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24. April 2010

Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand betrat Nina ihren kleinen Balkon und blinzelte gegen die Morgensonne, die sich schon ein gutes Stück über den First des gegenüberliegenden Hauses geschoben hatte.

Nach den langen Wintermonaten genoss sie das Gefühl der ersten zaghaften Wärme auf ihrer Haut so sehr, dass sie einen Seufzer ausstieß. Welch ein perfekter Start für diesen Tag.

In einer dreiviertel Stunde würde Kerstin sie zu einer Shoppingtour in der Europa-Passage abholen. Am späten Nachmittag dann würde sie zu Dirk fahren und ihm bei den Vorbereitungen zu seiner Geburtstagsfeier helfen. 25 war er drei Tage zuvor geworden, fast genau zwei Jahre älter als sie selbst.

Nina nippte an dem Kaffee und überlegte, ob sie Dirk am Samstag schon um viertel vor neun anrufen und ihm einen guten Morgen wünschen konnte. An den Tagen, an denen er nicht zur Uni musste, konnte er ohne Probleme bis mittags im Bett liegen bleiben. Manchmal, wenn sie zusammen übernachteten, zog er sie auf die Matratze zurück, wenn sie aufstehen wollte. Sie schmunzelte. Ein paar Vorlesungen hatte sie schon verpasst.

Nina beschloss, dass der Tag viel zu schön war, um ihn halb zu verschlafen, und ging hinein. Der Telefonhörer lag auf dem weißen Couchtisch. Sie wählte Dirks Nummer und legte sich mit schräg angezogenen Beinen auf die Zweiercouch, wo sie geduldig dem monotonen Tuten zuhörte. Dabei stellte sie sich vor, wie Dirk sich das Kissen auf die Ohren presste, um weiterschlafen zu können. Umso überraschter war sie, als er sich mit einem sehr ausgeschlafen klingenden »Dirk Schäfer, hallo«, meldete.

»Guten Morgen«, sagte sie lächelnd, »du klingst sehr fit für diese Uhrzeit. Ich sollte dich wohl öfter abends alleine einschlafen lassen.«

»Auf keinen Fall. Ich bin nur so früh aufgestanden, weil ich eh die ganze Nacht nicht schlafen konnte.«

»Wegen der Party heute?«

»Wegen Einsamkeit, o du innig geliebtes Wesen.«

Sie grinste. »Komm, du bist doch ganz froh, wenn du ab und zu im Bett fernsehen und Chips futtern kannst, gib’s zu.«

»Niemals. Aber sag mal, wolltest du nicht heute mit Kerstin Hamburgs Schuhgeschäfte leer kaufen?«

»Doch, sie holt mi…« Die Türklingel unterbrach sie. Es gab nur einen, der um diese Uhrzeit bei ihr klingelte. »Wart mal kurz … bestimmt der Briefträger.« Nina schwang die Beine von der Couch und ging zur Tür, doch statt des fast immer freundlich lächelnden Dietmar Fuchs stand ein junger Mann in braunem Hemd und brauner Cargo-Hose vor ihr und hielt ihr mit teilnahmsloser Miene ein Päckchen entgegen. Auf seiner Hemdtasche war das Logo von UPS aufgenäht. Dass Nina barfüßig in ihrem blauweiß gestreiften Nachthemd vor ihm stand, schien ihn nicht sonderlich zu überraschen.

»Morgen. Eine Sendung für Sie«, sagte er, ohne dass sich sein Gesichtsausdruck dabei veränderte. Nina legte das Telefon neben sich auf dem Boden ab und nahm ihm das Päckchen aus der Hand. Es hatte etwa die Ausmaße der Amazon-Päckchen, in denen die Bücher ankamen, die sie sich öfter bestellte, und war dick mit braunem Paketband umwickelt. Der Absender auf einem Aufkleber in der linken oberen Ecke war allerdings ein privater:

Peter Dorscher

Selburgring 17

22111 Hamburg

Weder der Name noch die Adresse sagten ihr etwas. Sie klemmte sich das Päckchen zwischen die Knie, nahm den Plastikstift, der seitlich an dem Gerät baumelte, das der UPS-Mann ihr nun entgegenhielt, und krakelte ihre Unterschrift auf das Display, so gut es ging.

Auf dem Weg zum Wohnzimmer hatte sie den Hörer wieder am Ohr. »So, da bin ich wieder.« Sie legte das Päckchen auf dem Couchtisch ab und ging zur Balkontür. »War der Paketdienst, ist wahrscheinlich ein Buch, das ich online erstei–.«

»Du sollst deine Zeit nicht mit Lesen vertrödeln, sondern mit mir verbringen«, fiel Dirk ihr mit nörgelnder Stimme ins Wort.

»Alles zu seiner Zeit, Süßer, du kommst bestimmt nicht zu kurz. Jetzt mache ich mich jedenfalls mal fertig, sonst stehe ich immer noch im Nachthemd hier, wenn Kerstin gleich klingelt.«

»Soll das etwa heißen, du hast dem Kerl gerade im Nachthemd die Tür geöffnet? Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl, Weib?«

»Du Spinner«, antwortete sie lachend. »Ich leg jetzt auf. Tschüss, bis nachher.«

»Na gut, bis später, aber dass mir das nicht nochmal vorkommt, sonst muss ich darauf bestehen, dass du bei mir einziehst, damit ich jeden deiner Schritte kontrollieren kann.« Nina schüttelte den Kopf und beendete das Gespräch.

Es war ein Scherz, aber Dirk hatte sie wenige Wochen zuvor schon einmal gefragt, ob sie sich vorstellen könne, zu ihm zu ziehen. Platz genug war vorhanden, sein Vater hatte ihm zum Studienbeginn die geräumige und bestimmt sündhaft teure Maisonette-Wohnung im Abendrothsweg in Hoheluft-Ost gekauft, unweit des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, wo Dirk Medizin studierte. Schäfer senior war Inhaber einer Firma mit über 100 Angestellten, die Kunststoffteile für die Automobilindustrie herstellte, und das Thema Geld schien in Dirks Familie eine eher untergeordnete Rolle zu spielen.

Sie liebte ihn, und im Grunde wünschte sie sich nichts mehr, als mit ihm in einer Wohnung zu leben, aber sie waren erst ein halbes Jahr zusammen, und es war ihr einfach noch zu früh, ihre eigene Wohnung und damit auch ihre Rückzugsmöglichkeit für alle Fälle aufzugeben. Vielleicht, dachte sie, wenn er in ein paar Monaten nochmal fragt …

Ninas Blick fiel auf das Päckchen neben der Kaffeetasse auf dem Tisch. Sie nahm beides und ging damit in die Küche, wo sie die Tasse auf der Spüle abstellte und dann ein Messer aus der Schublade nahm, mit dem sie das in mehreren Lagen aufgeklebte Paketband durchschnitt. Als sie das obere Teil dann aufklappte, kam etwas zum Vorschein, das in braunes Packpapier eingewickelt war. Es hätte ein großformatiges Buch sein können, doch als sie es in die Hand nahm, merkte sie, dass es dafür zu leicht war.

Hastig wickelte sie das Papier ab. Eine Art Leinwand kam zum Vorschein, auf einen Keilrahmen gespannt, wie sie ihn von ungerahmten Gemälden kannte, doch statt eines gemalten Motivs waren einige wenige Worte auf das seltsame Material geschrieben. In handgeschriebenen Druckbuchstaben stand dort:

DER LESER

Kriminalroman

 

Von Anonymus

Nina verstand nicht, was das bedeuten sollte. Sie ließ den Blick über das eigenartige Material wandern, das eine ungewöhnlich blasse Farbe und eine unregelmäßige Struktur hatte. Eine Tierhaut? Vielleicht von einem Schwein? Etwas Wertvolles, womöglich Altägyptisches? Nein, oder? Am oberen rechten Rand war ein dunkler, zur Mitte hin etwas erhabener, ovaler Punkt von vielleicht einem Zentimeter im Durchmesser. Sie hielt den Rahmen etwas schräg und hob ihn ein Stück höher, um sich diesen Punkt genauer zu betrachten. Dabei bemerkte sie, dass von der Rückseite einige Fetzen herabhingen. Als sie den Keilrahmen umdrehte, als sie neben den Klammern, mit denen die Schreibfläche auf den Rahmen getackert worden war, die ausgefransten Ränder mit dunkelroten, kleinen Klümpchen sah, begann ihr zu dämmern, worum es sich handelte. Schemenhaft noch, und mit der Gewissheit, dass sie sich irrte, sich irren musste. Und doch schon klar genug, um wie das noch entfernte, dumpfe Grollen eines schweren Gewitters eine Woge des Entsetzens in ihr zu erzeugen.

Mit spitzen Fingern drehte Nina den Rahmen wieder um, und als sie sich den dunklen Punkt nun genauer betrachtete, wurde aus der Ahnung im Bruchteil einer Sekunde Gewissheit. Mit einem spitzen Schrei ließ sie das Ding fallen und schlug sich die zitternden Hände vor den Mund.

Dieser dunkle Punkt konnte ein etwas in die Länge gezogener Pigmentfleck sein. Bei dem Material, das jemand als Titelseite eines Romans benutzt hatte, und an dessen Rändern noch kleine Fleischstückchen hingen, handelte es sich tatsächlich um Haut. Und sie stammte nicht von einem Tier.

… das neue Buch von Arno Strobel – demnächst überall, wo’s spannende Bücher gibt!