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14. Februar 1994

Während der Fahrt drehten sich meine Gedanken um Dr. Lichner und seine Lebensgefährtin. Das Verhalten des Mannes war mehr als ungewöhnlich, es wollte für mich keinen rechten Sinn ergeben. Er hatte uns – und ganz besonders Menkhoff – bewusst provoziert, wo er nur konnte. Dabei war er intelligent genug zu wissen, dass wir ihm eine Menge Ärger machen konnten, wenn wir es darauf anlegten. Warum also hatte er sich so verhalten? Oder war das schlicht seine Art, und er konnte nicht anders? Nur allzu gerne hätte ich mit Menkhoff darüber gesprochen, ihm einige Fragen gestellt, aber sein verkniffenes Gesicht riet mir, ihn besser in Ruhe zu lassen. Er hatte den Kopf gegen die Nackenstütze des Beifahrersitzes gelehnt und sah unter halbgeschlossenen Lidern nach vorne. Wahrscheinlich war er immer noch wütend. Ich beobachtete ihn immer wieder kurz aus den Augenwinkeln. Das lange, schwarze Deckhaar hatte er nach hinten gegelt, nur die Spitze einer gebogenen Strähne stand auf seinem Nasenrücken. Ich hatte mich schon einige Male gefragt, ob seine leicht gebräunte Haut von regelmäßigen Solarienbesuchen kam, konnte mir das bei ihm aber nicht wirklich vorstellen. Er wäre problemlos als Italiener oder Spanier durchgegangen, vielleicht hatte es ja einen Südländer unter seinen Vorfahren gegeben. Menkhoff war kein gutaussehender Mann im klassischen Sinne, aber soweit ich es beurteilen konnte, hatte er eine gewisse Ausstrahlung auf Frauen. Wir kannten uns noch nicht gut genug, als dass er mit mir über sein Privatleben gesprochen hätte, aber wie ich von Kollegen gehört hatte, wohnte er allein und war ein eingefleischter Single. Wenn ich daran dachte, wie schlechtgelaunt er manchmal war und wie er die Leute dann anranzte, wunderte mich das auch wenig.

Wir erreichten das Präsidium um kurz vor zwei. Während ich hinter Menkhoff die Stufen vom zweiten zum dritten Stock hochstieg, fragte ich mich, warum ich seine Marotte mitmachte und nicht einfach den Fahrstuhl benutzte, sondern grundsätzlich mit ihm zusammen die Treppe.

Menkhoff stieg in keinen Fahrstuhl, hatte er mir gleich am ersten Tag unserer Partnerschaft mitgeteilt. Nicht etwa, weil er unter Klaustrophobie gelitten hätte, wie er betonte, nein, er wollte sich durch das Treppensteigen fit halten. Soweit ich es zu diesem Zeitpunkt beurteilen konnte, ging er ansonsten jeglicher sportlichen Aktivität aus dem Weg.

Am oberen Ende der Treppe hielt er plötzlich an, drehte sich um und sah zu mir herunter. »Was halten Sie von diesem Dr. Lichner, Kollege Seifert?« Ich verkniff mir die Frage, warum wir das im Treppenhaus erörtern mussten, und überlegte schnell, was ich sagen sollte. »Ich halte ihn genauso wie Sie für arrogant und –«

»Glauben Sie, er lügt? Hat er was mit der Sache zu tun, was meinen Sie?«

»Na ja, also … Ob Dr. Lichner lügt oder diese alte Frau, das ist schwer zu sagen. Vielleicht hat sie sich getäuscht und jemand anderen mit Lichner verwechselt? Ich kann mir vorstellen, dass sie nicht mehr sehr gut sieht. Wenn Lichner etwas damit zu tun hätte, würde er sich dann nicht etwas mehr zurücknehmen? Ihm muss doch klar sein, dass wir ihn nach diesem Auftritt ganz besonders gründlich überprüfen.«

Eine Weile sah Bernd Menkhoff stumm an mir vorbei auf die beige gestrichene Wand, dann drehte er sich abrupt um und ging den Flur entlang.

Im Büro angekommen, schaltete ich meinen PC an und betrachtete Menkhoff, der mit aufgestützten Ellbogen an seinem Schreibtisch saß und durch die Fensterfront nach draußen schaute. Ich bezweifelte, dass er etwas von dem tristen Tag wahrnahm und von den Bäumen, deren kahle Äste mit einer weißen Schicht aus gefrorenen Kristallen überzogen waren. Das Gespräch mit dem Psychiater hatte ihm offenbar mehr zugesetzt, als ich anfangs dachte. »Darf ich fragen, was Sie glauben?«

Er zuckte leicht zusammen und sah mich an. »Wie?«

»Dr. Lichner. Sie wollten eben wissen, was ich von ihm halte. Aber was denken Sie über ihn?«

Er richtete sich ein Stück auf und war schlagartig wieder der Alte. »Das sagte ich eben schon, er ist ein arrogantes Arschloch. Und ich glaube, er lügt.«

»Meinen Sie denn, er könnte etwas mit dem Mord an der Kleinen zu tun haben?«

»So weit würde ich noch nicht gehen, aber sein aufgeplustertes Getue muss auch nicht zwangsläufig bedeuten, dass er nichts damit zu tun hat. Er ist Psychiater, Herr Seifert, vielleicht möchte er, dass wir genau das annehmen?«

Natürlich konnte Menkhoff recht haben, immerhin war er um einiges erfahrener, trotzdem … »Und was denken Sie über seine Freundin, Nicole Klement?«

Er winkte betont lässig ab, aber ich hatte sein Zögern bemerkt. »Sie haben doch gesehen, wie er mit ihr umspringt. Ich schätze, sie weiß nicht viel von dem, was der Kerl so treibt.«

Auch das wollte ich nicht so recht glauben. Mein PC war mittlerweile hochgefahren. Ich tippte meine Benutzerkennung und das Passwort ein, startete das Standardprogramm und begann damit, den Bericht zu schreiben.

Kurz nach drei unterhielt ich mich im Büro nebenan mit einem der Kollegen, die als Erste die Nachbarschaft der Familie Körprich befragt hatten. Zu meiner Überraschung erzählte er, Dr. Lichner sei bei dem Gespräch hilfsbereit und nett gewesen.

Ich ging die Berichte durch und konnte in dem Teil, der Lichner betraf, nichts finden, das uns weitergeholfen hätte. Ich suchte die Passage, die sich mit Marlies Bertels befasste, und fand sie eine Seite davor. Sie hatte laut dem, was die Kollegen festgehalten hatten, mehrfach betont, nichts Auffälliges beobachtet zu haben, aber das hatte Menkhoff ja auch noch in Erinnerung gehabt. Wesentlich interessanter fand ich hingegen eine andere Stelle, so interessant, dass ich sie Menkhoff sofort zeigen musste.

Als ich unser Büro betrat, erklärte er, gerade mit Marlies Bertels telefoniert zu haben, die wieder zu Hause sei. Sie blieb dabei, Dr. Lichner dabei beobachtet zu haben, wie er Juliane Süßigkeiten gegeben hatte. Mit dem Anflug eines Triumphgefühls hielt ich den Bericht hoch: »Dann sehen Sie sich das hier bitte mal an, Herr Menkhoff.« Ich legte ihm die Blätter auf den Tisch und zeigte auf die entsprechende Stelle:

Auf die Frage von KOK G. Spang, ob sie Juliane Körprich an dem Tag auf dem Spielplatz gesehen hat, an dem sie verschwunden ist, antwortet M. Bertels: ›Nein, von meinem Fenster aus kann man nicht auf den Spielplatz sehen, die Hecken verdecken ihn.‹

»Was zum Teufel …« Menkhoff zog die Blätter ein Stück näher zu sich heran und las den kompletten Abschnitt. Als er fertig war, schlug er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Will die uns auf den Arm nehmen, oder was? Los, wir fahren jetzt wieder dahin, und dann möchte ich wissen, wer von den beiden uns Blödsinn erzählt hat.«