Wir fielen in Dr. Lichners Praxis ein wie ein Rollkommando. Corinna M. saß mit offenem Mund hinter ihrem Tresen und war angesichts der Mannschaft, die plötzlich im Eingangsbereich der Praxis auftauchte, augenscheinlich zu keiner Reaktion mehr fähig.
Die Kollegen verteilten sich sofort im ganzen Haus, während Menkhoff und ich mit zwei uniformierten Beamten den Bereich betraten, in dem sich die Behandlungszimmer und der Warteraum befanden. Menkhoff öffnete die Tür mit der Aufschrift Behandlung 1 fast im gleichen Moment, in dem er flüchtig anklopfte. Dr. Lichner und seine Patientin, eine korpulente Frau Ende fünfzig, fuhren erschrocken auf, als wir den Raum regelrecht stürmten. »Keine Angst, wir sind Polizeibeamte«, sagte Menkhoff militärisch knapp zu der Patientin. »Verlassen Sie bitte den Raum.« Mir war alles andere als wohl zumute angesichts dieser Vorgehensweise. Nach der ersten Schrecksekunde stand im Gesicht der Frau deutlich geschrieben, dass sie es gar nicht erwarten konnte, rauszukommen, um von ihrem Abenteuer zu erzählen. Was auch immer bei unserer Durchsuchung herauskommen würde – die ernsthaften Probleme hatten soeben für Dr. Joachim Lichner begonnen. Der sonst so wortgewandte Mann schien erst zu realisieren, was gerade geschah, als seine Patientin ihm einen letzten, entrüsteten Blick zuwarf, bevor sie abrauschte.
»Was fällt Ihnen ein, hier einfach so hereinzuplatzen? Das lasse ich mir nicht …«
»Halten Sie den Mund, Dr. Lichner«, sagte Menkhoff und hielt ihm einen Faxausdruck entgegen. »Hier ist ein Durchsuchungsbeschluss, das Original wird gebracht. Führen Sie uns bitte in Ihre Garage.« Ein dünner Schweißfilm überzog meine Stirn.
»Ich habe das Recht, meinen Anwalt anzurufen. Darauf bestehe ich.« Man merkte, dass Lichner bemüht war, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Menkhoff verdrehte die Augen. »Na los, dann machen Sie schon.«
Der Anruf dauerte nur eine knappe Minute: »Dr. Meyerfeld wird in fünfzehn Minuten hier sein«, erklärte Lichner.
Menkhoff nickte grimmig. »Schön. In der Zwischenzeit werden wir uns Ihre Garage ansehen.«
Zum ersten Mal, seit ich den Psychiater kannte, sah ich ihn um Worte ringen. Zumindest das bereitete mir eine gewisse Genugtuung. »Was wollen Sie in meiner Garage?«
»Wir möchten uns dort umsehen. Die Kollegen der Spurensicherung werden auch bald eintreffen. Ist Ihr Wagen da?«
»Nein, ich … ich weiß es nicht, kann sein, dass Nicole damit weggefahren ist.«
»Führen Sie uns trotzdem in die Garage, Dr. Lichner.«
Die Schultern des Mannes sackten ein Stück herab. Ohne weiteren Kommentar nickte er und verließ den Raum, dicht gefolgt von den beiden Kollegen in Uniform.
Die Garage war durch eine Tür am Ende des Praxisbereiches zugänglich. Auf dem grauen Feinsteinzeug, mit dem der Boden gefliest war, gab es wie angekündigt keine Spur von Schlamm oder Grasbüscheln. Auch an Dr. Lichners Fahrzeug, einem dunkelblauen 5er BMW, der entgegen seiner Annahme doch dort stand, konnten wir keine auffällige Verschmutzung über das natürliche Maß hinaus feststellen, was aber nach über zwei Wochen auch kein Wunder war. Als die Kollegen der Spurensicherung damit begannen, sich in der Garage mit ihren Koffern und Utensilien auszubreiten, sagte Menkhoff: »Was ist mit dem Wagen?« Einer der Männer drehte sich zu uns um. »Wird gleich abgeholt.«
Menkhoff nickte, dann forderte er mich auf, ihm zu folgen. Den beiden Uniformierten, die mit einem verwirrt dreinschauenden Dr. Lichner hinter uns standen, befahl er, sich mit dem Psychiater im Eingangsbereich der Praxis auf die Stühle zu setzen und auf seinen Anwalt zu warten. Die Eingangstür war gleich nach unserer Ankunft von außen mit einem provisorischen Hinweisschild auf einen Notfall versehen und geschlossen worden.
Wir betraten durch eine schmale Tür einen ebenfalls grau gefliesten Nebenraum der Garage, der wohl als Hauswirtschaftsraum diente. Neben Waschmaschine und Trockner, die auf einem Steinsockel in einer Höhe standen, die es erlaubte, sie zu befüllen, ohne sich dabei bücken zu müssen, gab es ein großes, steinernes Spülbecken, auf dem ein Gitterrost lag, einen fast deckenhohen weißen Schrank sowie ein paar Regale mit allem möglichen Plunder darin. Menkhoff ging zielstrebig auf den Schrank zu und öffnete ihn. Im Inneren gab es nur ein Regalbrett auf Augenhöhe, auf dem Putzmittel aller Art standen. Darunter waren Besen und Schrubber an die Schrankwand gelehnt, auf dem Boden dazwischen standen ein weißer und ein grauer Putzeimer.
Menkhoff griff in das Regal und schob die Flaschen und Dosen mit Putzmittel zur Seite. In der hintersten Ecke lag eine zusammengeknüllte bunte Plastiktüte. Er nahm sie heraus, zog die oberen Ränder auseinander und sah hinein. Mit einem tiefen Atemzug sah er mich dann an und hielt mir die geöffnete Tüte entgegen. Der Ausdruck des grimmigen Triumphes auf seinem Gesicht war dabei nicht zu übersehen.
Auf dem Boden der Tüte lag ein türkisfarbenes Etwas mit einem kleinen, bunten Plastikteil daran, das ich erst nach ein paar Sekunden als Haargummi mit einem kleinen Plastikschmetterling darauf erkannte.
»Was denken Sie, Herr Kollege Seifert, wem das wohl gehören könnte?«