Wir waren mit dem Besucheraufzug auf dem Weg nach unten. Die Kabine war so groß, dass bequem zwei der fahrbaren Krankenbetten nebeneinander hineingepasst hätten.
»Langsam fängt die Sache an, mir gewaltig auf die Nerven zu gehen«, sagte Menkhoff. »Was läuft da nur für eine verdammte Scheiße?«
»Keine Ahnung«, sagte ich, »aber dass dieser Diesch ausgerechnet auf der Station arbeitet, auf der Lichners angebliche Tochter zur Welt gekommen sein soll, kann kein Zufall sein. Ich wette, der hat was mit der falschen Bescheinigung zu tun. Entweder diese Susanne Trumpp hat ihm dabei geholfen, oder er ist irgendwie an ihr Passwort gekommen, was ich eher glaube. Sie muss wissen, dass man sehen kann, wer den Datensatz eingegeben hat.«
»Ich werd gleich mal klären, wer dieser Kerl ist und warum er im Knast war.«
»Er wurde doch vor Lichner entlassen, vielleicht wollte er sich an ihm für irgendwas rächen?«
»Und dafür betreibt er einen solchen Aufwand und riskiert, dass er gleich wieder bei einer Straftat erwischt wird? Niemals.«
»Aber du weißt doch am allerbesten, dass Lichner einen zur Weißglut bringen kann. Wenn ich mir vorstelle, dass er seine Tour über lange Zeit mit einem anderen Knacki durchgezogen hat …«
Wir waren im Erdgeschoss angekommen, die Tür schob sich mit einem sanften Geräusch zur Seite. Menkhoff ging auf meine Ideen nicht weiter ein, stattdessen zog er sein Handy hervor und rief auf dem Präsidium an.
Er ließ sich mit Kriminaloberrätin Biermann verbinden, bat sie, sich über Diesch zu erkundigen, und berichtete dann, was wir herausgefunden hatten. Als er das Gespräch beendete, waren wir schon auf dem Pariser Ring in Richtung Kohlscheid unterwegs.
»Na, was sagt sie?«
»Sie muss Lichner bald gehen lassen. Das heißt, wir fahren zuerst zu seiner Wohnung, bevor wir uns um den Krankenpfleger kümmern, und wir müssen uns verdammt nochmal beeilen. Ach ja, und Lichners Nachbarin ist gerade im Präsidium angekommen. Ich hab gesagt, sie soll sie erst mal wieder nach Hause schicken, weil wir jetzt Wichtigeres zu tun haben.«
Dass die Chefin Lichner gehen ließ, überraschte mich nicht, aber etwas anderes ging mir nicht aus dem Sinn. »Wenn wir davon ausgehen, dieser Diesch steckt hinter der Fälschung – warum benutzt er erfundene Namen für den Arzt und die Hebamme? Wenn er sich schon so viel Mühe macht, hätte er doch auch einen Gynäkologen eintragen können, den es dort tatsächlich gibt. Und die Hebamme genauso. Dann wäre doch die Wahrscheinlichkeit, dass das Ganze gleich bei der ersten Überprüfung auffliegt, viel geringer, oder nicht?«
»Du vergisst dabei eins, Alex: Wir haben es hier mit einem Knacki zu tun, und Knackis sind meist ziemlich dämlich. Wären sie das nicht, würden sie nicht immer wieder im Bau landen.«
Wir passierten das Ortseingangsschild von Kohlscheid, und ich drehte die Lautstärke des Navigationsgerätes höher, damit ich verstand, wohin die warme Frauenstimme mich lotste.
Wenige Minuten später standen wir vor dem anderthalbstöckigen Haus in der Haus-Heyden-Straße. Die Front war komplett verklinkert, die kleine Rasenfläche davor mit ein paar Büschen und einem Blumenbeet darin sah verdorrt aus, ein schmaler, mit grauen Steinplatten ausgelegter Weg durchschnitt den Vorgarten und führte zur Eingangstür aus weißem Kunststoff. Es war eines der Häuser, wie man sie zu Hunderten direkt hinter der Grenze in Belgien fand. Ganze Siedlungen bestanden dort ausschließlich aus diesen verklinkerten kleinen Einfamilienhäusern, in denen überwiegend Deutsche wohnten, die wegen der verhältnismäßig günstigen Grundstücke dort für wenig Geld gebaut hatten. Auf mich wirkten diese Siedlungen aus fast identischen Häusern mit ihren fast identisch braunen Klinkern eintönig und dumpf.
»Diese Bürgerlichkeit hätte ich ihm gar nicht zugetraut«, sagte ich, als ich mir das Haus neben dem Wagen stehend betrachtete. »Ich bin mal sehr gespannt, wie es da drinnen aussieht.«
Bevor wir das feststellen konnten, mussten wir ein Hindernis überwinden: Der Schlüssel, den Menkhoff bei dem Mietvertrag gefunden und eingesteckt hatte, passte nicht in das Schloss der Eingangstür. Für die Haustür musste es natürlich einen separaten Schlüssel geben. Uns fehlte die Zeit, lange zu diskutieren, deshalb drückte ich kurzerhand auf die untere der beiden Klingeln.
Der Mann, der uns nach einer Weile öffnete, schob einen gewaltigen, kugelförmigen Bauch vor sich her. Die im Verhältnis dazu viel zu dünnen, kurzen Beine und Arme ließen ihn wie eine Karikatur seiner selbst aussehen. Er mochte Anfang sechzig sein und trug eine Jeans, deren Bund unter der Trommel seines Bauches verborgen war. Seine schlaffen Wangen waren von einem graubraunen Stoppelfeld überzogen, und die Art, wie er uns ansah, ließ mich vermuten, dass er in jüngerer Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Drückerkolonnen oder übereifrigen Außendienstlern gemacht hatte.
»Guten Tag«, sagte ich, während Menkhoff das Ledermäppchen mit seinem Ausweis aus der Tasche zog. »Mein Name ist Alexander Seifert, Kripo Aachen, mein Kollege ist Kriminalhauptkommissar Menkhoff.«
»Aha«, antwortete der Mann – auf dem handgeschriebenen Papierstreifen an der Klingel stand »W. Merten« – und betrachtete Menkhoffs Ausweis mit deutlichem Widerwillen.
»Wohnt hier Dr. Joachim Lichner?«, fragte ich ihn, bemüht, mir meine Ungeduld nicht anmerken zu lassen.
»Haben Sie auch so was?« Er deutete auf Menkhoffs Ausweis, und ich nickte. Nachdem auch ich mich ihm gegenüber legitimiert hatte, sagte W. Merten: »Und? Was wollen Sie von ihm?«
»Nichts«, antwortete Menkhoff, bevor ich etwas sagen konnte. »Dr. Lichner ist seit gestern in Arrest. Wir möchten uns seine Wohnung ansehen. Den Schlüssel haben wir.«
»Arrest? Aha. Und warum?«
»Das geht Sie nichts an.«
W. Merten stellte sich breitbeiniger hin und verschränkte die Arme vor der Brust, was ziemlich gequält wirkte, denn seine Arme waren zu kurz, um sie bequem vor der Brust verschränken zu können.
»Und? Durchsuchungsbefehl?«
»Sind Sie der Eigentümer des Hauses?«, fragte Menkhoff, und ich hörte den Unterton des noch unterdrückten Ärgers, der von seiner Stimme mitgetragen wurde.
»Mieter.«
»Dann geht Sie auch ein Durchsuchungsbeschluss nichts an.« Menkhoff machte einen Schritt nach vorne, aber W. Merten sah offenbar keine Veranlassung, den Eingang freizugeben, was nicht sehr klug von ihm war. Ich sah den roten Schimmer, der sich auf die Wangen meines Partners legte. »Gehen Sie mir gefälligst aus dem Weg, Sie Witzfigur«, schrie er den Mann in einer solchen Lautstärke an, dass W. Merten mit einem Satz den Weg freimachte, wie ich ihn dem kleinen dicken Mann nicht zugetraut hätte. Als wir die Treppe zum ersten Stock hochstiegen, wurde unten eine Wohnungstür zugeknallt.
»Sind wir eigentlich nur noch von Psychopathen umgeben?«, knurrte Menkhoff, als wir vor der oberen Wohnungstür angelangt waren, und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er passte.
Die Wohnung war mit beigefarbenem Velours-Teppichboden ausgelegt. Das etwa 30 Quadratmeter große Wohnzimmer wurde dominiert von einer schwarzen Sitzgruppe aus einem weich aussehenden Stoff, die wie eine Burg die Raummitte beherrschte. Die Wände waren durchgängig mit Raufasertapete beklebt, drei davon waren in einem hellen Gelbton gestrichen und eine in einem dunklen Rot. Vereinzelte, rahmenlose Drucke zeigten bis zur Unförmigkeit abstrahierte Gestalten in surrealistischer Umgebung. Ein Sideboard sowie ein großer Schrank, beide aus hellem Holz – ich schätze, es war Buche – und mit Glaseinsatz, rundeten die Einrichtung ab. In der Mitte des Schrankes standen auf einem offenen Regal Bücher, die nach medizinischer Fachliteratur aussahen. Das Fenster, das die Dachschräge großflächig unterbrach, ließ ungehindert das Tageslicht in den Raum strömen und verlieh der Farbkomposition einen finalen, sommerlichen Anstrich. Im Gegensatz zu der Bruchbude in der Zeppelinstraße war diese Wohnung auch noch peinlich sauber und die Möbel offensichtlich relativ neu.
Alles in allem wirkte die Wohnung ganz anders, als ich mir das Heim eines Mannes wie Joachim Lichner vorgestellt hatte.
Menkhoff schien es ähnlich zu gehen, denn er sagte: »Ich möchte wetten, Lichner hat die Wohnung fertig möbliert gemietet.«
Wir standen noch einen Moment am Eingang zum Wohnzimmer und sahen uns um. In der Zeppelinstraße hatte sich alles nach dunklen Geheimnissen angefühlt, nach Verkommenheit und Verderben. Nun, beim Anblick der frischen Farben und der friedlichen Atmosphäre dieser Wohnung, konnte man gar nicht glauben, dass auf beiden Mietverträgen der gleiche Name stand.
Menkhoff gelang es schließlich zuerst, sich loszureißen. »Übernimmst du das Wohnzimmer, Alex?«
Das Erste, was ich in dem Sideboard fand, war ein Album voller ausgeschnittener Zeitungsberichte über den Fall Juliane Körprich. Während die Artikel in der ersten Hälfte sich überwiegend in Spekulationen ergingen und in reißerischen Überschriften die Eltern im Raum Aachen dazu aufforderten, ihre Kinder nicht mehr aus den Augen zu lassen, drehte sich gegen Ende mehr und mehr alles nur noch um den Psychiater, der von einem Blatt den Namen ›Dr. Tod‹ bekam. Zwei Seiten weiter hatten es alle anderen übernommen. Der Artikel auf der letzten Seite berichtete über den Schuldspruch gegen Lichner. Darunter hatte jemand handschriftlich mit einem blauen Kugelschreiber geschrieben: Ich dachte, du konntest nichts dafür.
Es war eine krakelige Handschrift ohne jegliche Schnörkel, ich tippte auf einen Mann. Eine Weile starrte ich auf die Handschrift und versuchte mir einen Reim darauf zu machen. Ich legte das Album neben mich auf den Boden und durchsuchte weiter die Schubladen und Fächer des Sideboards, aber es gab dort nichts mehr, was für uns von Interesse gewesen wäre. Nachdem ich mir alles in dem Raum angesehen hatte, wo etwas hätte liegen oder versteckt sein können, verließ ich das Wohnzimmer und ging über den Flur in den Raum gegenüber, offenbar eine Abstellkammer, die etwa zehn bis zwölf Quadratmeter maß und mit Kisten in verschiedenen Größen vollgestopft war. Auf einige davon hatte jemand mit einem schwarzen Filzstift Buchstaben geschrieben. So gab es eine Kiste A-B, darauf stand ein etwas kleinerer Karton, O-Q.
Ich betrachtete das Durcheinander. Wir hatten höchstens noch zwanzig Minuten, wenn wir ausschließen wollten, Joachim Lichner in seiner eigenen Wohnung zu begegnen, und ich fragte mich, wie ich es schaffen sollte, in dieser kurzen Zeit zumindest einen groben Blick in alle Kisten zu werfen.
Ein Geräusch hinter mir ließ mich herumfahren. Es war Menkhoff, der aus dem Raum neben dem Wohnzimmer kam.
»Im Schlafzimmer gibt es nichts Interessantes, nicht mal irgendein Pornoheft hat der Kerl im Nachttisch liegen.«
»Dafür gibt es hier genug zu tun.« Ich zeigte in den Raum, Menkhoff betrachtete sich die Kistenstapel und nickte.
Ich griff mir zuerst eine der beschrifteten Kisten, G-I. Die Deckel waren so ineinandergesteckt, dass es einige Mühe kostete, sie auseinanderzuziehen. Als ich es geschafft hatte, sah ich, dass die Kiste bis zum oberen Rand mit orangefarbenen Hängeregistern gefüllt war. Ich griff mir das oberste. Auf dem Deckel war PATIENTENDOKUMENTATION aufgedruckt, auf einer Linie darunter stand in leicht verschnörkelter Frauenhandschrift: B. Harmann. Ich klappte den Pappordner auf, und ein Blick auf das Datum der Akte von Frau Bernadette Harmann zeigte mir, dass sie aus der Zeit vor Lichners Verurteilung stammte. Menkhoff hatte wohl die gleiche Entdeckung gemacht, denn er sagte: »Der Kerl hat sie doch nicht alle, diese Kisten hier einfach rumstehen zu lassen. Wohl noch nie was von Arztgeheimnis gehört?«
»Er hat offenbar nicht damit gerechnet, dass jemand ohne sein Wissen in seiner Wohnung herumstöbert, Bernd.«
»Das ist doch scheißegal, Patientenakten gehören unter Verschluss, basta.«
Ich blätterte ziellos in einigen der Register herum, irgendwann schob ich die Kiste zur Seite und nahm mir die nächste vor, auch die war mit den orangefarbenen Teilen gefüllt, und nach einem Blick hinein schob ich sie ebenfalls an die Wand. Dahinter kam ein kleinerer Karton zum Vorschein. Auch er trug eine mit schwarzem Stift aufgetragene Beschriftung, wobei die krakelige Handschrift eine starke Ähnlichkeit mit der Schrift hatte, mit der der letzte Zeitungsartikel in dem Album im Wohnzimmer kommentiert war. Im Unterschied zu den anderen Kartons aber waren hier nicht nur zwei oder drei Buchstaben hingeschrieben worden, sondern ein Name.
Als ich leise aufstöhnte, wandte Menkhoff sich mir zu und sagte: »Was zum Teufel ist mit …« Weiter kam er nicht, denn auch er sah nun die Aufschrift: Patientendoku N. Klement.