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23. Juli 2009, 20.05 h

Ich hatte Mel das meiste von dem erzählt, was ich erlebt und was mich bewegt hatte, nur einige Einzelheiten aus Nicoles Patientenakte hatte ich ausgelassen. Einerseits, weil ich Mel diese Scheußlichkeiten ersparen wollte, andererseits, weil ich glaubte, dass Nicole psychisch ernsthaft krank war und dass das eine Folge der dort beschriebenen, furchtbaren Kindheitserlebnisse war. Mel hatte Nicole nie persönlich kennengelernt, aber ich hatte ihr mit der Zeit fast alles über sie erzählt, was ich wusste. Nur die intimen Dinge, die Menkhoff in seltenen Momenten mit mir besprochen hatte, erwähnte ich nicht. Und einige meiner Gedanken zu dem Mord an der kleinen Juliane auch nicht.

Menkhoff öffnete erst nach dem zweiten Klingeln mit einem kleinen, ziemlich zerzaust aussehenden Stoffbären in der Hand. »Geh rein, setz dich, ich komme gleich. Das letzte von drei Gute-Nacht-Liedern fehlt noch, und Luisa besteht auf drei. Ist ein Ritual.«

Ich folgte ihm durch die Diele. Als er die Treppe zur ersten Etage erreicht hatte, auf der auch Luisas Zimmer lag, sagte ich: »Mir fällt auf, dass du mich in letzter Zeit häufiger mit diesen Worten empfängst: Geh schon mal rein, ich komme gleich. Sehr gastfreundlich ist das nicht, Herr Kollege.«

Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Das mag daran liegen, dass mir in den letzten beiden Tagen neben der guten Laune vielleicht auch die Höflichkeit verlorengegangen ist, Alex.« Als er sich schon wieder abgewandt und den Fuß auf die unterste Stufe gesetzt hatte, fügte er hinzu: »Ganz besonders seit heute Nachmittag.«

Also gut, dachte ich mir, keinen Auflockerungsversuch mehr.

Teresa und Bernd hatten ihr Haus mit einem Mix aus Antiquitäten und modernen Möbeln eingerichtet, und sie hatten dabei – was ich zum größeren Teil Teresa zuschrieb – Fingerspitzengefühl bewiesen. Die unterschiedlichen Möbelstücke und Accessoires ergänzten sich hervorragend, obwohl zwischen ihrer Herstellung hier und da bestimmt an die 200 Jahre lagen.

Ich setzte mich auf die L-förmige Couch, strich mit den Handflächen über das weiche, beigefarbene Veloursmaterial und sah mich in dem Raum um. Hatte sich etwas verändert, seit Mel und ich etwa vier Wochen zuvor das letzte Mal abends zu Besuch gewesen waren? Wir sahen uns nicht oft und auch nicht regelmäßig, aber die Abende, die wir zusammen verbrachten, waren immer schön. Dieser würde es nicht werden.

Im Bücherregal gleich schräg neben der Couch stand ein großes Foto von Teresa und Bernd. Sie umarmten sich und lachten den Fotografen herzlich an. Ich betrachtete Teresas Gesicht genauer, ihre blauen Augen mit den fächerartigen, kleinen Fältchen an den Außenseiten, den lachenden Mund, der eine ebenmäßige Zahnreihe zeigte, die rötlichen, schulterlangen Haare. Teresa war keine Frau, die ich als hübsch bezeichnet hätte. Mir war aufgefallen, dass ich sie trotzdem zwischendurch immer wieder länger ansah, als man das normalerweise tat, wenn man mit guten Bekannten zusammensaß und sich unterhielt. Sie war einige Jährchen älter als ich, außerdem … ich war glücklich mit Mel verheiratet. Es war ganz sicher nicht so, dass ich heimliche Gefühle für sie gehabt hätte, die über Sympathie hinausgingen. Nein, der Grund war wohl, dass Teresa eine ganz besondere Ausstrahlung hatte. Liebenswert, ohne zu mütterlich zu wirken, durchaus selbstbewusst, aber ohne Arroganz. Eine Frau, nach der ich mich, hätte ich sie nicht gekannt, auf der Straße sicher nicht umgedreht, zu der ich in einem Café aber immer wieder herübergeschaut hätte, sobald mir ihr sympathisches Wesen aufgefallen wäre.

»So, sie schläft.« Menkhoff stand im Eingang zum Wohnzimmer. »Grauburgunder?«

Er bevorzugte italienische Rotweine und Weißwein aus der Region Saar-Mosel, und er war in beidem gut sortiert. Bisher hatten mir noch alle Weine geschmeckt, die ich bei ihm getrunken hatte, deshalb nickte ich. »Ja, gerne.«

Wenige Minuten später saßen wir uns schräg gegenüber und prosteten uns zu. Der Wein war so kühl, dass die dünnen Gläser außen anliefen. Er schmeckte hervorragend.

»Eine Frage, Bernd.« Ich stellte mein Glas auf der hellen Marmorplatte des Couchtisches ab. »Lichner sagte heute Mittag im Hof etwas von einem Wesen, das wir erkennen müssen. Sagt dir das was?«

»Der erzählt ziemlich viel Unsinn. Ein Wesen? Von einem anderen Stern oder was? Ich schätze, das sagt dem Kerl selbst nichts. Entweder, er wollte sich mal wieder wichtig machen, oder er hat dich verarscht. Wobei ich eher Letzteres glaube.«

»Hm …« Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob ich mit meinem Kollegen einer Meinung war. »Die Ordner … die liegen noch im Wagen«, sagte ich.

Menkhoff winkte ab. »Keine Eile. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich dran denke, was wir da wahrscheinlich zu lesen bekommen.« Er stellte sein Glas ab und strich mit der Spitze seines Zeigefingers um den Rand des Bodens herum, während er durch die Szene hindurchzustarren schien. Seine Augen bekamen dabei einen fiebrigen Glanz. Er versuchte wie ein Kind, den Zeitpunkt, an dem etwas Unangenehmes begann, so lange wie möglich hinauszuzögern, und ich fragte mich, warum er sich das überhaupt antun wollte.

»Es hat damals schon ähnliche Situationen gegeben«, sagte er auf einmal, und obwohl er leise gesprochen hatte, zuckte ich zusammen.

»Was? Was meinst du?«

Sein Blick kehrte aus dem Nichts zurück, orientierte sich eine Sekunde in der Realität des Raumes und fand dann meine Augen. »Nicole. Du wolltest, dass ich dir mehr über sie erzähle, bevor wir diese Ordner durchgehen. Ich … ich habe sie heute nicht zum ersten Mal so gesehen, Alex.«

Kollege Menkhoff war immer wieder für eine Überraschung gut. Die gerade war von der Qualität, dass einige Sekunden vergingen, bis ich etwas entgegnen konnte. »Du meinst, du wusstest damals schon, dass etwas nicht mit ihr stimmt? Aber warum hast du nie etwas … ich meine … Mann, Bernd … Warst du nie mit ihr bei einem Arzt?«

»Nein, das ging nicht.«

»Wie? Was meinst du mit: Das ging nicht?«

»Was glaubst du wohl, was ich damit meine?« Seine Stimme war plötzlich lauter, unangenehmer.

Ich wusste nicht, warum er so auf diese einfache Frage reagierte, und fühlte mich von ihm ungerecht behandelt. Schließlich war ich wegen ihm … »Wenn ich etwas glauben würde, hätte ich dich nicht gefragt Bernd«, erwiderte ich in ähnlichem Ton. »Und hör auf, mich anzupampen. Ich bin keiner von den Bösen.«

Er fuhr sich durch die Haare und trank einen hastigen Schluck Wein. »Tut mir leid. Das … Diese ganze Sache macht mich ziemlich fertig. Ich bin nur heilfroh, dass Teresa gerade nicht da ist. Ich weiß nicht, ob sie Verständnis dafür hätte, dass ich jetzt noch wegen Nicole …«

Seltsamerweise wusste ich ganz sicher, dass Teresa dafür Verständnis gehabt hätte. »Also, nochmal«, sagte ich. »Warum konntest du damals nicht mit Nicole zu einem Arzt gehen?«

»Sie hätte mich verlassen.« Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm noch folgen konnte, ob wir überhaupt noch über das Gleiche sprachen. »Nicole hätte dich verlassen, wenn du mit ihr zum A –?«

»Ja.«

»Aber wie –«

»Du weißt nur sehr wenig über sie, Alex.« Er stützte die Unterarme auf den Oberschenkeln ab und legte die Hände zwischen den Knien zusammen. »Nicole hatte schon damals ab und zu … außergewöhnliche Gemütszustände. Es gab Tage, da war sie so in sich selbst versunken, dass sie überhaupt nicht reagiert hat, wenn ich sie angesprochen habe. Oft saß sie dann in ihrem Sessel, der so stand, dass sie nach draußen schauen konnte. Sie hatte dann die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen und sich … irgendwie zusammengezogen. Manchmal hat sie stundenlang leise vor sich hin gesummt.« Er griff zu der Weinflasche, die in einem durchsichtigen Kunststoffkühler stand, schenkte uns nach und trank einen großen Schluck. »Anfangs hab ich sie ein paarmal darauf angesprochen, sobald sie wieder … normal war. Sie hat mir erklärt, das wäre nichts Schlimmes, sie bräuchte einfach manchmal diese Zeit, in der sie mit sich und ihren Gedanken alleine ist. Als ich ihr zum ersten Mal vorgeschlagen habe, zusammen mit ihr zu einem Therapeuten zu gehen, hat sie mir klipp und klar gesagt, wenn ich noch ein einziges Mal versuchen würde, sie zu einem Psychiater zu schleppen, würde sie mich verlassen, auf der Stelle.« Er löste seinen Blick von seinen Händen und sah mich an. »Ich hab das als Folge ihrer Beziehung zu diesem Kerl gesehen, Alex. Was sollte ich denn machen? Ich dachte, wenn sie mich verlässt, verliere ich den Verstand.« Wieder eine Pause. »Ich glaube, ich hätte damals alles für sie getan.«

Da war sie wieder, die Faust in meinem Magen. Sie hatte mich schon die ganze Zeit umkreist, bereit, jederzeit zuzustoßen, sich in meine Innereien zu bohren. Er hätte damals alles für sie getan …

»Du wirst das wahrscheinlich nicht verstehen, Alex, aber … da war so was wie eine Abhängigkeit. Ich dachte wirklich, ich kann nicht mehr ohne sie leben.«

Nie hätte ich es für möglich gehalten, solche Worte aus dem Mund von Bernd Menkhoff zu hören, der von vielen Kollegen wegen seiner ruppigen Art regelrecht gefürchtet war.

»Gab es denn noch andere … außergewöhnliche Gemütszustände?«

»Nein. Na ja, sie hatte … ziemliche Probleme mit Nähe. Also … Körperkontakt. Manchmal hat sie mich sogar weggestoßen, wenn ich sie in den Arm nehmen wollte. Und das andere, im Bett … ganz selten, und wenn, dann lag sie stocksteif da, als würde sie es über sich ergehen lassen.«

Seine Augen waren wieder glasig geworden, und bei allen Fragen und Zweifeln, die ich hatte, tat er mir in diesem Moment unendlich leid. Wie sehr musste er diese Frau geliebt haben, um das alles zu akzeptieren und zu ertragen.

»Ich war mir damals sicher, dass sie durch Lichner so geworden war. Er hat sie geschlagen, und ich hab immer befürchtet, dass er noch andere Dinge …. Von diesen Krankenakten hab ich nichts gewusst, und auch nicht, dass sie ausgerechnet bei dem Kerl selbst in Behandlung war. Aber ganz egal, wie seltsam sie sich manchmal auch verhalten hat – sie war der liebenswürdigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Alles, was sie tat, hatte eine Tiefe, Oberflächlichkeiten gab es bei ihr in unserer Beziehung nicht, sie … sie war einfach anders, als du sie vielleicht gesehen hast, Alex. Wie soll ich es nur ausdrücken? Das meiste, was du von ihr gekannt hast, war gespielt, es war Schein. Das war nicht die wirkliche Nicole, wie ich sie kannte. Was …« Er suchte nach Worten. »Was du als Außenstehender nicht sehen konntest, war …«

»Ihr Wesen?«

Sie müssen das Wesen erkennen. Hatte Lichner damit vielleicht Nicole gemeint? Aber was könnte er damit bezweckt haben?

Menkhoff schien überhaupt nicht aufzufallen, dass es der Begriff war, nach dem ich ihn kurz zuvor gefragt hatte.

»Wie auch immer«, fuhr er unbeirrt fort, »jetzt weißt du auf jeden Fall … na ja, ein bisschen mehr über Nicole. Was meinst du, wollen wir anfangen?«

»Gut«, sagte ich und stand auf. »Ich hole die Ordner.«

Auf dem Weg nach draußen spulte sich in meinem Kopf ein Band ab, das immer wieder den gleichen Satz wiederholte:

Sie müssen das Wesen erkennen.