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24. Juli 2009, 12.28 h

Während der Fahrt sprachen wir nicht viel. Nachdem Menkhoff meine Frage, ob er Teresa schon informiert hatte, nur mit einem gepressten »Nein« beantwortet hatte, ließ ich ihn in Ruhe. In der unmittelbaren Nähe des Hauses in der Oppenhoffallee waren alle Parkplätze belegt, also stellte ich den Wagen einfach mit zwei Rädern auf dem Gehweg ab.

Im Treppenhaus war es heiß und stickig, was mir schon nach der zweiten Etage die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Meine stille Hoffnung, Nicole würde uns auf unser Klingeln hin die Tür öffnen, wurde nicht erfüllt. Ohne Zögern zog Menkhoff ein braunes Ledermäppchen aus der Hosentasche, klappte es auf und beschäftigte sich mit dem Türschloss. Schon nach kurzer Zeit war das Klicken zu hören, mit dem der Schnapper aus dem Schloss sprang. Die Tür war offen. Menkhoff drückte sie ganz auf, so dass wir in den kleinen Flur sehen konnten, und rief laut Nicoles Namen. Als sich auch daraufhin nichts regte, gingen wir hinein. Die Wohnung erschien mir noch düsterer als am Vortag.

Im Wohnzimmer fiel mein Blick sofort auf die kleine Fotogalerie auf dem Sideboard. Alles sah noch genau so aus wie bei unserem letzten Besuch, was mich auf eine seltsame Art beruhigte. Auch Menkhoff betrachtete zuerst die Fotos, bevor er sagte: »Teilen wir uns auf. Ich hab zwar keine Ahnung, wonach wir suchen, aber wer weiß …«

Ich ging zuerst zu den gerahmten Kindergesichtern und sah sie mir genauer an. Das Foto von Juliane war offensichtlich auf dem Spielplatz vor ihrem Elternhaus aufgenommen worden. Ich glaubte, mich an die Spielgeräte zu erinnern, die im Hintergrund zu sehen waren. Das Foto daneben zeigte ein dunkelhaariges Mädchen, das auf einer Schaukel saß. Sie mochte sechs oder sieben sein. Diese Schaukel schien aber zu einem anderen Spielplatz zu gehören. Das Kind schräg dahinter schätzte ich auf vier. Das blaue Plüschtier, das sie der Kamera stolz entgegenstreckte, schien eine Mischung aus Hase und Bär zu sein. Sie saß dabei auf dem unteren Ende einer gelben Rutsche. Das Mädchen auf dem Foto ganz rechts hatte rückenlange, hellblonde Harre. Ihre blauen Augen strahlten den Fotografen schelmisch an. Sie konnte etwa sechs oder sieben Jahre alt sein und war die Einzige, die nicht auf einem Spielplatz fotografiert worden war, sondern vor einer beigefarbenen Wand. Am äußeren Bildrand war ein vertikaler, dunkler Strich zu sehen, von dem ich nicht wusste, was er darstellte. Vielleicht ein Schatten? Ich atmete tief durch. Wer mochten die Mädchen auf diesen Fotos sein? Juliane Körprich war 16 Jahre zuvor umgebracht worden, eine schreckliche Tat, für die Dr. Joachim Lichner über 13 Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Wenn stimmte, was Lichner in Bezug auf Nicole gesagt hatte, wenn tatsächlich sie das Mädchen damals umgebracht hatte, weil ihr traumatisierter Verstand ihr suggerierte, die Kleine damit vor der Misshandlung durch ihren Vater beschützen zu können, was war dann mit diesen anderen Mädchen. Waren auch sie … tot?

»Wir nehmen sie mit«, sagte Menkhoff hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Er stand am Eingang des Wohnzimmers und hielt mir etwas entgegen, eine Pappschachtel, die etwas plattgedrückt aussah. »Das da lag unter ihrer Matratze.« Er kam auf mich zu, den Arm noch immer in meine Richtung ausgestreckt. Ich nahm ihm die Schachtel aus der Hand und hob den Deckel ab. Beim Anblick der Fotos darin stockte mir der Atem. Waren das etwa … »Soweit ich es sehen kann, sind es die gleichen Mädchen, die da auch eingerahmt stehen, oder besser gesagt drei davon. Von der kleinen Körprich habe ich kein anderes Foto gefunden.«

Ich nahm den Stapel aus der Schachtel heraus und ging die Fotos durch. Es waren vier oder fünf Aufnahmen von jedem der Mädchen. Wie auf den Fotos im Wohnzimmer zeigten sie zwei der Kinder in verschiedenen Situationen auf Spielplätzen. Das dritte Mädchen war wieder vor der beigefarbenen Wand fotografiert worden. Auf einem der Bilder, auf dem die Kleine ein wenig traurig in die Kamera blickte, sah man ein kleines Stück mehr von dem Schatten, und obwohl man noch immer nicht erkennen konnte, um was es sich handelte, hatte ich das Gefühl, dass ich diesen Schatten oder was immer es auch war, schon einmal zusammen mit dem dazugehörigen Rest gesehen hatte. »Wir müssen rausfinden, wer diese Mädchen sind«, unterbrach Menkhoff meine Gedanken. »In den anderen Zimmern hab ich nichts gefunden, das …«

Er stockte, und als ich meinen Blick von dem Mädchengesicht abwendete, sah ich, dass er auf eine Stelle unter dem Esstisch starrte. Dort lag ein Papierstreifen, auf dem etwas abgebildet war. Was das war, konnte ich von meinem Platz aus nicht erkennen. Menkhoff hob den Streifen vom Boden auf und betrachtete ihn genauer. Fast im gleichen Moment stöhnte er auf und ließ sich auf den Stuhl fallen, der direkt neben ihm stand.

»Bernd, was ist?«

Er legte sich die freie Hand vor die Augen und hielt mir den Streifen entgegen. Schon bevor ich ihn annahm, sah ich, dass es sich um den Rest eines Fotos handelte, aus dem jemand ein größeres Stück herausgeschnitten hatte. Eine Frau war darauf zu sehen, nicht komplett, nur ein Teil ihres Gesichtes und des Oberkörpers. Dieser Teil war aber groß genug, um sie erkennen zu können. Es handelte sich zweifelsfrei um Frau Christ. An der Schnittstelle war eine rötlichbraune Strähne zu sehen, die nicht zu der Frau gehörte.

»Was …«, sagte ich, weiter kam ich nicht, denn die Erkenntnis, was das bedeuten musste, was ich da in der Hand hielt, ließ mich verstummen. Ich setzte mich neben Menkhoff an den Tisch.

»Sie muss sie irgendwo zusammen fotografiert haben«, sagte er mit erschreckend dünner Stimme. »Vielleicht, als Frau Christ Luisa vom Kindergarten abgeholt hat. Sie … sie hat den Teil rausgeschnitten, auf dem Luisa war.«

»Aber warum?«

Menkhoff gab mir keine Antwort darauf, aber das war auch nicht nötig. Ich wandte den Kopf und ließ meinen Blick über die Galerie gerahmter Kinderfotos streichen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

»Denkst du, sie hat es mitgenommen?«, fragte ich, aber auch auf diese Frage blieb Menkhoff mir die Antwort schuldig. Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht und sagte: »Mein Gott, mein Mädchen. Sie … Sie hat mein Mädchen. Und wenn sie nun wirklich damals … wenn Lichner recht hat, und er war damals unschuldig … Aber das kann doch nicht sein.«

»Nun wart doch erst mal ab«, versuchte ich ihn zu beruhigen, obwohl ich mir selbst große Sorgen machte.

»Ich bin ein Scheißvater, weißt du das eigentlich?«, sagte er leise und starrte dabei auf die Tischplatte vor sich. »Ein Arschloch, ein egoistisches Arschloch.«

»Bernd, komm …«

»Weißt du, wie oft ich Luisa nur morgens ganz kurz sehe, weil ich abends meistens noch gar nicht zu Hause bin, wenn sie ins Bett muss? Aber das ist nicht das Schlimmste. Weißt du, was ich tue, wenn ich ausnahmsweise mal früh genug da bin? Ich häng vor der Glotze rum und will meine Ruhe haben, statt meine Tochter ins Bett zu bringen und ihr eine Geschichte zu erzählen.« Sein Blick wanderte zu mir. »Sie liebt mich so sehr, und ich hab sie so oft abgewiesen, Alex, verstehst du? Ich hab sie angeschrien, wenn sie gebettelt hat, ich soll sie doch ins Bett bringen und noch mit ihr schmusen. Ein kleines Mädchen hat ihren Vater gebraucht, aber der war zu bequem, seinen Arsch von der Couch zu schieben, so sieht es aus. Und wenn Teresa mir genau das gesagt hat, dann hatte ich tausend Ausreden parat. Ich hab ihr vorgeworfen, ihr wäre es egal, was für einen Scheißtag ich gehabt habe. Dass sie keine Rücksicht nimmt und einfach nur selbst keine Lust hat, die Kleine zu Bett zu bringen.« Er stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf und vergrub das Gesicht in den Handflächen.

Mir fiel in diesem Moment ein, dass Mel noch nichts davon wusste, dass Luisa entführt worden war. Auch wenn sie die Kleine nicht sehr gut kannte, wusste ich, dass sie ihre fröhliche, aufgeweckte Art sehr mochte. Ich würde sie irgendwann anrufen und es ihr sagen müssen. Ich verschob es auf später und konzentrierte mich auf Menkhoff, der nun gegen seine Handflächen redete, so dass ich kaum noch verstand, was er sagte. »Sie hatte recht, Alex. Mit jedem Wort. Ich bin ein Scheißvater. Wenn Luisa jetzt was passiert … Ich weiß nicht, was ich dann tue.«

Er tat mir unendlich leid, und ich suchte händeringend nach etwas, was ich ihm sagen, was ihn ein wenig trösten konnte, wusste aber gleichzeitig, dass es das nicht gab. Eines war aber klar: Wenn wir in Nicoles Wohnung auf dem Boden sitzen blieben, hatten wir gar keine Chance, Luisa zu finden. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Wir werden sie finden, Bernd. Komm, lass uns gehen, wir haben viel zu tun.«

Erst reagierte er überhaupt nicht, dann nickte er, anfangs kaum wahrnehmbar, doch dann deutlicher, wobei er die Lippen fest zusammenpresste. »Du hast recht«, sagte er dann und stand mit einem Ruck auf. »Wir werden sie finden. Los, komm, ich muss nochmal mit Lichner reden.« Menkhoff öffnete die Rückseiten der Fotorahmen und nahm die Fotos von den Mädchen heraus, legte sie dann zu einem kleinen Stapel aufeinander und tat sie in den plattgedrückten Pappkarton zu den anderen. »Hat sie eigentlich ein Auto?«, wollte er wissen, während wir die Wohnung verließen. »Obwohl … in dem Zustand, in dem sie im Moment ist, kann sie wohl kaum fahren. Hat Lichner irgendwas darüber gesagt?«

»Nein, keine Ahnung, aber wir können ihn ja gleich fragen.«

 

Das konnten wir nicht, denn Lichner öffnete nicht, als wir kurze Zeit später zum dritten Mal an diesem Tag vor dem Haus standen, in dessen erstem Stock sich seine Wohnung befand. »Scheiße«, stieß Menkhoff aus. »Wieso verlässt der das Haus? Er konnte sich doch wohl denken, dass wir nochmal zurückkommen würden.«

»Na ja, vielleicht musste er noch Besorgungen machen. Er kann ja nicht den ganzen Tag im Haus sitzen bleiben, nur –«

»Nur weil meine kleine Tochter wahrscheinlich von seiner durchgedrehten Freundin entführt worden ist, meinst du?«

Von seiner durchgedrehten Freundin … Wer hätte gedacht, dass Menkhoff einmal so über Nicole Klement reden würde.

»Dann glaubst du also, dass sie es war?«, fragte ich vorsichtig, während wir uns von der Haustür abwandten und zurück zum Auto gingen. Er wartete mit der Antwort, bis wir im Wagen saßen. »Nicole ist … im Moment die einzige Spur, die wir haben. Ich kann … Ich will es mir noch immer nicht vorstellen, aber ich hab ja selbst gesehen, wie sehr sie sich verändert hat. Aber ich traue Lichner kein Stück weit. Er war ein Dreckskerl, und er ist noch immer einer.«

»Aber wenn Nicole das jetzt wirklich getan hat, ist es dann nicht möglich, dass sie auch damals Juliane Körprich … Ich meine … Bist du noch immer sicher, dass Lichner das damals war?«

Menkhoff zögerte nur wenige Sekunden, dann sagte er mit fester Stimme: »Absolut sicher.«