Menkhoff saß auf dem Fußteil meines Bettes und sah mich ernst an. »Glatter Durchschuss. Du hattest Glück, Alex.«
Ich nickte und sah auf den Verband um meine rechte Schulter und den Oberarm. »Ja, das kann man so sagen. Der Scheißkerl kann Gott sei Dank nicht sonderlich gut schießen. Wie geht es Luisa?«
»Soweit ganz gut. Sie ist mit Frau Christ ein Stockwerk tiefer, eine Psychologin spielt mit ihr. Die haben tolle Spiele da unten.« Er lächelte ein wenig gequält. »Es … es wird dauern, bis sie wieder unbeschwert lachen kann. Aber mit der Zeit … na ja.«
Wir schwiegen einen Moment, dann sah er mich an. »Danke übrigens. Wenn du nicht so schnell reagiert hättest …« Er schluckte. »Du hast dein Leben riskiert, um Luisa zu schützen. Werde ich dir nicht vergessen.«
Ich winkte ab.
»Reiner Reflex. Und du hast mit deinem Schuss mein Leben gerettet. Was ist jetzt mit Lichner?«
Menkhoff hob die Schultern. »Ich hab ihn wohl an der Milz erwischt. Er liegt auf der Intensivstation, aber er wird es überleben und für lange Zeit wieder in den Knast wandern.«
»Dass die olle Finte mit dem Aufzeichnungsgerät funktioniert hat, wundert mich ja schon.«
Menkhoff zog eine Braue hoch. »Finte? Wie kommst du denn darauf? Ich hatte tatsächlich mein neues digitales Diktiergerät in der Hosentasche. Die Aufnahme klingt zwar teilweise, als hätte Lichner beim Reden ein Handtuch im Mund gehabt, aber das meiste kann man verstehen.«
Ich sah auf meine rechte Hand, die auf der Bettdecke lag. Über den Handrücken zog sich ein orangefarbener Streifen. Offenbar war man sehr großzügig mit dem Desinfektionsmittel gewesen.
»Und was ist mit Nicole?«
Er atmete tief durch. »Sie ist sehr verstört. An manche Dinge kann sie sich ganz schwach erinnern, an vieles aber überhaupt nicht. Lichner hat sie über einen sehr langen Zeitraum fast täglich unter Hypnose gesetzt und ihr seine kranken Ideen einsuggeriert.«
»Hypnose?«
»Er hat ihr dabei offensichtlich irgendwelche Medikamente gegeben, um ihre Beeinflussbarkeit zu erhöhen. Eine Gehirnwäsche der perversen Art. Sie kann Luisa unmöglich selbst entführt haben, und da Lichner zu diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht in der Tagesstätte gewesen sein kann, bleibt nur Diesch. Der leugnet zwar noch alles, aber ich werde mich nachher selbst um ihn kümmern. Lichners Aussage reicht erst einmal, um Diesch in U-Haft zu stecken.«
Ich nickte. »Was hat sich eigentlich in dieser Hütte abgespielt?«
»In der Hütte? Tja«, er seufzte, »Luisa saß auf einem Stuhl in der Ecke. Sie … sie war gefesselt.«
Es fiel ihm schwer, darüber zu sprechen. »Nicole saß zwei, drei Meter von ihr weg an einem Tisch. Vor ihr lag ein Messer. Als ich in die Hütte reinkam, hat sie zwar danach gegriffen, sie … sie springt auf, zögert dann aber. Es kam mir fast so vor, als wüsste sie nicht, was sie als Nächstes machen musste. Sie guckt das Messer an, dann mich … Ich weiß nicht, was genau Lichner ihr unter Hypnose befohlen hat, aber er hat sich offenbar auch dabei überschätzt. Er ging wohl davon aus, dass ich Nicole erschieße, wenn ich in die Hütte komme und sehe, dass sie mit einem Messer auf Luisa losgeht.«
Er ließ einen Moment verstreichen, dann fügte er hinzu: »Und das hätte ich wahrscheinlich auch getan.«
Wieder schwieg er nachdenklich ein paar Sekunden. »Jedenfalls hat sie sich ohne Gegenwehr das Messer von mir wegnehmen lassen. Ich hab den beiden erklärt, was ich vorhabe, und dann einen Schuss abgegeben. Dann hab ich Luisa befreit. Sie hatte zwar furchtbare Angst, aber sie hatte auch verstanden, dass Nicole ihr nichts tun würde. Ich hab ihr versucht zu erklären, dass vor der Hütte wahrscheinlich der Mann wartet, der ihr das angetan hat und dass sie da draußen absolut tun muss, was ich ihr sage. Und … na ja … den Rest hast du selbst erlebt.«
»Und du hast das alles … also Lichners Plan durchschaut, als du mit Nicoles Tante telefoniert hast?«
»Na ja, die hat letztendlich meine Zweifel bestätigt, die ich die ganze Zeit über schon hatte, wie du ja weißt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Nicole in der Lage wäre, ein Kind zu töten. Dazu habe ich zu lange mit ihr zusammengelebt. Und ich war absolut sicher, dass Lichner damals das Mädchen getötet hat. Deswegen war mir schnell klar, dass er versucht, uns reinzulegen. Aber auch ich konnte nicht ahnen, was für ein perfides Spiel der Kerl mit uns treibt.«
»Und was genau hat die Tante … ich meine, wie viel von dem, was in Nicoles angeblicher Patientenakte steht, ist wahr?«
Menkhoff richtete den Blick auf die Bettdecke. »Sie ist als Kind tatsächlich ein paarmal von ihrem Stiefvater sexuell belästigt worden. Aber der ist nicht tot. Er ist in den Knast gewandert, nachdem Nicoles Mutter etwas gemerkt und ihn angezeigt hat. Die ist später an Krebs gestorben, und Nicoles Tante hat die Erziehung übernommen, aber alles andere war erfunden.«
»Aber Lichner musste doch damit rechnen, dass wir diese Tante befragen. Ich verstehe einfach nicht, dass er das bei diesem ausgeklügelten Plan in Kauf genommen hat. Es hätte doch sicherlich eine andere Möglichkeit gegeben, bei der die Gefahr, dass der Schwindel auffliegt, nicht so groß ist. Und auch die Sache mit dem Schatten auf dem Mädchenfoto … Warum ist er dieses Risiko eingegangen?«
»Weil genau das seine Achillesferse ist, Alex. Er strotzt so sehr vor Selbstüberschätzung, dass es ihm eine perverse Freude gemacht hat, uns an verschiedenen Stellen die Lösung direkt vor die Nase zu setzen. Das Genie spielt mit seinen dummen Marionetten. Und dabei war er absolut sicher, dass wir das nie merken würden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich wusste ja, dass er ein Arschloch ist, aber ich hab ihn trotzdem für intelligenter gehalten.«
»Er ist sehr intelligent, Alex, aber … er kann nicht aus seiner Haut, weißt du. Es ist sein Wesen.«
ENDE