verändert, aber was? Seine Augen waren unübersehbar leicht gerötet, aber da war noch etwas anderes.
Er legte das Blatt mit der beschriebenen Seite nach unten vor sich ab und sah Lichner mit einem Blick an, der mir unter die Haut ging. »Warum haben Sie darüber nie was gesagt?« Seine Stimme klang ungewohnt sanft. Lichner hob überrascht die Brauen. »Bitte? Was sollte ich Ihnen darüber sagen? Wie Ihr Kollege eben schon so treffend bemerkte, handelt es sich dabei um eine Patientenakte, und ich bin an meine ärztliche Schweigepflicht gebunden, auch wenn ich nicht mehr als Psychiater arbeiten kann, nachdem man mich über 13 Jahre zu Unrecht eingesperrt hat. Die Frage ist doch – warum haben Sie in all den Jahren nichts davon erfahren? Nicole hat Ihnen anscheinend nicht sehr vertraut.«
Menkhoff starrte auf das Papier vor sich, als versuche er, durch die weiße Fläche hindurch zu lesen, was auf der nach unten gekehrten Seite in Spiegelschrift stand. »Herr Lichner, ich möchte alles darüber wissen. Alles.«
Der Psychiater stieß einen Zischlaut aus und schüttelte dabei den Kopf, was wohl veranschaulichen sollte, dass er nicht fassen konnte, was Menkhoff da Ungeheures von ihm forderte. »Was denken Sie sich eigentlich, Herr Hauptkommissar? Sie überfallen mich in meiner Wohnung, beschuldigen mich eines ungeheuren Verbrechens an einem Kind, das nicht einmal existiert, Sie verhaften mich, Sie durchwühlen meine Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl und so weiter und so weiter. Und jetzt, nachdem sich herausgestellt hat, dass ich unschuldig bin und Sie sich in absolut jedem Punkt geirrt haben, erwarten Sie, dass ich mich zum Dank dafür Ihretwegen wirklich strafbar mache?«
»Ja«, antwortete Menkhoff nur, und mit einem Mal erkannte ich, was ich vorher nicht für möglich gehalten hätte: Bernd Menkhoff sah verletzlich aus. Er hatte alle Schutzschilde heruntergefahren.
Ich musste ihm helfen, ihn in diesem Moment vor dem scharfen und zynischen Verstand Lichners beschützen. »Hören Sie auf mit diesem Mist von Ihrer Unschuld«, schaltete ich mich ein. »Ich hab Ihnen eben schon ausgiebig erklärt, wie die Rechtslage bei sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses aussieht, und als Arzt wissen Sie das auch. Sie sind also alles andere als unschuldig, und wenn wir es drauf anlegen, sitzen Sie allein schon deswegen ruck, zuck wieder im Bau! Davon abgesehen ist diese Geschichte mit Ihrer Tochter noch nicht zu Ende. Vielleicht haben Sie ja trotz allem dabei Ihre Finger im Spiel, wer weiß.«
Lichners Blick wanderte von mir zu Menkhoff, dann zu Wolfert, der noch immer stumm neben mir saß, und schließlich wieder zu mir zurück. »Was wollen Sie denn noch? Sie haben Nicoles Patientenakte doch schon. Dass ich dafür Sie verklagen könnte, wissen Sie auch.« Ich sah aus den Augenwinkeln, dass auch Menkhoff mich nun anschaute. Er schien sich in diesem Moment voll und ganz auf mich zu verlassen.
»In dem kleinen Zimmer, in dem die Umzugskartons mit den Akten standen, gab es auch eine Kiste, die mit ›Nicole Klement‹ beschriftet war. Da drin lag, wie Sie wissen, nur ein altes Kopfkissen, aber zwischen den Bodenteilen hatte sich ein Blatt versteckt, das ebenfalls zur Patientendokumentation von ihr zu gehören scheint. Es gibt also offenbar noch viel mehr Material über Frau Klement. Also: Was war ursprünglich in dieser Kiste, und wo ist der Inhalt jetzt?«
Lichner zögerte, er tat überrascht, aber das nahm ich ihm nicht ab. »Also gut«, antwortete er schließlich, als koste es ihn Überwindung, »nur ein kleiner Teil der Sitzungen, die ich mit Nicole hatte, ist in ihrer Akte dokumentiert. Es gab mehr Sitzungen, viel mehr. Nicole war so schwer traumatisiert, dass ich sie über einen Zeitraum von zwei Jahren intensiv therapieren musste. Über diese Sitzungen habe ich eine Art Tagebuch geführt, viele einzelne Blätter, die die schlimmsten Jahre ihrer Kindheit in allen Einzelheiten beschreiben. Sie füllen vier Ordner, und diese Ordner waren in der Kiste, die Sie gesehen haben.«
»Und wo sind diese Ordner jetzt?«
»Sie … weg. Ich hab sie nicht mehr. Vernichtet.«
Er log.
Warum aber erzählte Lichner uns erst ausgiebig von diesen Ordnern voller Informationen über Nicole Klement, um uns dann über ihren Verbleib anzulügen? Es war zum Verrücktwerden. Was auch immer man mit diesem Kerl zu tun hatte, innerhalb kürzester Zeit widersprach das, was er sagte und was er tat, jeglicher Logik.
»Wo wir gerade dabei sind, Dr. Lichner, warum haben Sie eigentlich zwei Wohnungen?« Sein Körper straffte sich kaum merklich. »Weil mir danach ist, Herr Hauptkommissar. Oder – um es anders zu sagen: Das geht Sie nichts an.«
»Na ja, das kann man –«
»Er hat recht, Alex«, unterbrach mich Menkhoff, »geht uns nichts an. Lass uns gehen.«
Er stand auf, fingerte in seiner Hosentasche herum und zog ein paar zerknitterte Geldscheine heraus. Nachdem er sich die Getränke auf dem Tisch angesehen hatte, klemmte er einen Zehner und einen Fünfer unter den unbenutzten Aschenbecher und sagte: »Also los.«
»Wo ist eigentlich Egberts?«, fragte ich. Mir fiel in diesem Moment erst auf, dass er die ganze Zeit schon nicht dabei gewesen war. »Wollte noch was erledigen. Ich ruf ihn an, wir treffen uns mit ihm am Wagen.«
»Ich komme nicht mit«, erklärte Joachim Lichner. »Ich hab mir überlegt, ich bleibe lieber hier.«
Menkhoff hob die Schultern. »Also gut.« Er ließ Lichner stehen.
»Wenn wir noch Fragen haben – wo erreichen wir Sie?«
Der Psychiater warf mir eine große Portion seines unverschämten Lichner-Grinsens entgegen. »Zu Hause.«
Ich ignorierte die Ameisen, die mir über die Stirn liefen, und folgte meinem Partner, der die gleiche Richtung eingeschlagen hatte, die auch wir zum Parkhaus gehen mussten. Wolfert beeilte sich, um mit mir Schritt zu halten. »Ich habe mich eben noch gewundert, warum Sie so sauer waren. Jetzt verstehe ich es. Sie wussten, dass wir diesen Kerl treffen würden. Mein Gott, ist der ekelhaft. Er hält sich wahrscheinlich für weiß Gott was, für super intelligent, schlauer als alle anderen. Ich muss unbedingt meinem Vater von dem Kerl erzählen. Vielleicht kann der über seine Quellen noch ein paar Dinge über ihn herausbekommen, an die wir auf dem normalen Dienstweg nicht … –«
»Seien Sie besser still«, zischte ich ihm zu. »Sie wissen doch, was Kollege Menkhoff Ihnen angedroht hat, wenn Sie Ihren Vater erwähnen, oder?«
Wolfert betrachtete Menkhoffs Rücken, und seine betretene Miene zeigte, dass er es noch gut wusste und nicht auf die leichte Schulter nahm. Mit ein paar großen, schnellen Schritten hatte ich meinen Partner erreicht und sagte: »Warum hast du so schnell aufgegeben? Du hast doch auch gemerkt, dass er lügt, oder?«
»Ach, ich hab den Kerl so satt, dass …«
»Warten Sie!« Es kam von irgendwo hinter uns und hätte jedem gelten können, aber ich erkannte die Stimme, und den anderen beiden ging es offensichtlich genau so. Wir blieben stehen und drehten uns um. Ich hatte mich nicht getäuscht, Lichner kam hinter uns her. Kurz, bevor er uns erreicht hatte, sagte ich: »Sollen wir Sie nun doch mitnehmen?«
»Ich habe gerade nicht die Wahrheit gesagt, was die Unterlagen angeht. Über Nicole.« Er atmete tief ein und sah sich um, als erwarte er, jemanden zu entdecken, der ihn beschattet. »Ich bin noch immer wütend, weil Sie mich schon wieder zu Unrecht beschuldigt haben, dass … –«
»Sie sind rechtskräftig von einem ordentlichen Gericht verurteilt worden, Herr Lichner«, sagte Menkhoff mit geradezu stoischer Ruhe.
»Ich war unschuldig, und das wissen Sie genau. Aber ich denke, es kann nichts schaden, wenn Sie sehen, wer die Frau wirklich ist, die Sie so gut zu kennen glauben. Und dass ich der Einzige war und bin, der wirklich alles über sie weiß. Und der ihr geholfen hat, so sehr, dass Sie anschließend von alledem nichts gemerkt haben.«
»Wann haben Sie Frau Klement zum letzten Mal gesehen?«, wiederholte ich die Frage, die ich ihm zuvor schon gestellt hatte.
»Vor ein paar Tagen. Seit geraumer Zeit sehe ich sie wieder regelmäßig, und zwar nicht als ihr Therapeut. Aber das ist Herrn Menkhoff egal, wie er mir eben versichert hat, weil er ja zwischenzeitlich glücklich verheiratet ist. So ist mittlerweile also zumindest in Bezug auf Frauen jeder zufrieden, nicht wahr?«
»Und wo wohnt Nicole Klement jetzt? Bei Ihnen?«
Lichner-Grinsen. »Manchmal, ja. Aber sie hat auch noch eine eigene Wohnung. In der Innenstadt, Oppenhoffallee. Sie steht sogar im Telefonbuch, Herr Ermittler.«
»Wo sind diese Unterlagen?«
»Sie haben meine Wohnung in Kohlscheid wohl eher stümperhaft durchsucht, sonst hätten Sie gesehen, dass es im Flur eine Deckenluke gibt, über die man auf den Speicher kommt. Nun könnte man sich die Frage stellen, warum mich das so gar nicht überrascht …«
Ich sah meinen Partner an und sagte: »Lass uns gehen, Bernd. Scheiß auf diese Unterlagen, du hast doch genug gelesen. Warum willst du dir das jetzt noch antun? Lass ihn hier, er soll sehen, wie er nach Hause kommt.«
»Fällt Ihnen eigentlich auf, dass Sie von mir reden, als wäre ich nicht anwesend, Herr Seifert?«
Ich sah Lichner in die Augen. »Sie haben recht, da war der Wunsch wohl Vater des Gedankens.«
»Zum letzten Mal, Lichner, geben Sie uns jetzt die Unterlagen oder nicht?«, fragte Menkhoff.
»Also gut«, antwortete Lichner. »Gehen wir. Ich bin eben … ein gutmütiger Mensch.«
Wir tauschten die Besetzung der Autos. Ich fuhr mit Menkhoff und Lichner nach Kohlscheid, während Wolfert und Egberts sich mit dem Passat auf den Weg zurück ins Präsidium machten.
In seiner Wohnung stieg Lichner ohne Zögern auf den Speicher und reichte uns vier dicke Ordner herunter. Ich öffnete den ersten kurz und sah, dass er das enthielt, was er angekündigt hatte. Auch Menkhoff schlug einen der beiden Ordner auf, die er an sich genommen hatte, und er schien zum gleichen Ergebnis zu kommen. Ich sagte Lichner zu, die Unterlagen bald wieder zurückzubringen. Wir waren schon an der Tür, als er uns nachrief: »Ach, Herr Menkhoff?« Wir drehten uns beide um und sahen ihn an. »Eine Frage habe ich noch, über die ich mir schon viele Jahre Gedanken gemacht habe. Woher hatte sie das Haargummi?«
Einen Moment lang herrschte Stille. Menkhoff zog die Brauen hoch, so dass seine Stirn sich in tiefe Falten legte. »Wer hatte was woher?«
Ich wusste sofort, was Lichner meinte, obwohl es schon so viele Jahre her war.
»Ich meine Nicole, Herr Hauptkommissar. Woher hatte sie das Haargummi, das Sie in meinem Schrank gefunden haben? Und die Haare auf dem Autositz. Haben Sie das organisiert?«