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23. Juli 2009

»Worüber denkst du nach, Alex?«

»Dieser Lichner ist mir ein Rätsel«, sagte ich und war ganz froh, auf den Verkehr vor uns achten zu müssen. »Er hat seine Zeit abgesessen, daran ist nichts mehr zu ändern. Warum fängt er nach all den Jahren mit so was an?«

»Ich hab ihn damals in den Knast gebracht, er hasst mich«, antwortete Menkhoff, und es klang, als sei es die logischste Sache der Welt.

»Ja, kann sein.«

Nach einer Weile des Schweigens fragte ich Menkhoff, was er mit den Unterlagen vorhatte, die auf dem Rücksitz lagen. »Ich werde sie mit nach Hause nehmen und mir damit einen langen Abend machen«, erklärte er mir. »Und wenn du mir einen großen Gefallen tun möchtest, kommst du mit und hilfst mir.«

Ich war überrascht. »Helfen? Wobei soll ich dir helfen, Bernd? Du möchtest wissen, was damals mit Nicole Klement los war. Ich kann verstehen, dass das für dich wichtig ist, aber … ich weiß nicht, was ich dabei soll?«

Menkhoff atmete schnaufend. Er hob die Hand zur Stirn, spreizte die Finger und drückte mit Mittelfinger und Daumen leicht kreisend gegen seine Schläfen. »Dieser Lichner … Erinnerst du dich an die Fotos, die wir in dem Album gefunden haben? Die beiden, auf denen Nicole mit ihm zusammen drauf war?«

»Ja, klar.«

»Die Bildunterschrift … Eynatten, dann ein Datum im August 2007 und In der Hütte

»Ja, kann sein, das Datum weiß ich nicht mehr, aber das mit der Hütte, du meintest, wahrscheinlich ein Wochenendhaus.«

»Es war August 2007, also kurz nachdem Lichner entlassen worden war.« Er sprach nun schneller, fast schon hastig. Daumen und Zeigefinger malten noch immer kleine Kreise an seinen Schläfen, die Handfläche verdeckte seine Augen. »Er war ihr Therapeut, er hat sie lange behandelt und war gleichzeitig ihr Lebensgefährte. Er hatte Macht über sie. Große Macht. Kann gut sein, dass er diese Macht mit einem Fingerschnippen wieder zurückhatte, als sie sich zum ersten Mal wiedergesehen haben.«

Ich glaubte zu ahnen, worauf das hinauslaufen würde. Hundert Meter vor uns lag die Einbuchtung einer Bushaltestelle. Dort stoppte ich und sah zu ihm herüber. »Bernd, wenn du … also wenn du sie von ihm wegholen möchtest, … ich weiß nicht … –«

Er winkte ab. »Hör mir zu, Alex. Wenn wir davon ausgehen, dass er genau weiß, welche Knöpfe er bei Nicole drücken muss, und dass er sie auch gedrückt hat, dann ist es doch möglich, dass sie ihm … hörig ist, oder?« Bevor ich etwas dazu sagen konnte, redete er weiter, und er redete nun nicht mehr nur sehr schnell, seine Stimme hatte mittlerweile auch etwas Hysterisches, etwas ganz und gar Nicht-Menkhoffisches an sich. »Was, wenn er sie nicht erst kurz nach seiner Entlassung wiedergesehen hat, Alex? Und was, wenn er bei einem seiner Freigänge mit ihr im Bett war, na?«

Nun endlich begann mir zu dämmern, was er meinte, und allein der Gedanke daran jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Was, wenn nicht irgendeine Polin, sondern Nicole damals ein Kind von ihm bekommen hat?«

Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.

»Denk doch mal nach. Am 18. Juni 2007 ist Sarah Lichner geboren. Und ein paar Wochen später: In der Hütte. Na?«

»Aber …« Meine gottverdammten Gedanken waren noch immer so träge wie ein Automotor morgens bei Minus 20 Grad. »Der Eintrag im Krankenhaus war doch falsch.«

Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, in dem ich in diesem Moment – es mag an den Lichtverhältnissen gelegen haben – leicht irre Züge zu erkennen glaubte, die mir wirkliche Angst machten. »Aber das ist es ja, Alex. Dilettantisch, mit falschen Ärztenamen. Überleg doch mal. Was tue ich, wenn ich möchte, dass jemand, der nachforscht, schnell auf die Idee kommt, dass der Eintrag gefälscht ist? Na? Ich ändere nicht einfach nur die Namen des Arztes und der Hebamme ab, nein, ich bin viel schlauer: Ich benutze Namen, die gar nicht existieren, denn dann kann ich ganz sicher sein, dass es auffliegt. Und sein Freund Diesch hat das für ihn erledigt.«

»Bitte, Bernd, erzähl mir ohne Fragen und Ratespielchen, in ein paar verständlichen Sätzen, was genau du glaubst.«

»Ich glaube, Lichner ist bei seinem ersten Freigang zu Nicole marschiert und hat sie wieder unter seine Kontrolle gebracht. Er hat sie geschwängert. Kurz, nachdem er entlassen wurde, kam das Kind zur Welt, und weil Lichner wusste, dass sein ehemaliger Zellengenosse im Klinikum auf der entsprechenden Station arbeitet, sind sie da hingegangen. Ich weiß noch nicht, welche Rolle die Drecksbude in der Zeppelinstraße spielt, aber aus irgendwelchen Gründen war es Lichner wohl wichtig, so was wie ein Doppelleben zu führen. Vielleicht, weil er seine Neigung kennt und sich selbst nicht traut. Er baut sich einen doppelten Boden in diese ganze Sache mit Nicole und dem Kind ein. Er weiß ganz genau, wenn das Kind verschwindet oder so, dann wird er sofort verdächtigt, also sorgt er vor. Als es ihn dann tatsächlich wieder packt und er das Mädchen umbringt, wird die Punker-Nachbarin bestochen, damit sie ein bisschen Verwirrung stiftet, und Kollege Diesch bekommt einen Anruf, woraufhin er kleine Modifikationen an der Patienten-Datenbank vornimmt. Und schwupp – wir glauben, dass jemand dem armen Joachim Lichner übel mitgespielt hat, und der Fall wird als erledigt betrachtet.«

Menkhoff sah mich erwartungsvoll an, als warte er darauf, dass ich ihm lobend auf die Schulter klopfe. Das war mit Abstand die verrückteste Geschichte, die ich jemals gehört hatte, und dass es mein Partner war, der sie mir im Brustton der Überzeugung auftischte, verwirrte mich, mehr noch, es machte mich betroffen.

»Bernd, überleg doch mal, wäre das nicht ein zu großer Zufall?«, fragte ich vorsichtig. »Dass Diesch ausgerechnet auf dieser Station arbeitet? Und wie hätte Lichner ein Kind zwei Jahre lang versteckt halten können? Es müsste doch irgendwelche Unterlagen geben, Arztbesuche, was weiß ich. Es muss Leute geben, die dieses Kind gesehen haben. Und selbst wenn man das alles außer Acht lässt, was ist mit Nicole? Glaubst du wirklich, sie würde stillhalten, wenn Lichner ihrem Kind etwas antut? Bernd?« Menkhoff sah an mir vorbei ins Leere und kaute dabei auf seiner Unterlippe, er schien krampfhaft nachzudenken. Dieser Gesichtsausdruck machte mir Angst. »Bernd, bitte, diese Geschichte … Glaubst du das etwa wirklich?«

Sein Blick kam aus dem Nichts zurück und fand meine Augen wieder. Er holte Luft, setzte an, etwas zu sagen, stockte, setzte wieder an. »Nein. Nein.« Es war fast ein Flüstern, und seine Augen wurden dabei glänzend, feucht. Es war erschütternd, diesen Mann so vor mir zu sehen, und trotzdem verspürte ich eine deutliche Erleichterung, denn der seltsame, irre Zug war aus seinem Gesicht verschwunden. »Dass dieser miese Scheißkerl Nicole wieder unter seiner Kontrolle hat, das macht mich verrückt. Du hast doch damals an ihrem Hals gesehen, was er mit ihr gemacht hat, Alex. Was glaubst du, was er ihr jetzt antut? Nachdem sie damals gegen ihn ausgesagt hat? Nachdem er über 13 Jahre im Knast saß?«

Er machte eine Pause. Ich hielt mich zurück und gab ihm die Zeit, die er brauchte.

»Ich liebe meine Frau, Alex, und Luisa vergöttere ich, das weißt du. Aber … ich habe Nicole noch immer nicht vergessen, das werde ich auch nie, und der Gedanke daran, was ihr passiert ist … es gab so vieles, das ich nicht verstanden habe. Vielleicht wird einiges klarer, wenn ich das gelesen habe, was da hinten auf dem Rücksitz liegt. Vielleicht gibt es etwas, was … vielleicht verstehe ich manche Dinge danach so gut, dass ich ihr helfen kann …«

»Helfen wobei? Von ihm loszukommen?«

»Ja, vielleicht, von diesem verfluchten Kerl loszukommen.«

Ich sah, wie sehr Bernd Menkhoff in diesem Moment litt.

»Okay, wenn du denkst, es bringt etwas, werde ich dir helfen, diese Ordner durchzusehen. Wann und wo?«

»Heute Abend, bei mir zu Hause. Jetzt müssen wir noch woandershin.«

»Wohin?«

»In die Oppenhoffallee.«