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15. Februar 1994

Bernd Menkhoff saß schon hinter seinem Schreibtisch, als ich ins Büro kam, das heißt, eigentlich lag er mehr, als dass er saß. Er hatte die Unterschenkel über die Ecke des Schreibtischs gelegt und hielt einen Becher mit dampfendem Kaffee in der Hand. Ich sah verwundert auf die Uhr. Zehn nach acht, so früh hatte ich ihn in der kurzen Zeit, in der wir nun Partner waren, noch nicht im Büro gesehen.

»Guten Morgen, Herr Kollege, ich hoffe, wenigstens Sie hatten eine erholsame Nacht«, sagte er, und es klang … traurig? … deprimiert?

»Guten Morgen. So früh schon hier? Klingt so, als hätten Sie nicht viel geschlafen.«

Er fuhr sich mit der freien Hand über die Augen. »Nein, fast überhaupt nicht.« Ich hängte meine Jacke an die Garderobe und setzte mich. »Grübeln Sie über diesen Lichner nach?«

Menkhoff betrachtete seine Schuhe, die außerhalb des Schreibtischs in der Luft hingen, und bewegte die Füße vor und zurück. Die dunklen Schatten unter seinen Augen ließen ihn um Jahre älter aussehen, als er war. »Ja, auch. Über ihn, über Nicole Klement … Seltsame Beziehung.«

»Hm … Vielleicht brauchen Frauen wie sie jemanden, der so von sich überzeugt ist und alles regelt. Sie macht auf mich einen sehr zerbrechlichen Eindruck. Fast hilflos.«

Er stellte den Kaffeebecher ab und schwang die Füße von der Schreibtischplatte. »Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, er hat seine Methoden. Sie haben ihn doch erlebt – können Sie sich vorstellen, was dieser Kerl rhetorisch mit ihr macht? Er ist Psychiater, er weiß ganz genau, welche Knöpfe er bei ihr drücken muss.«

Ich fragte mich, worauf er hinauswollte. »Halten Sie es für möglich, dass Dr. Lichner Juliane umgebracht hat?«

Er nickte. »Ich trau es ihm zu.«

»Ich weiß nicht … Nur weil diese alte Frau angeblich was gesehen hat, was ihr erstens verdammt spät eingefallen ist und was zweitens noch unmöglich ist?«

Er wandte sich von mir ab und sah nach draußen, schwieg ein paar Sekunden lang. »Ich hab diesen ganzen Mist so satt.« Es sah aus, als rede er mit der Fensterscheibe. Seine Stimme hatte sich verändert, sie war leise geworden und monoton. »Typen wie dieser Lichner machen mich krank. Diese Kerle, die sich für so schlau halten, dass sie uns lächelnd auf der Nase rumtanzen. Und warum machen sie das? Weil sie es können. Weil unser Rechtssystem die Verbrecher vor der Polizei mehr schützt als die Opfer vor den Verbrechern. Wir laufen uns die Hacken wund, um den Mord an einem kleinen unschuldigen Kind aufzuklären, und so ein elender Scheißkerl macht sich über uns lustig. Warum tun wir uns das an? Um spätabends in die Wohnung zu kommen, die man als sein Zuhause bezeichnet, obwohl sie kein Zuhause ist, weil man so gut wie nie da ist und wo … wo man sich vor den Fernseher hockt, alleine, um sich von dem Mist, der da läuft, so lange berieseln zu lassen, bis einem die Augen zufallen, und dann … dann hofft man, wenigstens nicht nach einer Stunde schon wieder hochzuschrecken, weil man von einem toten Kindergesicht geträumt hat.«

Damals kannte ich meinen Kollegen, dessen Blick aus glasigen Augen irgendwo nach draußen gerichtet war, noch nicht sehr gut, aber … die letzten 24 Stunden hatten Oberkommissar Bernd Menkhoff verändert.