Ich hatte ihn sofort erkannt, und doch dauerte es einen Moment, bis ich in der Lage war, zu realisieren, dass es tatsächlich Dr. Joachim Lichner war, der da vor uns stand. Älter, mit schmalerem Gesicht, und auch der Ansatz der kurzgeschnittenen blonden Haare war ein Stück nach hinten gerutscht, aber mit denselben klugen, wachen Augen, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Augen, die uns nun ohne erkennbare Überraschung musterten. Mit einem Blick zur Seite erkannte ich, dass es Menkhoff ähnlich ergehen musste wie mir. Selten hatte ich meinen Kollegen so verblüfft dreinschauen sehen wie in diesem Moment.
»Herr Menkhoff und Herr Seifert, welch eine unangenehme Überraschung«, begrüßte Lichner uns in einem Tonfall, als hätte er gesagt: ›Wie schön, Sie zu sehen.‹
»Lichner.« Menkhoffs Stimme klang heiser. »Was zum Teufel tun Sie hier?«
Der Psychiater hob eine Braue. »Eine merkwürdige Frage, Herr Hauptkommissar, wenn man bedenkt, dass Sie vor meiner Tür stehen.«
Mein Partner war offensichtlich vollkommen durcheinander, er schien nach Worten zu suchen, und ich hatte das Gefühl, ihm helfen zu müssen. »Wir haben einen anonymen Anruf erhalten«, sagte ich so sachlich wie möglich. »Angeblich soll aus dieser Wohnung ein kleines Mädchen verschwunden sein.«
Innerhalb eines Sekundenbruchteils veränderte sich Lichners Gesichtsausdruck.
»Ach, ein kleines Mädchen? Und da dachten Sie, schauen wir doch präventiv mal beim guten alten Dr. Lichner vorbei. Falls wir wieder mal vollkommen erfolglos herumermitteln, können wir ihm ja was anhängen. Was einmal funktioniert hat, wird doch bestimmt wieder klappen, oder wie?«
»Der Anrufer hat konkret diese Adresse genannt, Herr Lichner«, schaltete sich Menkhoff ein, der sich offenbar wieder gefangen hatte. »Wir müssen dem nun mal nachgehen. Also, wohnt hier ein kleines Kind?«
»Welches Kind soll denn hier wohnen, Herr Hauptkommissar? Hier wohne ich und sonst niemand. Außerdem … «, er zeigte mit ausgestrecktem Daumen über die Schulter, »meinen Sie, man könnte einem Kind einen solchen Schweinestall zumuten? Hm?«
»Herr Lichner«, schaltete ich mich ein, »uns geht es nur um diesen Hinweis, und Ihre persönliche Wohnsitu –«
»Leider kann ich mir momentan nichts anderes leisten«, fiel er mir ins Wort. »Es ist nicht ganz leicht für einen verurteilten Kindermörder, einen Job als Psychiater zu bekommen, wissen Sie?«
»Das ist mir –«, setzte Menkhoff an, wurde aber ebenfalls von Lichner unterbrochen: »Ich habe gehört, sie hat Sie verlassen?«
Sekundenlang starrten die beiden Männer sich an, und während Lichner dabei fast teilnahmslos wirkte, sah Menkhoff aus, als wolle er dem Psychiater an den Hals springen. Ich wusste, dass Lichner gerade Salz in eine Wunde gestreut hatte, die noch lange nicht verheilt war.
»Das geht Sie einen Dreck an, Lichner«, zischte Menkhoff. »Ich möchte einen Blick in Ihre Wohnung werfen. Lassen Sie uns jetzt sofort rein oder erst in einer halben Stunde mit Durchsuchungsbeschluss?«
Joachim Lichner machte einen Schritt zur Seite und zeigte mit einer Geste ins Innere der Wohnung. »Nein, bitte, treten Sie doch ein. Aber ich werde Sie im Auge behalten, Herr Hauptkommissar. Wenn Sie belastendes Material in meiner Wohnung verstecken, dann werde ich das bemerken.«
Ohne darauf einzugehen, betrat Menkhoff an ihm vorbei die Wohnung. Als ich an Lichner vorbeiging, sagte er leise: »Ich hoffe, Sie lassen das nicht wieder zu, Herr Seifert.«
»Reden Sie keinen Blödsinn«, sagte ich und folgte meinem Kollegen. Die Wohnung war wirklich ein Schweinestall, und ich fragte mich, wie es möglich war, dass ein gebildeter Mensch so hausen konnte. Andererseits – gebildete Menschen taten manchmal die unfassbarsten Dinge.
Das Zimmer, vor dem wir standen, mochte 15 Quadratmeter groß sein, vielleicht auch weniger, und es roch darin nach Feuchtigkeit und Schimmel wie in einem alten Kellerraum. Die Wand links neben der Tür wurde in ihrer ganzen Länge von einem wackelig aussehenden, vergammelten Holzregal eingenommen, auf dem sich jede Menge verstaubter Plunder stapelte. Der verkratzte Fernseher an der Wand gegenüber stand auf einer Obstkiste, davor zwei ausgefranste braune Sessel, die vom Sperrmüll stammen mussten. Eine speckige Holzplatte auf einer Bierkiste diente als Tisch, in einer aufgeklappten Pappschachtel darauf lag der Rest einer Pizza. Die geblümte Tapete war ebenso fleckig wie der braune Teppich, an manchen Stellen waren lange Fetzen herausgerissen.
»Scheiße«, sagte Menkhoff und ließ den Blick weiter durch das Zimmer wandern.
»Wenn ich gewusst hätte, dass ich noch hohen Besuch bekomme, hätte ich die Putzfrau kommen lassen.«
»Ihre Zelle im Knast war bestimmt sauberer.«
»Ja, vielleicht, Herr Menkhoff. Aber da roch es ziemlich unangenehm. Nach … Korruption.«
Einmal mehr überging Menkhoff Lichners Anspielung und wandte sich mir zu. »Los, schauen wir uns die anderen Räume an, damit wir schnell wieder hier rauskommen.«
Die Küche, sofern man das so bezeichnen konnte, war so unordentlich wie das Wohnzimmer und fast so versifft wie das winzige Bad. Umso überraschter waren wir, als wir schließlich die Tür zum letzten Zimmer öffneten. Der kleine Raum war leer und sauber, die pastellgelben Wände offenbar frisch gestrichen.
Menkhoff drehte sich zu Lichner um. »Was ist das für ein Zimmer?«
»Ein neu gestrichenes, Herr Kriminalhauptkommissar.«
»Ich wi… Haben Sie es gestrichen, Herr Lichner?«
»Würden Sie mich verhaften, wenn es so wäre?«
Wieder starrten sie sich an, und der Hass schien eine Brücke zwischen ihren Augen zu schlagen, über die sie schwerbewaffnete Gedanken in den Kopf des anderen einmarschieren ließen.
»Las uns abhauen, Alex.« Menkhoff riss sich von Lichners Augen los. Als wir schon im Treppenhaus standen, drehte er sich noch einmal um. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung, Herr Lichner, falls wir noch Fragen haben.«
»Sie verbringen zu viel Zeit vor dem Fernseher mit schlechten Krimis, Herr Hauptkommissar«, erwiderte Lichner und ließ uns in dem heruntergekommenen Treppenhaus stehen.
Menkhoff warf mir einen Blick zu, der mir deutlich sagte, dass es besser war, den Mund zu halten. Als wir aus dem Gebäude traten, blieb er plötzlich stehen und zog sein Handy hervor. »Warte mal kurz.«