Dr. Lichner wirkte erstaunlich gelassen, als ich von einem Kollegen die enge Arrestzelle im ersten Untergeschoss aufschließen ließ. Auf dem Weg nach unten hatten Menkhoff und ich abgemacht, dass ich erst einmal alleine versuchen sollte, mit Lichner zu reden.
»Guten Morgen, Dr. Lichner«, sagte ich. »Haben Sie gut geschlafen?«
Er saß auf der Pritsche und rieb sich mit der Handfläche über die Wange. »Ja, aber der Frühstücksservice und das Gästebad lassen zu wünschen übrig. Was wollen Sie, Herr Hauptkommissar?«
»Ich mö –«
»Hat Ihr Kollege Sie vorgeschickt? Denkt er, ich rede eher mit Ihnen, weil er es damals war, der mir diese Sache untergeschoben hat? Vergessen Sie’s, Herr Seifert. Sie haben diese Sauerei damals mitgetragen, also sind Sie genauso korrupt wie er. Außerdem möchte ich endlich meinen Anwalt erreichen. Geben Sie mir Ihr Handy, ich möchte wetten, das Telefon hier ist präpariert. Wundern würde mich das jedenfalls nicht.«
Meine Stirn prickelte wie verrückt, und ich konnte in diesem Moment Menkhoffs Zorn gut verstehen. Ich war versucht, die aufschäumende Wut rauszulassen und ihm zu sagen, was ich von ihm hielt, aber den Gefallen wollte ich ihm nicht tun. »Das Telefon hier ist in Ordnung. Keine Ahnung, was mit Ihrem Anwalt ist«, sagte ich so gelassen wie möglich. »Der wird sowieso nicht viel tun, wenn er gesehen hat, was wir gegen Sie in der Hand haben.«
»Was? Was wollen Sie schon gegen mich haben?« Er tat amüsiert, aber in seiner Stimme schwang Unsicherheit mit.
»Legen Sie sich noch etwas hin, heute Nachmittag werden Sie zur U-Haft in die JVA verlegt.«
»Das glauben Sie ja selbst nicht, Seifert. Sie haben niemals …« Mehr verstand ich nicht, ich hatte die Zellentür geschlossen. Menkhoff, der zwei Meter weiter gewartet hatte, grinste mich an. »Gut so. Nun geht ihm der Arsch auf Grundeis.«
Ich wiegte den Kopf hin und her. »Da bin ich nicht so sicher. Wie es im Moment aussieht, wird er uns in wenigen Stunden auslachen.«
Er wandte sich ab. »Lass uns nachsehen, was wir in seiner Behausung finden. Damals hat er auch gedacht, er wäre sicher, und wir haben trotzdem die nötigen Beweise bei ihm zu Hause gefunden.«
Als wir das Präsidium verließen und auf den Audi zugingen, nahm ich mir vor, meinen Partner genau zu beobachten, während wir in Lichners Wohnung waren. Ich konnte mich gegen diese leisen Zweifel an Bernd Menkhoffs Methoden nicht wehren, sie kamen immer wieder, wie eine leichte Brandung, deren Wellen nicht in der Lage waren, mit einem Schlag Schaden anzurichten, die aber im Laufe der Jahre einen Fels aushöhlen konnten.
»Hast du schon was von Teresa gehört?« Ich war gerade in die Krefelder Straße abgebogen und sah kurz zu Menkhoff herüber. »Wie läuft es in New York?«
»Sie ruft jeden Abend an, bevor Luisa ins Bett muss. Das passt durch die Zeitverschiebung ganz gut, weil in New York dann gerade Mittagszeit ist. Gestern hab ich sie verpasst, aber Frau Christ meinte, es ist alles in Ordnung.«
»Wann kommt sie zurück?«
»In drei Tagen, Sonntag.«
»Wirst du ihr von Lichner erzählen?«
Er antwortete nicht gleich. »Nein. Nicht am Telefon, meine ich. Warum sollte ich?«
Ich hakte nicht weiter nach. Die Ehe zwischen Bernd und Teresa Menkhoff war schwer einzuordnen, auch wenn man sich wie ich hier und da privat mit ihnen traf. Sie liebten ihre Tochter beide sehr, und manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie das eigentliche und vielleicht sogar das einzige Bindeglied zwischen den beiden war. Sie waren nett zueinander, es gab keine Streitereien, zumindest nicht im Beisein Dritter, aber ich hatte in all den Jahren auch kein einziges Mal gesehen, dass sie Zärtlichkeiten austauschten, nicht einmal ein simples Händchenhalten gab es. Ihre Ehe erschien mir als gut funktionierende Zweckgemeinschaft, aber ich glaubte nicht, dass das von Teresa so gewollt war.
In der Zeppelinstraße angekommen, ließ ich Menkhoff den Vortritt und betrachtete seinen Rücken, während er vor mir die durchgetretenen Steinstufen nach oben ging. Wenn es in Lichners Wohnung etwas gab, was unseren Verdächtigen belastete, dann würde dieses Mal hoffentlich ich das Beweisstück finden.
Menkhoff schloss gerade die Tür auf, als Lichners rothaarige Nachbarin aus ihrer Wohnung kam. Soweit ich das beurteilen konnte, trug sie die gleichen Sachen wie am Vortag. Sie blieb abrupt stehen und sah mich an, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ging es ihr nicht sehr gut. »Guten Tag, Frau Ullrich«, sagte ich. »Gut, dass ich Sie treffe, wir hätten nachher sowieso noch bei Ihnen geklingelt. Ist Ihnen noch etwas zu Dr. Lichner und seiner Tochter eingefallen? Vielleicht, wann genau Sie das Kind zum letzten Mal gesehen haben?«
Bevor sie antworten konnte, schob eine Hand mich ein Stück zur Seite, und Menkhoff stand neben mir. Er musterte die Frau von oben bis unten, sagte aber nichts.
»Ich … ich muss weg. Hab keine Zeit jetzt.«
Menkhoff verschränkte die Arme vor der Brust, was die Frau dazu bewog, einen Schritt zurückzugehen. Man sah ihr an, dass sie Angst vor meinem Partner hatte.
»Na ja, also … wenn’s nich zu lang dauert … Aber ich weiß nich mehr als gestern auch nich, also …«
»Dann strengen Sie Ihren Kopf gefälligst mal an«, polterte Menkhoff los, woraufhin sie zusammenzuckte. »Ich möchte von Ihnen jetzt genau wissen, wann Sie dieses Kind zum ersten Mal gesehen haben, wie oft seitdem und wann das letzte Mal. Und wenn Ihre Antwort mir nicht gefällt oder ich das Gefühl habe, dass Sie mich anlügen, nehme ich Sie mit aufs Präsidium und verhöre Sie dort höchstpersönlich so lange, bis ich alles weiß, was ich wissen möchte, haben Sie das verstanden?«
Ihre Augen wurden erst groß, dann ging ihr Mund auf und wieder zu, und schließlich verzogen sich ihre Mundwinkel nach unten, und sie begann zu schluchzen. »Ich … ich wollte das doch nicht, wirklich. Aber die hat mir 300 Euro gegeben, und das is ’ne Menge Kohle für mich, und das nur für dass ich das sage.«
Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht, ihre Schultern zuckten heftig. Menkhoff und ich gingen gleichzeitig auf sie zu.
»Was sagen Sie da?«, fragte ich. »Frau Ullrich, hören Sie …« Langsam ließ sie die Hände sinken. Ihre Wangen waren feucht, und sie schluchzte noch immer. Sie sah von mir zu Menkhoff. »Werd ich jetzt verhaftet?«
»Wenn Sie uns nicht augenblicklich die Wahrheit sagen, und zwar mit allem Drum und Dran, ja«, sagte Menkhoff laut. »Also …«
Sie zog ihre Plastikhandtasche von der Schulter und kramte darin herum, bis sie ein Papiertaschentuch gefunden hatte, in das sie geräuschvoll die Nase schnäuzte.
»Diese Frau, die hat bei mir geklingelt und mir 300 Euro unter die Nase gehalten. Ich soll nur sagen, dass der Lichner da mit ’nem Mädchen gewohnt hat, das so drei ist, wenn einer mich fragt. Und dass ich das schon ’n paar Tage nich mehr gesehen hab. So. Und die 300 Euro hab ich nich mehr, hab mir was zu essen und paar Klamotten dafür gekauft.«
»Eine Frau?«, fragte ich, und zur gleichen Zeit sagte auch Menkhoff etwas, was dazu führen musste, dass sie kein Wort verstand. Ich deutete meinem Partner gegenüber an, er solle reden. »Nochmal«, setzte Menkhoff an. »Welche Frau hat bei Ihnen geklingelt, wie hat sie ausgesehen, und wofür genau hat sie Ihnen Geld gegeben?«
Beate Ullrich zuckte mit den Schultern. »Weiß nich genau, wie die ausgesehen hat. Die hat einen großen Hut aufgehabt, blonde Haare hatte die, bis auf die Schultern. Aber ich glaub, das war ’ne Perücke.«
»Und diese Frau hat Ihnen 300 Euro gegeben, wenn Sie uns erzählen, dass Dr. Lichner hier mit einem Kind wohnt?« Sie nickte.
»Aber Dr. Lichner wohnt doch hier mit einem Kind, oder etwa nicht?«
Sie sah auf ihre Schuhe und reagierte nicht. Ich hörte, wie neben mir Menkhoffs Atem schneller ging. »Hat er nun ein Kind oder nicht?«, schrie er sie an.
Es dauerte noch einen Moment, dann ließ sie die Schultern sacken und schüttelte den Kopf. »Glaub nich, hab noch keins gesehen.«
»Ja, verdammt nochmal, sind Sie denn völlig verrückt? Wissen Sie, dass Sie dafür ins Gefängnis kommen können?«
Sie sagte etwas gegen den Flurboden, was ich nicht verstand.
»Was?«, schnauzte Menkhoff sie an.
»Ich … Jetzt hab ich doch die Wahrheit gesagt. Tut mir leid, echt«, antwortete sie, nun gerade so laut, dass wir sie verstehen konnten.
»Es tut ihr leid.« Menkhoff wandte sich kopfschüttelnd ab und starrte einige Sekunden lang auf die Tür zu Lichners Wohnung. Dann sah er auf seine Armbanduhr und wandte sich wieder an die Nachbarin. »Sie kommen um halb zwölf zum Präsidium. Dort werde ich Ihre Aussage zu Protokoll nehmen, anschließend werden Sie mit einem Kollegen so lange zusammensitzen, bis wir ein Phantombild haben, auf dem exakt die Frau zu sehen ist, die Ihnen das Geld gegeben hat. Ich stecke Sie wirklich in den Knast, wenn Sie nicht pünktlich erscheinen oder keine vernünftige Beschreibung abgeben. Haben Sie mich verstanden, Frau Ullrich?«
»Wie soll ich denn da hinkommen?«
»Das ist mir egal. Sie werden pünktlich da sein, verstanden?« Sie nickte stumm, und dabei liefen ihr Tränen über die Wangen. »Verschwinden Sie jetzt, bevor ich mich vergesse.« Er wandte sich ab, und ich folgte ihm. Meine Gefühle schwankten zwischen der Erleichterung darüber, dass es wohl tatsächlich keine Entführung gegeben hatte, und Verwirrung. »Wenn Lichner hier also doch die ganze Zeit über alleine gewohnt hat, es aber im Melderegister einen Eintrag über seine Tochter gibt – woher wusste dann diese Frau mit dem Hut von dem Kind? Was bezweckt sie mit dieser Aktion, und wer kann diese Frau gewesen sein?«
»Vielleicht die Mutter?«
»Und warum sollte sie das tun? Streit ums Sorgerecht oder so was?«
Wir standen in dem engen Flur von Dr. Lichners Wohnung, die Tür hatte ich hinter mir geschlossen.
»Langsam, Alex, noch wissen wir nicht, was tatsächlich die Wahrheit ist. Wer sagt denn, dass nicht jetzt erst jemand zu dieser Ullrich gekommen ist und ihr Geld gegeben hat? Dafür, dass sie uns diesen Unsinn erzählt von der Frau mit Hut und Perücke?«
»Hm … Aber wer soll das gewesen sein?«
»Jemand, der Lichner helfen möchte zum Beispiel? Was weiß ich, ein Freund von früher, eine neue Freundin? Lass uns erst mal diese Bude durchsuchen. Nachher auf dem Präsidium werden wir dann der Dame von nebenan mal auf den Zahn fühlen. Noch wissen wir nichts mit Sicherheit.« Womit er leider verdammt recht hatte.
Die Wohnung sah noch genau so aus wie bei unserem Besuch am Vortag. Was immer auch die Kollegen von der Spurensicherung getan hatten, es war nichts mehr davon zu sehen. Das lag natürlich größtenteils daran, dass sie zwar Proben von allen möglichen Stellen genommen, die Wohnung aber nicht systematisch durchsucht hatten. Das würden wir nun tun, und dabei mussten wir vorsichtig sein, denn einen Durchsuchungsbeschluss hatten wir noch immer nicht. Im Grunde war alles, was wir in diesem Moment taten, am Rande der Legalität. Lichner hätte gleich am Morgen einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen. Und was wir gerade von der Nachbarin erfahren hatten, veränderte die Fakten aus Sicht eines Richters nicht unbedingt zu unseren Gunsten, im Gegenteil, wir hätten spätestens zu diesem Zeitpunkt erst einmal abbrechen müssen. Hätten …
Menkhoff ging mit einer derart grimmigen Entschlossenheit zur Sache, dass ich zu der Überzeugung kam, dass das, was er gerade erfahren hatte, ihn noch mehr motiviert hatte, statt ihn zu beruhigen. Er ging zwar behutsam vor, ließ aber kein kleinstes Eckchen aus, wobei er auch Dinge anfassen und hochheben musste, von denen er an diesem Morgen noch behauptet hatte, die bloße Berührung mit ihnen würde schon Gelbsucht bei ihm verursachen. Während ich vorsichtig hinter und unter den vergammelten Möbelstücken im so genannten Wohnzimmer nachsah, beschäftigte er sich mit dem baufällig aussehenden Regal an der Wand. Jedes einzelne Teil hüllte sich in eine Wolke aus Staub, sobald Menkhoff es bewegte. Wie ein Tintenfisch, der einen Angreifer abschrecken wollte. Das war anschließend nicht mehr zu vertuschen, aber wir würden es im Zweifelsfall den Kollegen Spurensicherern in die Schuhe schieben.
Die meisten der Dinge, die wir fanden, waren ziemlich ekelhaft, und je länger unsere Suche andauerte, umso unbegreiflicher wurde mir, dass ein menschliches Wesen so hausen konnte. Die Küche war ein winziger Raum mit einer vergammelten Spüle, einem verbeulten Kühlschrank und einem niedrigen, weißen Schrank aus Pressspanplatten, auf dem eine elektrische Zweier-Kochplatte stand. Die oberen Außenkanten des Schranks waren aufgequollen, der gelbliche Umleimer hatte sich größtenteils abgehoben und stand zentimeterweit ab. Ich zog die beiden Schranktüren auf. Es ging schwer, und sie machten dabei ein schleifendes Geräusch. Bis auf zwei Töpfe, in denen wahrscheinlich vor vielen Jahren zum letzten Mal etwas Essbares zubereitet worden war, und eine verblasste Pappverpackung mit nicht mehr zu deutendem, krümeligem Inhalt war der Schrank leer.
Ganz schlimm wurde es im Badezimmer. Als ich den Toilettendeckel anhob und einen Blick riskierte, war dieses Thema für mich augenblicklich abgeschlossen. Auf Menkhoffs verständnislosen Blick hin, den er mir vom Wohnzimmer aus zuwarf, als ich nach Sekunden den kleinen Raum schon wieder verließ, sagte ich: »Wenn du das da durchsucht haben möchtest, bitte, tu dir keinen Zwang an. Mich kriegen da keine zehn Pferde mehr rein.«
Als Nächstes nahm ich mir das neu gestrichene Zimmer vor. In dem Raum war sehr exakt gearbeitet worden: Die Stelle, an der das Pastellgelb der sauber mit Raufaser tapezierten Wände an das Weiß der Decke stieß, bildete eine kerzengerade Linie. An keiner Stelle war die jeweils andere Farbe übermalt worden. Die Fußleisten schienen neu zu sein, die Winkel in den Ecken waren sauber geschnitten, alles passte zusammen. Etwa in der Mitte der Wand, die der Tür gegenüberlag, war eine vielleicht 30 Zentimeter hohe, schmale Klappe eingelassen, vermutlich ein Putzschacht für den Kamin. Auch diese Klappe sowie die Ränder waren sauber und an keiner Stelle überstrichen. Der Raum sah so aus, als wäre alles darin komplett erneuert worden. Was auch immer sich vorher in dem Zimmer befunden hatte – es war nichts mehr davon übrig. Als hätte jemand bewusst alle auch noch so kleinen Spuren beseitigen wollen.
»Alex, komm mal her!«
Ich hatte im Laufe der Jahre gelernt, alle möglichen Facetten von Menkhoffs Stimme zu deuten. Es gab die wütende und die zynische, die sachliche und manchmal sogar die humorvolle. Die Tonlage, in der er in diesem Moment nach mir rief, bedeutete Triumph. Das wiederum konnte eigentlich nur eines heißen: Mein Kollege hatte etwas gefunden.