Montag, 3. Mai 2010, Krankenhaus H Schwabing, 7:15 Uhr,
„Guten Morgen, mein Name ist Korbinian Holzner, Hauptkommissar Kripo München. Wie fühlen Sie sich heute, Herr Santa Cruz? Ich habe ein paar Fragen. Können wir uns unterhalten?“ Aha – Bulle ist zurück. Vor JP stand ein kräftiger Mann mit einem riesigen Schnurrbart. JP war wie elektrisiert. Er dachte an die Prophezeiung in der Münchner U-Bahn zum neuen Jahr: „Vertraue dem dicklichen Mann mit dem riesigen Schnurrbart.“
„Sie sind Frühaufsteher, Herr Hauptkommissar. Bitte, nehmen Sie Platz. Ich hoffe Sie verzeihen, wenn ich noch etwas liegen bleibe.“ „Ha, ha – Sie haben schon wieder Humor! Das ist gut! Haben Sie was dagegen wenn ich mein Aufnahmegerät anschalte, ich kann meine eigene Klaue so schlecht lesen.“ „Warum ein Rekorder? Ist das ein Verhör?“ „Ach was! Ein ganz normales Gespräch. Wir versuchen einfach Licht ins Dunkel zu bringen und befragen nun alle Zeugen und, äh, Beteiligten.“ Ein peinliches berührtes Grinsen huschte über Herrn Holzners Gesicht. „Oder vielleicht sollte ich in ihrem Falle besser ‚Opfer‘ sagen. Ich war gestern schon bei ihren Kollegen, aber bei Ihnen waren immer so viele Leute im Raum. Da wollte ich nicht stören. Hatte ja Zeit bis heute.“ „Ok, wie geht es meinen Kollegen? Wir sind ja nicht alle im Schwabinger Krankenhaus. Nach Grosshadern hat man wohl auch ein paar gebracht. Wie ist die Lage?“ „Bevor wir anfangen, Herr Cruz“, „Santa Cruz, bitte....„ „Oh Entschuldigung, Herr Santa Cruz. Ich bin es nicht gewohnt, mit fremdländischen Namen zu handtieren. Slawische, türkische, rumänische Namen ab und an... spanische sind für mich ungewohnt.“ „Argentinisch“. „Oh, ich dachte, sie sind Amerikaner.“ „Ja, vom Pass her schon. Fühl‘ mich aber eher als Deutsch-Italiener.“ „Und was ist mit dem Argentinier?“ „Mein Vater ist gebürtiger Amerikaner, seine halbe Familie ist aus Argentinien“. „Verwirrend, verwirrend. Also gut, darf ich der Vollständigkeit halber Ihre Personalien abgleichen, fürs Protokoll?“ Das dauerte dann bis kurz vor 8:00 Uhr und Herr Holzner war nahe an der Grenze zur Überforderung. Capacity overload. Man konnte die Error-Zeichen förmlich auf seinen Augen sehen. „Sie sind also Amerikaner. Vater Amerikaner, Diplomat, zur Zeit in Buenos Aires, Mutter Hausfrau, was war das nun – Deutsche oder Italienerin? Wohnhaft, wo war das noch mal? Zur Zeit noch in Madrid, aber demnächst in Mexiko City, zwei Schwestern, Zwillinge, eine studiert in Wien, die andere dieses Semester in Mailand, ansonsten London. Sie sind seit knapp zwei Jahren in München, Römerstraße 21, beschäftigt bei der Malinger Autoteile GmbH & Co. KG seit September 2008 – als? Wie heißt das noch mal? Abteilungsleiter Data Systems?“
„Ja, meine Mutter ist Deutsche und ja, ich bin für den Bereich Data Systems verantwortlich.“ „Ok, keine Ahnung was das ist. Sie sind für die IT im Hause Malinger zuständig?“ „Nein, nur für einen Teil und für das deutsche Rechenzentrum. Hauptsächlich die dezentralen Systeme. Herr Holzner, ich will ja nicht unhöflich sein, aber Sie sind seit gut 40 Minuten hier und haben mir noch keine einzige Frage zu den Geschehnissen vom Freitag gestellt. Frau Dr. Gruber kommt wahrscheinlich bald zur Visite und ich würde ganz gerne vorher zur Sache kommen.“ „Entschuldigung, ich bin einfachere Familienstrukturen gewohnt. Ich kann meine Verwandtschaft an zwei Händen abzählen und wir wohnen fast alle im selben Ort, die meisten sogar in der gleichen Straße. Aber sie haben recht: Was ist passiert? Bitte erzählen Sie frei heraus.“ „Zuerst will ich wissen, wie es meinen Kollegen geht. Ich will wissen, wer gestorben ist und wer und wie schwer verletzt ist – und was ihre Vermutungen über die Explosionsursache sind.“ „Herr Santa Cruz, ich kann ihnen ein paar Fakten zu den Kollegen nennen, aber über den Stand der Ermittlungen kann und werde ich Sie nicht informieren, das ist vertraulich! Es wurden bei dieser Explosion sechs Personen verletzt, zum Teil schwer. Vier kamen dabei zu Tode. Die Explosion fand am Freitag den 30. April um 8:16 Uhr in einem Nebengebäude, dem sogenannten IT-Container, auf dem Werksgelände der Firma Malinger in der Knorrstraße 104-128 statt. Es ist ein Feuer ausgebrochen, das mit Hilfe der Feuerwehr und einiger engagierter Mitarbeiter wie Ihnen und der Sprinkleranlage, zumindest im Büroberiech, erfolgreich bis 13:00 Uhr gelöscht werden konnte. Noch ist unklar, ob es ein Betriebsunfall war oder ein – wie soll ich sagen – bewusster Akt der Zerstörung durch Dritte.“ „Wer sind die toten Kollegen, wer die Verletzten?“ „Zu den Todesopfern gehören: Herr Sebastian Meyer, ein Kollege aus ihrer Abteilung, Herr Franz Korber, wohl ihr Chef, Herr Adnan Androwitsch, ein LKW Fahrer und Frau Anna Gokugolu, Putzfrau. Im Schwabinger Krankenhaus, zum Teil auf ihrer Station, liegen die leichteren Verletzten, diese Personen können allesamt noch diese Woche nach Hause. Also: Herr Herbert Huber aus Ihrer IT-Abteilung, Herr Ulrich Sommer, Werkzeugbau, Frau Annette Lahm, Lohnbuchhaltung und Fräulein Bianca Cortini, Praktikantin. Im Klinikum Großhadern und noch auf der „Intensiv“ liegt ihr Abteilungskollege Johannes Gerngross. Gerngross ist noch nicht ganz über den Berg.... Die Trauerfeiern für alle vier Todesopfer finden diesen Mittwoch statt, die Beisetzungen auf unterschiedlichen Friedhöfen.“
Das war niederschmetternd! Von Sebastian Meyer wusste JP schon, ihn hatte er auf der Bahre am Freitag aufgrund seiner Körpergröße und der Turnschuhe erkannt – sein guter Buddy vom Badminton. Der Superwitze-Erzähler! Die beiden anderen kannte er nicht. Die Putzfrau hatte er wahrscheinlich schon oft gesehen, sie war ihm aber nicht in Erinnerung geblieben. Den Lkw-Fahrer hatte er sicherlich auch schon mal auf dem Hof gesehen, hatte aber keinerlei Bild dazu im Kopf. Die Gedanken schossen wie wild durch seinen Kopf: Franz Korber, das war hart – ihm hatte er am Freitag noch die Krätze an den Hals gewünscht, wollte ihn auf ewig im Knast sehen – unter entsetzlichen Qualen leidend. Ihn hatte er als einen der Hauptverantwortlichen an der ganzen Sache im Visier. Er war eines der Schweine, die maßgeblich hinter all dem Schlamassel steckten! Aber diesen Mistkerlen hatte er eigentlich keinen schnellen und keinen einfachen Tod gewünscht. Korber & Komplizen wollte er der Justiz und der Presse ausliefern und zusehen, wie sie von den Medien zerfetzt und langsam geschlachtet würden. Aus, vorbei! JP erging sich in Gedanken: „Franz – Du Saukerl – hast Glück gehabt. Aber diese Nummer war ohnehin zu groß für dich! Hast Du von der Explosion gewusst? Warum bist Du selbst dabei draufgegangen? Es gibt noch andere Beteiligte, das ist klar! Und den Drahtzieher hinter Allem, den krieg ich noch! Das Schlachtfest für die Presse ist aufgeschoben, nicht aufgehoben! Ich mach‘ das für Sebastian, der war mein Freund, die Putzfrau und den Brummi-Fahrer!“
Es war still geworden im Raum, schon Minuten lang. JP war zutiefst erschüttert, bis ins Mark! Er überlegte fieberhaft. Hauptkommissar Holzner wartete aufmerksam gespannt, aber geduldig. Er sah in Santa Cruz´ Gesicht, dass dieser Konflikte mit sich ausfocht und hin und her überlegte – sehr cleverer Bursche – schoss es Holzner durch den Kopf.... Was weißt Du, Junge?
Nach ewig langen Minuten des Schweigens konnte Hauptkommissar Holzner nicht mehr an sich halten und machte den ersten Schritt: „Jetzt sind Sie dran, Herr Santa Cruz.“ Endlich kamen sie zur Sache! Unter anderen Umständen wäre JP nicht so vorgegangen, hätte sich seine Optionen und Trümpfe reichlich durchdacht – sich überlegt, ein bisschen „Kohle für sich rauszuholen“ und ein bisschen an der „Optimierungsschraube für sich zu drehen“. Aber diese Sache ging ihm wirklich nahe! Tote und Schwerverletzte – das konnte man nicht durchgehen lassen! Die Bullen sollten das klären, nicht er selber. Dieses Drama musste enden! Sofort! Mit seiner Mithilfe! Sein Gewissen bezüglich seiner möglichen Mitschuld wollte beruhigt werden. „Ok, hören Sie, Herr Holzner, ich habe der Polizei Einiges und sehr Interessantes zu berichten. Es geht um Wirtschaftskriminalität im großen Stil. Nicht alles kann ich beweisen, einiges durchaus. Etliches kann man vielleicht mit Hilfe von entsprechenden Spezialisten noch rekonstruieren, auch nach dieser Explosion. Diese Sache hier ist heiß und richtig, richtig groß! Ich werde ihnen helfen, die Schuldigen zu stellen, um sie hinter Gitter zu bringen! Ich habe Zugang zu sehr vielen Informationen bei Malinger und allen ausländischen Tochterunternehmen. Ich verlange aber Folgendes, vorher sage ich gar nichts mehr:
- Ich möchte über Ihre eigenen Recherchen und Erkenntnisse im Detail informiert werden und ich will aktiv an den Ermittlungen teilhaben.
- Ich will, dass ein Profi-Team aus dem Bereich Wirtschaftskriminalität und entsprechende IT-Spezialisten hinzugezogen werden.
- Ich will meine privaten Computer hier am Krankenbett mit einer DSL-Verbindung nach draußen.
- Ich will eine schriftliche Garantie, dass es keine arbeits- oder zivilrechtlichen Folgen seitens Malinger oder deren Tochterunternehmen gegen mich gibt, wenn ich eventuell betriebsinterne Informationen an die Behörden aushändige, um diesen Fall zu lösen.
- Ich brauche zwei Personen meines Vertrauens zur Datenanalyse und -beschaffung. Diese Personen sind Spezialisten, werden aber ihre Identität auf keinen Fall offenlegen und werden nicht vor Gericht aussagen. Diese Personen arbeiten nach Tagessätzen, die über ein von mir benanntes Unternehmen im Ausland fakturiert werden. Der Tagessatz pro Person ist 2.000,- Euro. Zusätzlich wird ein einmaliges Erfolgshonorar von 100.000,- Euro nach Überführung der Übeltäter fällig.
- Ich will, dass die Leiche von Franz Korber obduziert wird. Mir ist die Todesursache nicht klar.
- Solange ich hier im Krankenhaus liege, will ich Tag und Nacht eine Bewachung vor meiner Türe. Ich bin wahrscheinlich in Gefahr. Dieser Anschlag galt den Daten im Rechenzentrum und vielleicht auch mir als Person.
Herr Holzner, bitte lassen Sie die Jalousien runter. Ich will mein Hirn lieber in meinem Kopf und nicht an der Wand verspritzt.“
Holzner wurde leichenblass. Dieser Tag hatte früh begonnen für Korbinian Holzner. Er war heute morgen schon um halb sieben Uhr im Sinne des „Sammlers & Jägers“ losgezogen, um ein paar Informationen zu sammeln und hinterherzujagen und war dabei wohl versehentlich auf eine Gold-, nein vielleicht kriminalistische Diamant-Ader, zumindest auf ein paar große Trüffel gestoßen! Ja, ja, früher Vogel fängt den Wurm!
Korbinian Holzner konnte über keine einzige dieser sieben Forderungen des Jungen entscheiden, aber irgendjemand in seinem Ministerium würde das alles sofort veranlassen. In Anbetracht dieses möglichen Knallers war er sich dessen ganz sicher! Mensch, war er froh, das Aufnahmegerät eingeschaltet zu haben. Das hätte ihm sonst keiner geglaubt und gemerkt hätte er sich diese Punkte vielleicht auch nicht so schnell. Diese Sache klang nach der ganz großen Kriminalstory, das spürte er im Urin! Das passierte vielleicht jedem tausendsten Kripobeamten maximal einmal im Leben. Der Jackpot des Ermittlers sozusagen.
Und da wollte Korbinian an vorderster Front mitmischen, auch wenn das ganz sicher nicht seine bisherige Kragenweite und ganz weit außerhalb seiner derzeitigen Kompetenzen lag. Aber, man wächst ja mit seinen Aufgaben. Jedenfalls – von diesem goldenen Futternapf würde er sich nicht wegstoßen lassen! Das klang nach Ermittlungsarbeit auf höchstem Niveau. Jetzt musste er nur seinen Chef, Dr. Manfred Koller, davon überzeugen, dass er, Korbinian, gerne die aufwendige Schnüffelarbeit und Berichtsarbeit übernehmen und ihm, Manfred Koller, dafür die Lorbeeren im Ministerium und in der Öffentlichkeit überlassen würde. Deshalb beeilte er sich, in sein Auto zu kommen und Manfred anzurufen. Er war sehr aufgeregt. „Manfred – ja, ich bin’s, Korbinian. Hör zu, in der Malinger Sache – ich hab‘ da was! Nein, nicht am Telefon! Du bist noch zu Hause? Allein? Gut, ich komme sofort und direkt bei Dir vorbei, in einer halben Stunde bin ich da. Wir müssen reden – vertraulich und ungestört. Gut, bis gleich bei Dir!“
Die zwei Insassen in dem grauen, am Rand der Straße parkenden, unscheinbaren Lieferwagens sahen sich interessiert an. Warum sie diesen Bullen überwachen und sein Handy abhören sollten, das wussten sie nicht. Legal war das ohnehin nicht. Aber das war sowieso nicht ihr Problem. Diese Auflagen galten inoffiziell nicht für ihre Behörde. Dass diese Stimme sehr aufgeregt klang, das hätte selbst jeder taube Frischling sofort erkannt. Der Bulle hatte irgendwas entdeckt, was immer es war, es mussten Entscheidungen zwecks weiterer Personenüberwachung und Maßnamen getroffen werden.