Im Aachener Klinikum war ich schon häufig gewesen, meist aus dienstlichen Gründen, um das Opfer einer Körperverletzung zu befragen, oder – Gott sei Dank nur in ganz seltenen Fällen – wegen eines Mordopfers. Jedes Mal, wenn der futuristisch anmutende, riesige Gebäudekomplex vor mir auftauchte, fragte ich mich aufs Neue, was im Kopf eines Architekten vor sich gegangen sein mochte, der ein solches Gewirr aus unterschiedlich dicken, freiliegenden Versorgungsrohren, Gittern und Geländern entwarf. Das Wissen darum, dass es sich dabei um einen eigenen Baustil handelte, der mit dem Begriff technische Moderne beschrieben wurde, machte es auch nicht besser.
Wir hatten Glück, ich fand einen Parkplatz in der Nähe des Haupteingangs. Wir erkundigten uns am Informationsschalter und liefen durch Flure, deren Wände und Böden in knalligen Grün-, Silber- und Gelbtönen gehalten waren und an deren Decken die Heizungs- und Lüftungsrohre unverkleidet entlangliefen, was wohl eine Verbindung zu der Außengestaltung herstellen sollte. Mit einem Aufzug, der die dick auf die Türen gemalte Aufschrift B3 trug, fuhren wir in die fünfte Etage, wo wir schließlich in einem mit Flur 6 gekennzeichneten Bereich das Stationszimmer der Frauenklinik für Gynäkologie und Geburtshilfe fanden. Eine Reise durch eine kleine, hochtechnisierte Stadt.
Die Stationsschwester war eine unauffällige Mittdreißigerin. Auf einem Namensschild an der Brusttasche ihres grünen Kittels stand Gabi. Wir zeigten Gabi unsere Ausweise und benötigten knappe zehn Minuten, dann hatten wir sowohl den Eintrag im Computer vor uns als auch die ausgedruckte Geburtsbescheinigung eines Mädchens mit Namen Sarah Lichner. Als Vater eingetragen war Dr. Joachim Lichner, Deutscher, wohnhaft in Aachen, Zeppelinstraße, Mutter Zofia Kaminska, Polin, ebenfalls wohnhaft in der Zeppelinstraße. Das Mädchen hatte bei der Geburt 3460 Gramm gewogen, Größe: 51 Zentimeter, Name der Hebamme: Anna Gerling, der Gynäkologe hieß Dr. Richard Bartholomé. Die betreffenden Unterlagen waren laut eines Vermerks am Dienstag, dem 19. Juni 2007, mit dem Botendienst ans Standesamt Aachen weitergeleitet worden.
»Na, jetzt überzeugt?«, fragte Menkhoff.
Ich warf noch einmal einen Blick auf das Dokument: »Sagen Sie, Schwester Gabi, ist dieser Dr. Bartholomé noch hier beschäftigt?«
Sie zog die Stirn kraus. »Wer?«
»Dr. Bartholomé, der Arzt, der bei der Geburt dabei war.«
Sie sah mich verwirrt an und nahm die Geburtsbescheinigung in die Hand. »Das … ich weiß nicht, ich kenne keinen Arzt, der so heißt.«
»Vielleicht ist er nicht mehr hier angestellt«, warf Menkhoff ein. »Oder er ist ein Belegarzt?« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Ich bin schon seit neun Jahren auf dieser Station, ich kenne alle Ärzte, die in der Zeit hier gearbeitet haben, auch die Belegärzte. Einen Dr. Bartholomé gab es dabei nicht, das wüsste ich. Verstehe ich nicht, wie kommt … hmm …« Sie legte das Blatt auf dem Schreibtisch ab und setzte sich auf den Drehstuhl davor. Während ihre Finger über die Tatstatur huschten, sah ich zu Menkhoff herüber, der mit ernster Miene verfolgte, wie Schwester Gabi sich durch das Programm manövrierte.
»Nein, ganz sicher«, stellte sie nach kurzer Zeit fest, »hier gibt es keinen Dr. Bartholomé, und es gab auch in den letzten Jahren niemanden, der so hieß. Und … Moment mal …« Wieder flogen ihre Finger klickend über die Tastatur. Zwischendurch murmelte sie ein kaum verständliches: »Merkwürdig.«
»Was ist merkwürdig?«, fragte Menkhoff nach.
Sie sah uns abwechselnd an und deutete dann auf die Bescheinigung. »Hier steht, Anna Gerling war die Hebamme.«
»Ja, und …?«
»Na ja, also … es gibt hier auch keine Hebamme, die so heißt.«
»Was?« Mit einer schnellen Bewegung griff sich Menkhoff die Geburtsbescheinigung. »Und wer ist das hier: Susanne Trumpp? Gibt es die auch nicht oder was?«
»Doch, die gibt es«, erwiderte Schwester Gabi. »Susanne ist Pflegerin hier auf der Station. Sie war bei dieser Geburt wohl dabei und hat anschließend die Geburtsdaten eingegeben und die Bescheinigung ausgedruckt.« Menkhoff ließ das Blatt auf den Tisch fallen. »Na, wenigstens eine, die kein Phantom ist.«
»Ja, das –«
»So, und wo ist Frau Trumpp jetzt, hat sie heute Dienst, ist sie im Haus oder nicht?«
»Nein, ich glaube, sie hat Spätdienst, Moment …« Sie sah auf eine ausgedruckte Liste, die an der Wand neben dem Schreibtisch hing. »Ja, Susanne kommt gegen halb zwei.«
Ich überflog die Liste, die aus drei Spalten bestand. In der ersten stand das jeweilige Datum, die zweite Spalte war für die Buchstaben F, S und N reserviert, die wohl Früh- Spät und Nachtschicht bedeuteten, und dahinter standen dann mehrere Namen. An einem blieb mein Blick hängen, und ich spürte, wie sich mit rasender Geschwindigkeit nervöse Aufregung in mir ausbreitete. Mit einem Schritt ging ich näher an die Liste heran, um sicherzugehen, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Hatte ich nicht. »Bernd, sieh dir das mal an.« Ich tippte mit dem Finger auf die Stelle der Liste, an der der Name stand. Er las mit zusammengekniffenen Augen und sah mich dann fragend an. »Was meinst du?«
»Na, der Name, der da steht, sagt der dir nichts?« Wieder sah er auf die Liste.
»Da steht Markus Diesch. Und?«
Ich wollte nicht glauben, dass er sich nicht an den Namen erinnern konnte. »Mensch, denk doch mal an die Fotos.« Ich hatte Mühe, meine Aufregung halbwegs im Zaum zu halten. »Die du eben eingesteckt hast. Diesch, sagt dir das nichts? Das Fotoalbum … M. Diesch – Geschafft – Raus. Na?«
Endlich verstand er. Seine Augen wurden groß, und mit einer hastigen Bewegung zog er die Fotos aus Lichners Album aus der Gesäßtasche, sah sich beide an und hielt eines davon der Stationsschwester entgegen. »Ist das hier dieser Markus Diesch, der da auf dem Schichtplan steht?«
Schon nach einem flüchtigen Blick darauf veränderte sich Schwester Gabis Gesicht. »Ja … er ist ein bisschen schlanker, aber ja, das ist Markus. Woher haben Sie … –«
»Seit wann arbeitet der Mann hier?«, unterbrach ich sie.
»Seit … warten Sie, seit … etwa zweieinhalb Jahren.«
»Und was hat er vorher gemacht?«, fragte Menkhoff, »wissen Sie das?«
»Soweit ich weiß, war er vorher in einem Krankenhaus in Koblenz. Aber warum interessieren Sie sich für Markus? Und woher haben Sie das Foto von ihm? Hat er … ist er in Schwierigkeiten?«
»Das wird sich zeigen. Wir brauchen bitte seine Adresse.«
Sie zögerte. »Entschuldigung, ich weiß nicht, ob ich Ihnen einfach so die Adresse eines Mitarbeiters geben darf.«
»Sie dürfen«, versicherte ich ihr. »Sie selbst haben uns doch gerade darauf aufmerksam gemacht, dass mindestens zwei der Angaben auf dieser Bescheinigung falsch sind. Wir ermitteln in einem Fall von Kindesentführung, und diese Geburtsbescheinigung könnte für diesen Fall sehr wichtig sein. Geben Sie uns also bitte die Adressen von Markus Diesch und dieser Schwester, die den Eintrag gemacht hat.«
»Kindesentführung?«, wiederholte sie. »Mein Gott, und Susanne und Markus haben damit etwas zu tun? Aber …«
»Bitte, können wir jetzt die Adressen haben?«
Sie nickte und setzte sich an den Computer. Eine Minute später hatten wir beide Adressen. Susanne Trumpp wohnte in der Aachener Innenstadt, Markus Diesch in Richterich. Das war nicht weit von Kohlscheid entfernt, Joachim Lichners Zweitadresse. Ich steckte den Zettel ein, auf den sie die Adressen notiert hatte. »Gibt es sonst etwas, was beweisen würde, dass dieses Mädchen hier zur Welt gekommen ist?«
Schwester Gabi sah blass aus. »Ja, doch … Es müsste schon noch einiges geben. Von jedem Patienten wird eine Akte angelegt, in der Datenbank. Warten Sie …«
Sie warf einen Blick auf die Geburtsbescheinigung, dann huschten ihre Finger wieder über die Computertastatur. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf, betrachtete sich wieder die Bescheinigung, klimperte auf der Tastatur, stutzte …
»Ich verstehe das nicht. Name und Adresse der Mutter haben wir in der Datenbank, aber das ist auch schon alles. Es gibt weder einen Eintrag über eine stationäre Aufnahme noch irgendwelche anderen Daten. Keine Behandlung, keine Medikamente, nichts. Nur der nackte Stammdatensatz.« Sie ließ sich gegen die Rückenlehne des Stuhls fallen. »Also entweder die anderen Daten sind gelöscht worden, oder …«
»Oder diese Bescheinigung ist eine Fälschung«, ergänzte ich.
Menkhoff kratzte sich an der Stirn. »Aber warum hat sich dann jemand die Mühe gemacht und diesen … wie haben Sie das genannt … Stammdatensatz der Frau angelegt?«
»Das muss man, um eine Bescheinigung auszufüllen. Bei Formularen, Rezepten und diesen Dingen muss der Patientenstammsatz vorher angelegt sein. So wird sichergestellt, dass die notwendigen Daten, zum Beispiel für die Abrechnung mit den Krankenkassen, vorhanden sind.«
»Und dieser Arzt?«, wandte ich ein.
»Das Personal ist in einem anderen Programm eingetragen. Bei Bescheinigungen müssen die Namen von Ärzten oder auch Hebammen manuell eingetragen werden.«
»Schöne neue Computerwelt«, bemerkte Menkhoff.
»Und braucht man ein Passwort, um sich an dem Programm anzumelden?«, hakte ich nach.
Sie stieß ein kurzes und humorloses Lachen aus. »Ja natürlich, was glauben Sie? Es geht hier schließlich um Patientendaten!«
»Das dachte ich mir. Es kann also ausgeschlossen werden, dass jemand anderes diese Geburtsdaten und die Bescheinigung eingegeben hat.«
»Ja, wenn niemand anders die Anmeldedaten von Susanne hat, dann kann man das ausschließen. Aber Sie haben mir noch immer nicht gesagt …«
»Wir danken Ihnen, Sie haben uns sehr geholfen.« Menkhoff nickte mir zu, und nachdem auch ich mich bei Schwester Gabi für ihre Hilfe bedankt hatte, verließen wir das Stationszimmer.