Ich verzichtete vorerst darauf, mich mit weiteren Nachbarn zu unterhalten. Das Gespräch mit Frau Leistroffer hatte länger gedauert, als ich gedacht hatte, und ich wollte nach Möglichkeit wieder im Büro sein, wenn Menkhoff von seinem Treffen mit Nicole Klement zurückkam. Er saß aber schon an seinem Schreibtisch, als ich dort um halb zwei eintraf, und ich rechnete damit, dass er mich anblaffen würde, weil ich keine Nachricht hinterlassen hatte, wo ich zu erreichen war. Umso überraschter war ich, als er mich mit einem gleichgültig klingenden »Hallo« begrüßte und sofort wieder auf seinen Monitor starrte. »Hallo«, sagte auch ich. »Ich … ich war bei einer Nachbarin von Marlies Bertels, einer Frau Leistroffer.«
Er nickte, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. »Gleich.«
Irritiert setzte ich mich und sah ihm eine Zeitlang dabei zu, wie er auf den Bildschirm starrte, während seine Finger mit stakkatoartigem Klicken über die Tastatur flogen, zwischendurch immer wieder sekundenlang verharrten und dann weitermachten. Als er seine Augen endlich vom Monitor löste, atmete er geräuschvoll aus, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, als wolle er sich waschen, und wandte sich mir zu. »Also, Herr Seifert, Sie waren wo?«
In mir brannte zwar die Neugier zu erfahren, warum Nicole Klement sich mit Menkhoff hatte treffen wollen, aber ich hatte ja auch etwas Interessantes zu berichten. »Bei einer Nachbarin von Frau Bertels. Ich dachte mir, es kann nichts schaden, etwas mehr über sie zu erfahren. Ihre Aussage ist schließlich nicht unwichtig, und ich habe ehrlich gesagt meine Zweifel, ob das stimmt, was sie gesagt hat. Nach diesem Gespräch noch mehr als vorher.«
»Ich glaube, es stimmt«, brummte Menkhoff. »Und das mehr denn je nach meinem Gespräch. Aber erzählen Sie erst mal, was Sie Neues erfahren haben.«
Ich überflog die Stichworte, die ich mir gemacht hatte, berichtete, was ich in Erfahrung gebracht hatte, und als ich fertig war, sagte Menkhoff: »Tja, das entspricht ziemlich genau dem Bild, das ich mittlerweile von Lichner habe. Der Kerl ist nicht nur arrogant, sondern auch gemein und unberechenbar. Jähzornig ist er, eine tickende Bombe, die beim geringsten Anlass hochgehen kann.«
Ich hatte in den vergangenen Monaten gelernt, dass es meist nicht klug war, Menkhoff zu widersprechen. Nicht nur, weil man dabei immer Gefahr lief, von ihm mit lautstarken Bemerkungen abgefertigt zu werden, sondern weil er häufig tatsächlich recht hatte. Trotzdem sagte ich: »Wenn ich mir überlege, wie die Nachbarin die gute Frau Bertels beschrieben hat … wäre es nicht auch möglich, dass die nun endlich eine Gelegenheit gesehen hat, dem Lichner eins auszuwischen, nachdem sie sich auf dem Fest so in die Haare gekriegt haben?«
»Meinen Sie nicht, das ist ein bisschen sehr weit hergeholt?« »Eigentlich nicht, ich meine, es würde ja immerhin dazu passen, dass ihr erst zwei Wochen nach der Tat eingefallen ist, dass –«
»Nein!« Ich verstummte. »Herr Kollege, nach dem, was Nicole Klement mir erzählt hat …« Er stand auf, ging zu der großen Fensterfront und sah nach draußen, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben. Ohne sich zu mir umzudrehen sagte er: »Er war es. Er hat die Kleine umgebracht, da bin ich sicher.«
Während der Ausbildung hat man uns eingebläut, dass die Aufklärung eines Tötungsdeliktes eine extrem heikle Angelegenheit ist, bei der der ermittelnde Beamte gar nicht gründlich und gewissenhaft genug sein kann. Zu schnell hat man Dinge übersehen oder falsch interpretiert und belastet infolgedessen vielleicht einen Unschuldigen. Selbst, wenn sich dann schnell herausstellt, dass man falschgelegen hat, bleibt immer etwas an dem Verdächtigten hängen. Dass Menkhoff sich bei diesem Fall so schnell eine Meinung bildete und die mir gegenüber quasi als Tatsache aussprach, überraschte mich sehr. Andererseits wagte ich es aber als Neuling nicht, dem routinierten Ermittler zu widersprechen. »Herr Menkhoff, was … was macht Sie so sicher, dass Lichner der Täter ist?«
Er stand noch immer am Fenster, drehte sich nun aber zu mir um. »Ich habe von Nicole Dinge erfahren, die ihn aus meiner Sicht zum Hauptverdächtigen machen.«
Nicole? »Hat er sie missha … –«
»Sie hat noch immer nicht zugegeben, dass er für die Blutergüsse an ihrem Hals verantwortlich ist. Und auch sonst hat sie ihn nicht direkt belastet, aber wenn man zwischen den Zeilen lesen kann, wird schnell klar, wie sehr sie unter dem Scheißkerl leidet. Er hat sie aufgefordert, zu uns zu kommen und sein Alibi für den Freitagabend zu bestätigen, weil sie gestern ausgesagt hat, dass sie sich nicht mehr genau erinnert. Sie hat nicht gewagt, ihm zu widersprechen, er schikaniert sie, er behandelt sie verdammt nochmal, als wäre sie sein persönlicher Besitz. Wenn er … wenn er Lust hat, muss sie ihn über sich ergehen lassen. Sie ekelt sich vor ihm.« Seine Stimme wurde immer lauter, und ich konnte die Wut heraushören. »Ich könnte kotzen, wenn ich nur daran denke. Er zerstört diese Frau, und sie kommt nicht von ihm los, weil sie Angst vor ihm hat. Sie hätten sie eben sehen müssen, als wir uns unterhalten haben. Am ganzen Körper gezittert hat sie.«
»Und Sie meinen –«
»Für mich, Herr Seifert, gibt’s keinen Zweifel: Joachim Lichner hat die kleine Juliane umgebracht. Und ich werde ihn überführen.«
Gut möglich, dachte ich, dass dieser Doktor tatsächlich ein ziemlicher Dreckskerl ist, aber – alles, was Menkhoff aufgezählt hatte, betraf Nicole Klement und hatte nichts mit dem Mord an dem kleinen Mädchen zu tun.
»Niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen.« Ich sagte es, ohne darüber nachzudenken, und kaum hatte ich es ausgesprochen, da bereute ich es auch schon. »Was?« Menkhoff sah mich verblüfft an.
»Das … das haben Sie mir gesagt, als wir … –«
»Ja, ja, ich weiß, wann ich Ihnen das gesagt habe. Aber was zum Teufel soll das jetzt?«
Ich hatte Mühe, seinem Blick standzuhalten. »Ich weiß nicht … Vielleicht täusche ich mich ja, und vielleicht steht es mir nicht zu, das zu sagen, aber … es hört sich manchmal so an, als ob Sie im Moment Gefühle an sich heranlassen.«
Lange Zeit entgegnete er nichts darauf, sah mir nur in die Augen. Ich rechnete mit einem Wutausbruch, aber der kam nicht. Mehr noch, Oberkommissar Bernd Menkhoff sagte überhaupt gar nichts dazu.
Ein Gedanke formulierte sich in meinem Kopf, so verrückt, dass ich es unmöglich wagen konnte, Menkhoff darauf anzusprechen. Er würde mich zu Recht fragen, ob ich den Verstand verloren hatte. Andererseits … mehr als anbrüllen konnte er mich schließlich nicht. Ich nahm allen Mut zusammen. »Herr Menkhoff, darf ich Ihnen eine indiskrete Frage stellen?«
Sein Gesicht veränderte sich auf eine Art, die ich nicht einordnen konnte: »Fragen Sie.«