Als ich aus dem Haus kam, blieb ich erst einmal stehen und atmete tief durch. Der Anblick der hellen Strahlen, die sich durch kleine Lücken im sonnengetränkten Laub der Bäume drückten, der Geruch des Sommers, die Menschen, die vorbeigingen, manche geschäftig, manche gemütlich schlendernd – all das strahlte für mich die pure Lebensfreude aus und machte mir in diesem Moment erst bewusst, wie bedrückend ich die Atmosphäre in Nicoles Wohnung empfunden hatte. Diese Kinderfotos …
Der Audi stand zum großen Teil im Schatten eines Baumes, aber die Heckscheibe lag im gleißenden Sonnenlicht, so dass mir eine heiße Woge entgegenschlug, als ich die Tür öffnete. Ich ließ alle vier Seitenscheiben herunter und wartete eine Minute, bis die Innenluft abgezogen war, bevor ich mich hineinsetzte. Mein Magen knurrte, seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen. Ich schloss die Augen und nahm mir vor, mir später irgendwo ein Sandwich zu besorgen.
Ich hatte keine Vorstellung davon, über was Menkhoff dort oben mit Nicole sprechen wollte. Über Dinge aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit, über ihr jetziges Verhältnis zu Joachim Lichner? Oder über Wo hatte sie das Haargummi her? Vielleicht hoffte er auch einfach darauf, dass sie ihre Einsilbigkeit verlieren würde, wenn ich nicht mehr dabei war. Jedenfalls musste ich damit rechnen, dass es einige Zeit dauern würde, bis er herunterkam. Ich setzte mich auf die Beifahrerseite und klappte die Rückenlehne ein Stück zurück.
Bernd und Nicole … Es hatte damals einige Zeit gedauert, bis ich die beiden zum ersten Mal offiziell als Paar zusammen gesehen hatte. Das war im Mai 1995 gewesen, als Bernd, den ich bis zu diesem Tag noch Herr Menkhoff oder Herr Oberkommissar nannte, mich zum Grillen an einem Samstagabend zu sich nach Hause einlud. Ich kann mich noch erinnern, dass er es das Sommerangrillen genannt hatte. Dass der Grund für die Einladung tatsächlich nur wenig mit dem beginnenden Sommer zu tun hatte, wurde mir klar, als ich gegen halb acht dann von Menkhoff in den großen Garten geführt wurde und Nicole Klement ein paar Meter neben der Terrasse in der Nähe des schon rauchenden Grills stehen sah. Sie trug ein luftiges, weißes Sommerkleid, das ihr bis knapp an die Knie reichte und in einem berauschenden Kontrast zu ihren langen, schwarzen Haaren stand. Sie sah so bezaubernd aus, dass ich den Blick nicht mehr von ihr abwenden konnte, bis ich sie erreicht hatte. Als ich dann vor ihr stand, hob sie das Sektglas ein Stück an, das sie in der Hand hielt, und sagte: »Guten Abend, Alexander Seifert, es ist schön, dass Sie kommen konnten.« Es war einer dieser seltenen Augenblicke gewesen, in denen ein leichtes Lächeln ihre Lippen umspielt hatte, und ich muss gestehen, dass ich mich in diesem Moment in diese Frau hätte verlieben können, was immer auch vorher gewesen war, wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie mit meinem Partner zusammen war. Ich musste wohl eine ganze Weile so vor ihr gestanden und sie angestarrt haben. Erst Menkhoffs Hand, die neben mir auftauchte und mir ebenfalls ein Sektglas reichte, lenkte mich von ihr ab. Ich nahm es und bedankte mich bei beiden für die nette Einladung. Andere Gäste waren nicht da, und das sollte auch für den Rest des Abends so bleiben. Ich plauderte mit Menkhoff über dienstliche Nebensächlichkeiten, während er sich um das Fleisch kümmerte, und ab und an steuerte auch Nicole etwas zum Gespräch bei. Irgendwann dann, als Menkhoff gerade wieder einmal die Steaks gewendet hatte, hob er sein Glas an – wir beide waren mittlerweile zu Bier übergegangen – und sagte: »Kollege Seifert, ich denke, es ist an der Zeit, die Formalitäten zwischen uns fallen zu lassen. Ich heiße Bernd.« Ich stimmte überrascht zu, auch, als er vorschlug, dass Nicole und ich ebenfalls zum Du übergingen. Aber schon beim ersten Zuprosten fiel es mir schwer, sie mit ihrem Vornamen anzureden. Das hatte sich auch nie geändert, ich weiß nicht, warum.
Vom Beginn ihrer Beziehung an gab es Tage, an denen Menkhoff im Dienst abwesend wirkte und nachdenklich, manchmal regelrecht niedergeschlagen. Lange Zeit reagierte er auf Nachfragen schroff oder gar nicht. Das erste Mal, dass er sich diesbezüglich mir gegenüber ein wenig öffnete, war Anfang 1997, da waren sie schon zwei Jahre zusammen. Er erschien erst gegen neun im Büro, brummelte ein undeutliches »Morgen« und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Die dunklen Ränder unter den Augen und die aschfahle Haut ließen mich vermuten, dass er entweder überhaupt nicht oder sehr wenig geschlafen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich und rechnete dabei maximal mit einem Ja, was soll nicht in Ordnung sein?
Er stützte die Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und fuhr sich erst mit den gespreizten Fingern beider Hände durch die Haare, um dann das Gesicht sekundenlang in den Handflächen zu vergraben. Als er die Arme anschließend auf den Schreibtisch sinken ließ, sagte er: »Ich … Alex, ich weiß oft nicht, was ich über Nicoles Verhalten denken soll. Sie ist so … anders.«
Ich legte den Stift ab, mit dem ich gerade den ausgedruckten Bericht eines jungen Kollegen korrigiert hatte, und lehnte mich zurück. Wenn Menkhoff so ohne weiteres über ein privates Problem redete, musste er in wirklichen Schwierigkeiten stecken. »Inwiefern?«, fragte ich. Ich kam mir dabei ein wenig vor wie in einem sensiblen Verhör, wo ein falsches Wort oder eine unbedachte Frage ein eventuelles Geständnis im Ansatz ersticken konnte.
Erst sagte er eine Weile nichts, dann drehte er seinen Stuhl in meine Richtung. »Wir sind jetzt seit über zwei Jahren zusammen, aber ich kenne Nicole überhaupt nicht. Sie redet nie über sich. Ob ich sie nach ihrer Kindheit frage, wie sie ihre Jugend verbracht hat oder wo sie Lichner kennengelernt hat – nichts. Sie macht einfach zu. Sie hat ihre Eltern früh verloren und wurde von einer Tante großgezogen, die jetzt irgendwo in Spanien lebt. Aber das weiß ich nicht, weil sie es mir erzählt hat, sondern weil ich nachgeforscht habe. Verdammt nochmal, ich musste polizeiliche Ermittlungen anstellen, um etwas über die Eltern meiner Lebensgefährtin zu erfahren, Alex. Das ist doch nicht normal.«
Dass Nicole Klement alles andere als das war, was man gemeinhin als normal bezeichnet, war mir ziemlich schnell klar gewesen, und ich wunderte mich, dass das für meinen Partner eine Überraschung darstellen sollte.
»Vielleicht hatte sie keine schöne Kindheit und will nicht darüber reden, weil sie sie vergessen möchte?«, vermutete ich vorsichtig.
»Ja, ja, kann ja sein«, sagte Menkhoff. »Ich hab auch versucht, an diese Tante heranzukommen, aber die Spanier konnten nicht auf Anhieb sehen, wo die Frau lebt, und haben offensichtlich keine Lust, sich deswegen zu bemühen.« Er machte eine Pause. »Aber … es gibt da noch was. Wenn du darüber je ein Sterbenswort verlierst, bring ich dich um, klar?« Ich erwiderte nichts. »Sie … also, manche anderen Dinge sind mit ihr auch sehr schwierig. Dinge, die zu einer Partnerschaft aber dazugehören, verstehst du? So rein körperlich …«
»Schwierig? Oder … gar nicht?« Ich hatte das Gefühl, mir die Worte mit einer Pinzette vom Mund abpflücken und ihm mit spitzen Fingern herüberreichen zu müssen.
»Schwierig«, sagte er, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Fast gar nicht.«