Marlies Bertels wackelte mit dem Kopf wie ein Hutablagendackel und setzte sich Menkhoff gegenüber an den Tisch. »Also es war ja eigentlich ein Zufall, Herr Kommissar, dass ich das überhaupt gesehen habe. Sie müssen nicht denken, ich wäre eine dieser neugierigen älteren Frauen, die den ganzen Tag am Fenster sitzen. Dafür hab ich keine Zeit. Ich habe einfach so mal rausgeschaut, aus dem Küchenfenster, und da sehe ich doch, wie der Doktor der Kleinen was zusteckt. Da vorn war das.« Sie deutete in die Richtung, in der vor dem Haus der Spielplatz liegen musste.
»Der Doktor?«, fragten Menkhoff und ich fast gleichzeitig.
»Ja, er wohnt da, ein paar Häuser weiter.« Auch diese Richtung gab sie mit ihrem knotigen Zeigefinger an.
»Was ist das für ein Doktor?«, wollte Menkhoff wissen. »Ein Arzt?«
Sie sah ihn verständnislos an. »Ja, was denn sonst für ein Doktor?« Mit verschwörerischer Miene beugte sie sich ein Stück weit nach vorne und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Für solche Leute, die ein bisschen … seltsam sind. Wenn Sie verstehen, was ich meine?«
Menkhoff sah mich kurz an und nickte ihr dann zu: »Ja, ich denke, ich verstehe, Frau Bertels.«
Ich zog den kleinen Notizblock aus der Innentasche meiner Jacke und klappte ihn auf. Dabei wurde mir bewusst, wie überhitzt der Raum war. Ich streifte die Jacke ab und legte sie über die Lehne des freien Stuhls neben mir. Als ich mich dabei ein Stück aufrichtete, fiel Marlies Bertels’ Blick auf meine Waffe im Holster rechts am Gürtel.
»Wissen Sie denn auch seinen Namen, Frau Bertels?«, fragte ich.
Sie starrte noch immer auf meine rechte Seite, obwohl ich wieder saß und die P6 vom Tisch verdeckt wurde. »Haben Sie damit schon jemanden totgeschossen?« Ihre Stimme schien noch eine Spur dünner geworden zu sein.
»Nein«, versicherte ich ihr. »Ich musste noch nie auf einen Menschen schießen. Kennen Sie den Namen des Doktors, Frau Bertels?«
Nun endlich sah sie mich wieder an. »Ja, Lichner heißt der. Er wohnt zusammen mit einer Frau.« Und in vorwurfsvollem Ton fügte sie hinzu: »Sie sind nicht verheiratet.«
›Dr. Lichner, Psychiater‹ fand seinen Platz oben rechts auf dem frischen Blatt. »Wissen Sie auch die Hausnummer?«
»Die Hausnummer? Nein … Es ist das gelbe Haus, ein Stück weiter, am Anfang der Straße. Es gibt nur ein gelbes Haus auf dieser Seite, wissen Sie. Sie müssen mal die Fenster sehen. Man kann fast nicht mehr hindurchsehen, so schmutzig sind die. Vom Saubermachen hält –«
»Sie sagten bei Ihrem Anruf, dass Sie öfter beobachtet haben, wie der Mann der kleinen Juliane Süßigkeiten gegeben hat«, unterbrach Menkhoff die alte Dame, und sie schrak bei seiner lauten Stimme zusammen. Ich auch. »Wie oft hat er das getan? Und wann genau war das?«
Marlies Bertels strich mit den Fingern über die pergamentartige, mit braunen Flecken übersäte Haut des Handrückens ihrer anderen Hand. »Ach, ich schaue eigentlich ja gar nicht so oft –«
»Ja, ich weiß, Frau Bertels. Niemand von uns glaubt, dass Sie oft aus dem Fenster sehen. Also?«
Sie nahm die Hände vom Tisch und zog den Kopf ein Stück ein. Ich fragte mich, ob er nicht merkte, dass er so bei der Frau nicht weiterkommen würde. Er beantwortete diese Frage im selben Moment, als er mit leiserer und deutlich freundlicherer Stimme weitersprach. »Es ist völlig normal, dass man ab und zu aus dem Fenster sehen muss, wenn man so viel Arbeit in der Küche hat wie Sie. Und dass man dabei dann zwangsläufig die Dinge sieht, die sich draußen abspielen, ist auch klar.«
Ihr Gesicht zeigte ein Lächeln. »Ja, da haben Sie recht, Herr Kommissar. Genau so war es auch.«
»Also, nochmal: Wie oft haben Sie – zufällig – gesehen, dass dieser Doktor dem Mädchen Süßigkeiten geschenkt hat?«
Sie richtete den Blick gegen die Decke und schien angestrengt nachzudenken. »Zweimal, glaube ich. Nein, dreimal, ich bin ganz sicher. Dreimal habe ich ihn am Spielplatz gesehen.«
»Und wann?«
»Aber das weiß ich doch jetzt nicht mehr.«
»Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal dabei beobachtet? Ungefähr?«
»Das ist ein paar Wochen her, also … ungefähr.«
Menkhoff atmete hörbar durch. »Frau Bertels, kurz nachdem Juliane gefunden worden ist, waren Kollegen von mir bei Ihnen und haben gefragt, ob Sie etwas beobachtet haben, was uns weiterhilft. Warum haben Sie denen nichts von diesem Doktor auf dem Spielplatz erzählt?«
Sie hob langsam die knochigen Schultern und schob dabei die Unterlippe vor. »Ich hatte es wohl vergessen.«
Menkhoff nickte mehrmals. »Vergessen also, na gut. Kann es sein, dass dieser Dr. Lichner die Familie der kleinen Juliane kennt? War er öfter dort zu Besuch? Oder waren die Eltern des Mädchens mal bei ihm?«
»Nein, das hätte ich gesehen.«
»Ja, das hätten Sie bestimmt gesehen.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu und wandte sich wieder an die Frau, während ich weiter Notizen machte. »Und wie sieht es mit der Juliane aus? War die vielleicht mal in dem gelben Haus?«
Sie schüttelte den Kopf: »Nein, auch nicht.«
»Kennen Sie den Doktor denn näher?«, wollte ich von ihr wissen. »Was ist er für ein Mensch? Ist er freundlich?«
»Nein, ich kenne ihn nicht näher. Die Leute hier in der Straße sind nicht sehr freundlich, die wollen mit einer alten Frau wie mir nichts zu tun haben. Die meisten grüßen mich noch nicht mal.«
Ich schaltete mich wieder ein: »Wie ist es mit dem Mädchen? Haben Sie Juliane gekannt?«
»Ja, natürlich. Nettes Mädchen. Sie war immer adrett angezogen, und sie hatte auch die Haare immer so hübsch, wie ein Engel. Wie kann man einem armen Kind nur so was Furchtbares antun? Es ist eine Schande.« In ihrem dünnen Stimmchen schwang Entrüstung. »Ich bin sicher, dieser Doktor hat was damit zu tun. Und es würde mich nicht wundern, wenn seine Freundin auch –«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau Bertels.« Mein Partner erhob sich. »Wir werden uns mal mit diesem Dr. Lichner unterhalten. Es kann sein, dass wir Sie nochmal bemühen müssen, wenn wir weitere Fragen haben.«
»Oh, Sie können mich gerne wieder besuchen, Herr Kommissar. Wenn Sie vorher anrufen, backe ich einen leckeren Kuchen für Sie beide. Vielleicht haben Sie dann ja ein bisschen länger Zeit.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte ich und verließ hinter Menkhoff die gute Stube.
»Was halten Sie von ihr?«, fragte er, als wir vor dem Haus standen.
»Sie ist einsam.«