Samstag, 17. April 2010
EWF sind drei Buchstaben, die für etwa 99,9999% der deutschen Bevölkerung keinerlei Bedeutung haben. Nicht so für JP – er zählte sich zu dem 0,00001%, für die diese Buchstaben sehr bedeutend und die damit verbundene Veranstaltung äußerst wichtig waren! EWF stand für „Erlebniswelt Fliegenfischen“, die wohl größte Fachausstellung zum Thema Fliegenfischen in Süddeutschland. Diesjähriger Veranstaltungsort war wieder das wunderschöne Klostergelände in Fürstenfeldbruck bei München. Sie waren alle da: die besten europäischen FlyFy-Guides, Wurfprofis, die besten Fliegenbinder, Gerätehersteller und Anbieter der interessantesten Fischereireisen nach Nordamerika, Nordeuropa, Russland etc. Aber am Wichtigsten war: Es traf sich dort das Who is Who der FlyFy-Begeisterten, Fliegenfischer aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz. Es war eine Plattform für Gleichgesinnte, für Interessens- und Wesensverwandte. Man traf sich an den Ausstellungsständen, Tischen und Theken und diskutierte angeregt über die besten Techniken beim Fliegenfischen, die besten Köder und die interessantesten Gewässer und Reiseziele. Trophy-Fang-Bilder wurden stolz präsentiert, Geschichten und Fischerlatein erzählt. Das gemeinsame Hobby und die Begeisterung für das Thema Fliegenfischen schaffte eine extrem lockere Atmosphäre und man unterhielt sich kreuz und quer mit allen möglichen Fremden.
JP hatte soeben einen der besten europäischen Profis und sehr guten Bekannten Michael Mauri bei seiner beeindruckenden Wurfpräsentation zugesehen, als er im hinteren Übungsbereich das Profil eines ihm wohl bekannten älteren Mannes erspähte. Dieser Mann hatte sich wohl eine neue Fliegenrute ausgeliehen und wollte sie ausprobieren, nicht besonders geübt und geschickt, wie JP schnell feststellte. JP näherte sich von der Seite und sprach ihn an: „Hallo Herr Malinger, wie schön Sie hier zu treffen! Sie sind wohl auch begeisterter Fliegenfischer?“ „Ach, der junge Mann aus der Computerabteilung. Santa Cruz, richtig?“ Joseph Malinger kam auf JP zu und reichte ihm zur Begrüßung herzlich die Hand. Die Gesprächsbasis war sofort vorhanden und JP konnte Joseph Malinger ein paar gute Tricks beim Werfen zeigen.
Der alte Mann revanchierte sich danach und lud JP auf eine Bratwurst und ein Bierchen im angeschlossenen Biergarten ein. Es war ein gutes Gespräch unter Fliegenfischern! Als es für Joseph Malinger Zeit zum Verabschieden war, meinte er noch freundschaftlich: „Herr Santa Cruz, das war ein wirklich schöner Nachmittag mit Ihnen. Hat mir Spaß gemacht! Übrigens, ich besitze ein sehr gepflegtes, 6 km langes Privatgewässer. Außer mir und ab und an einem Geschäftsfreund darf dort niemand fischen. Ich möchte Sie im Mai ganz herzlich einladen, mal mit mir zusammen ein paar große Forellen, Saiblinge oder Äschen zu fangen. Haben Sie Lust dazu?“ Na und ob! Eine größere Freude hätte man JP nicht machen können! Selten befischte Flüsse haben natürlich die besten Fischbestände....
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Der Tag hatte mit der Person Joseph Malinger für eine Überraschung gesorgt. Der Abend setzte diesen Trend fort. JP kam gegen 20:00 Uhr nach Hause und wollte sich soeben mit der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Fliegenfischen“ in ein heißes Schaumbad legen, als es an seiner Tür klingelte. JP erwartete niemanden, öffnete aber dennoch unbedarft seine Wohnungstür. Da stand sie, die lange Zeit verschollene, eifersüchtige und schmollende noch vielleicht Ex- oder „Doch-noch“-Freundin Tina Huber. Tina wollte JP seinen Seitensprung mit Felicitas verzeihen und erbat Einlass. Sehnsucht! Versöhnung! Fortsetzung! JP hätte keinen Cent auf die erfolgreiche Fortführung seiner Beziehung zu Tina gewettet. Aber er wollte nun gerne einen weiteren Versuch starten. Dennoch wäre er nicht bereit gewesen, zukünftig absolute Treue zu schwören. Zum Glück forderte Tina dies nicht von ihm. Es kam einfach nicht zur Sprache. JP hatte schon einige Zeit nicht mehr so guten Sex gehabt wie in dieser Nacht! Tina war ausgehungert, JP war ausgehungert und zusammen genossen sie ein wahrliches Festmenü der Erotik. Die ansonsten romantische Veranlagung von JP für die richtige Stimmung mit Kerzenlicht, Schmusemusik, Gläschen Rotwein etc. kamen diesmal nicht zur Anwendung! Und JP vermisste gar nichts. Wilder, unbeherrschter Sex war der Auftakt zur einer süßen, späteren Versöhnung.
Sex war ein guter Leim für den Riss in der Beziehungsschale. JP und Tina! Wieder ein Paar!
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Kitsch! Das war wohl die beste Bezeichnung für diese Familien-Urlaubsidylle auf der kleinen Malediven Insel im Ari Atoll. Während sich JP in München vergnügte, spielten zwei hübsche, braun gebrannte Mädchen vor den Augen ihrer Eltern im lauwarmen und kristallklaren Wasser und erfreuten sich an den kleinen Muscheln und bunten Fischen. Franz Korber war glücklich! Es war wunderbar mit seiner Familie und er war durchdrungen von tiefer Liebe zu seiner Frau und zu seinen beiden Töchtern. Das Leben könnte so herrlich sein! Aber vergangene Taten ließen sich nicht einfach ungeschehen machen und Franz Korber war sich dessen, auch in diesem Moment, sehr wohl bewusst. Er hatte fest beschlossen, nicht mehr so weiterzumachen wie bisher und daran konnte auch das derzeitige Familienglück nichts ändern. Franz würde sich nicht mehr zu Handlungen zwingen lassen, die er innerlich zutiefst verabscheute. Aber Franz wusste auch, dass er den Kampf und Widerstand gegen seine verborgen gehaltene Sexualität auf Dauer verlieren würde. Aber zumindest, was seinen Arbeitgeber betraf, wollte er wieder erhobenen Hauptes in den Spiegel schauen können. Dafür war Franz bereit, alle Konsequenzen seiner Taten zu tragen.
Um seine Familie zumindest finanziell abzusichern, wollte er sein eigenes Ableben arrangieren. Es musste allerdings wie ein tragischer Unfall aussehen, damit die Lebensversicherung die Prämie an seine Frau bezahlen würde. An und für sich war dieser Familienurlaub eine Art Abschied von seiner Familie, aber auch dazu da, um die genauen Details seines Ablebens zu planen. Aber diesen Teil hatte Franz noch nicht in Angriff genommen. Er hatte Angst davor, das Projekt seines eigenen Todes konsequent zu durchdenken und er hatte Angst vor sich selbst und seiner finalen Konsequenz. Wenn die Details erst einmal bei ihm im Kopf feststanden, dann würde er sie konsequent durchziehen und sich keine Chance mehr geben, vielleicht doch noch die Reißleine zu ziehen. Nein, für derartige Gedanken war noch genug Zeit auf dem langen Rückflug. Nun gab es nur Platz für seine Töchter und seine Frau!
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Auch ein anderer Mann beschäftigte sich etwa zur gleichen Zeit mit Franz Korber. Wenn auch nur gedanklich. Es war der professionelle Söldner Victor Ivan Kurostzov. Victor hatte den Auftrag, den IT-Leiter der Malinger GmbH & Co. KG in Dänemark ausfindig zu machen und genauestens zu überwachen. „Ungeschickt beobachten und gehörig Einschüchtern“, so lautete dieser Auftrag.
Das Problem war nur: Das Objekt war nicht auffindbar! Victor Ivan hatte rein gar nichts von seinem Auftraggeber bekommen, das den Aufenthaltsort des Objektes auch nur ein bisschen eingegrenzt hätte. Er wusste nur: „Irgendwo in Dänemark.“ Unverfängliche Fragen in der Nachbarschaft halfen nicht weiter. Niemand hatte auch nur den blassesten Schimmer, wo die Familie Korber ihren Urlaub verbringen könnte. Mehr, als „irgendwo in Dänemark“ war nicht in Erfahrung zu bringen. So war Victor Ivan in seiner Not mit dem Auto nach Dänemark gereist und hatte die vergangenen Tage Urlaubsorte am Meer und die jeweiligen Tourismusinformationen mit einer fadenscheinigen Story, die seine Suche nach der deutschen Familie Korber erklären sollte, abgeklappert.
Aber wer in drei Teufelsnamen fuhr schon um diese Jahreszeit nach Dänemark! Es war kalt, es regnete und es war trostlos. Noch nicht richtig Frühjahr, auch nicht mehr Winter, so irgendwie dazwischen. Victor Ivan fuhr nun seit fast einer Woche hunderte Kilometer an der Küste entlang und übernachtete jede Nacht in einer anderen billigen Absteige. Mittlerweile hasste Victor Ivan diesen Job, er hasste das kalte, regennasse Wetter, er hasste dieses Land und die Sprache und er erschrak jeden Abend erneut vor der abgrundtiefen Leere in seiner Seele! Victor Ivan hasste sich selbst und sah nur einen Ausweg, diese unendliche Leere jeden Abend mit Hochprozentigem aufzufüllen. Aber Schnaps war kein billiges Vergnügen im Lande Dänemark, wie Victor Ivan frustriert feststellte. Das alles zu eigenen Lasten, denn er arbeitete wie immer mit einer Pauschale, ohne Spesen und ohne Kostenvergütung. In diesem Fall hatte er seine Pauschale viel zu niedrig angesetzt, wie er nun wusste. Und wenn Victor Ivan bei diesem Job womöglich finanziell drauflegen musste, dann hörte jeglicher Spaß für ihn auf! Er war Profi und ganz sicher kein Samariter oder Idealist.
Und so baute sich eine unglaubliche Wutwelle auf. Eine Wut, konzentriert auf eine einzelne Person: Franz Korber!