2. März 2010, Cebit Hannover

 

Nichts bleibt, wie es einmal war! Auch die Cebit nicht. Die Luft war irgendwie raus aus der weltgrößten Computermesse. JP war schon um 10:20 Uhr auf dem Bahnhof Messe Laatzen angekommen und gleich zur Zimmervermittlung geeilt. Noch vor zwei bis drei Jahren wäre es undenkbar gewesen, direkt vor Ort noch irgendeine Unterkunft zu finden. Zur Cebit war früher alles bereits Monate im Voraus ausgebucht. Dieses Jahr kein Problem! Sogar ein richtiges Hotelzimmer konnte er bekommen und nicht irgendein Privatquartier. Gar nicht mal weit weg vom Messegelände und sogar zu einem vernünftigen Preis. Sicherlich, erhöhter Messepreis, aber da hatte JP bei anderen Messen schon sehr viel mehr hinblättern müssen. Er hatte sich den Hallenplan auf sein neues iPhone geladen und schon einen recht vollen Terminplan für die nächsten beiden Tage. In Halle zwei waren die ersten Termine von 11:00 bis 14:00 Uhr. Allesamt beim IBM-Stand.

Irgendwelche sensationellen Lösungen eines neu zugekauften Software-Unternehmens. Bereich: Datamasking. Diese Software war dafür gedacht, um echte Daten für Testumgebungen einzusetzen – aber eben maskiert, d. h. nicht erkennbar. Das wäre schon interessant, speziell für die diversen Entwicklungszellen, die rund um den Globus für die Malinger GmbH & Co. KG tätig waren. Technologisch wohl ein sehr ausgereiftes Produkt, aber auch sehr teuer. Als Software für den internen Datenabgleich zur Verbesserung der allgemeinen Datenqualität hatte er auch ein IBM-Produkt im Auge. Die Qualität von IBM überzeugte und die Stabilität der Firma war auch von Bedeutung. Der Preis war hoch, aber das machte sich schnell wieder bezahlt.

Bei den IBM Hardware-Jogis wollte er auch vorbeischauen – ein paar neue „P-Series Kisten“ standen für den nächsten Monat auf seinem Wunschzettel. Außerdem war es schon fast Tradition, am IBM-Informix-Stand vorbeizuschauen. Die Informix-Datenbank, 2001 von der IBM gekauft, war seiner Meinung nach die absolut beste Datenbank weltweit. Dennoch aber irgendwie das „bestgehütete Geheimnis“ innerhalb der IBM. Häufig wussten nicht einmal die eigenen IBM-Leute und Verkäufer um die sensationelle Qualität dieser Datenbank. Die Informix User Group war eine verschworene Gemeinschaft – man kannte, schätzte und half sich, wann immer man sich brauchte. Die privat initiierte Homepage www.informix-zone.com war einfach sensationell und immer hilfreich.

Am Informix-Stand waren die Herren Köstel und Kalu. Die beiden waren sehr gute TechSales bzw. Consultant Mitarbeiter. Man kannte sich gut und schätzte sich. Kalu war der maßgebliche Herausgeber des monatlich erscheinenden Informix Newsletters, den JP regelmäßig studierte und der ihm schon bei so vielen Problemen geholfen hatte. Beide Männer hatten JP immer exzellent und fachkundig beraten.

Um 14:00 Uhr war der Termin mit Mr. Jones, einem „Guru“ für Produktions-Steuerungs-Software. Dafür hatte er eine volle Stunde eingeplant. Den Jungen wollte er nicht vom Haken lassen, bis er mit einem Patch oder Work-Around das akute Problem bei Malinger beheben würde.

Die Consulting-Kollegen von dem beauftragten Systemintegrator fraßen der Malinger GmbH & Co. KG förmlich die Haare vom Kopf. Und JP hatte es einfach satt, immer diese Ausreden zu hören und seine Projektpläne danach überarbeiten zu müssen. Jetzt reichte es! Außerdem wollte er den großen Besprechungsraum endlich mal wieder mit anderen Personen belegt sehen. Diese „Consulting-Fuzzis“ wohnten ja schon beinahe in der Firma Malinger und kriegten dennoch nix „z´rissen“, wie die Bayern so gerne umgangssprachlich sagten.

Am Nachmittag war dann nichts Spektakuläres geplant. Ein paar Auffrischungstermine bei alten Kumpels, zum Teil bei netten Verkäufern von kleineren Lieferanten, das gehörte einfach dazu. Soziale Netzwerke sind immer wichtig. Die Branche ist recht klein und übersichtlich, nur wenn man sich persönlich kennt und in Kontakt bleibt, kommt man an die echten Rosinen. Außerdem war er auf der Suche nach einer passablen Cebit-Party für den Abend. Früher war da immer was los, sowohl in den Messehallen als auch außerhalb.

Leider wurden die Partys von Jahr zu Jahr rarer und lahmer. Die Zugangskontrollen wurden schärfer, die Häppchen und Getränke weniger und abgezählter. Jeder musste sparen, gerade jetzt. Die große Rezession des vergangenen Jahres saß noch allen tief in den Knochen. Und die Girls schienen auch immer weniger zu werden! Irgendetwas lief schief in der IT-Branche – fast keine und schon gar nicht „richtig scharfe Sahneschnittchen“ waren mehr dort beschäftigt. Entweder waren die Mädels so blitzgescheit, steif und humorlos, dass jedes Anbaggern für ein kurzes Cebit-Abenteuer sinnlos und reine Zeitverschwendung war.

Oder die riesige Konkurrenz der restlichen „Jäger“ war so präsent, dass man nicht zum Zug kam. Bei den „Uninteressanten“ war JPs hormoneller Notstand einfach nicht groß genug – die möglichen Komplikationen standen dann nicht im Verhältnis zum möglichen Lustgewinn. Jagen an sich machte schon großen Spaß! Aber erstens nur dann, wenn man sich nicht allzu sehr anstrengen musste und zweitens die Belohnung ins Beuteschema passte.

„Davide? Shalom!“ JP war so in seine Gedanken versunken, dass er richtig erschrak und auf seinen selten gehörten Vornamen Davide fast nicht reagiert hätte. Das war „Familia del Marito“, die machten mit den Vornamen, was immer sie wollten. Im jüdischen Familienteil väterlicherseits war JP immer Davide gewesen. „Mensch, Mischa Freudenthaler! Schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht es Dir, altes Haus? Wie geht’s Rachel und den Jungs? Sind sie auch mit dabei bei der Cebit? Wusste nicht, dass Du da bist, wo wohnst Du?“ „Davide, ich bin nur tagsüber hier; konnte es mit einem Termin in Berlin kombinieren und fahre dann runter nach Tschechien. Danke, Rachel und den Jungs geht’s gut, sie sind alle in Tel Aviv. Wir haben schon Frühling. Da kann das kalte Deutschland um diese Jahreszeit nicht mithalten. Gut siehst Du aus! München scheint Dir zu bekommen, hast du Zeit für einen Kaffee? Die bei der IBM haben reichlich davon.“ „Mischa, Mischa....immer noch der gleiche Schnorrer! Ja klar, komm, 20 Minuten gehen sich schon aus! Erzähl, was gibt’s Neues?“ „Davide, Du weißt – a Jud zahlt nur, wenn er unbedingt muss – und dann am liebsten in Raten...!“ Beide Männer lachten herzhaft und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Mischa Freundthaler war einer seiner Lieblingscousins zweiten oder dritten Grades.

So richtig wusste JP gar nicht, wie die Verwandtschaftsverknüpfungen waren, aber die jüdische Linie seines Vaters spielte da hinein. Die beiden Männer waren nur zwei Jahre auseinander – JP war der Jüngere – und hatten sich schon als Kinder gut verstanden. Mischa hatte zwei Jungs, acht und zehn Jahre und eine außerordentlich hübsche, witzige und intelligente Frau, Rachel, Tochter russischer Einwanderer, aber geboren in Haifa. Mischa besaß ein Softwarehaus mit über 30 Mitarbeitern und war spezialisiert auf SAP-Anpassungen und „Customized Programs“ – was immer das war. Er beschäftigte sensationelle Computer-Freaks and hatte auch schon mehrmals kleine, feine Programme für die Lucky Eagle Ltd . mitgeschrieben. Er hatte immer sehr verlässlich und günstig geliefert. Unter Verwandten machte man schon mal einen Freundschaftspreis. Die beiden Männer hatten sich schon fast ein Jahr nicht mehr gesehen und führten ein angeregtes, privates Gespräch. Bis Mischa einen ernsten Gesichtsausdruck aufsetzte und meinte. „Davide, Du arbeitest doch für die Firma Malinger? Gefällt´s dir? Gute Firma?“ „Ja, große Klasse, bin erst kürzlich befördert worden, bin jetzt Abteilungsleiter. Ich mag meinen Job, die Kollegen und die Bezahlung sind auch prima. Warum fragst Du?“

„Gratuliere zur Beförderung! Nach Berlin, morgen, fahre ich runter in die Tschechei, südlich von Prag, ihr habt doch dort auch ein Werk?“ „Nein, Mischa. Wir haben zwei Produktionen in Polen, ein Werk in Schottland und zwei Fertigungen in Spanien. Italien ist eventuell für nächstes Jahr in Planung. Aber Tschechische Republik: No, sorry ...“

„Hör mal, ich habe meinen Termin in Tschechien mit einem eurer Manager, Dr. Soundso. Die Tschechen wollen von meiner Firma, sagen wir mal, „sehr spezielle Programmierungen“. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich den Job wirklich will. Die Firma heißt irgendwie kompliziert – ich schicke Dir die Koordinaten per Mail.“

„Meinst Du Dr. Bucher? Hey, ich weiß von nix! Mit mir bespricht man Derartiges nicht. Was will der Doktor? “ „Kann ich Dir noch nicht sagen. Den Namen weiß ich im Moment auch nicht. Aber ich hätte dich ohnehin angerufen und ein bisschen ausgehorcht ... Was ist euer Geschäftsführer denn für einer?“ „Wir haben vier Mitglieder in der Geschäftsleitung – für Admin/IT, für Produktion/Entwicklung, für Personalwesen und einen Gesamtverantwortlichen. Hinzu kommt noch der Chef der Finanzen, aber der arbeitet für die Malinger Holding und sitzt in Schottland. Oben drüber steht Malinger Senior. Aber falls Du Dr. Bucher meinst, der ist ein eiskalter Hund. Ich kenne ihn aber nicht gut, bin auf der Leiter zu weit unten ... Uns Mitarbeiter quetscht er jedenfalls aus wie eine Zitrone.“

„Ein Menschenfreund kommt nicht so schnell und so weit nach oben, Davide. Geht der alte Malinger demnächst in Pension? Hat dann der Dr. Bucher das alleinige Sagen?“„Ich weiß das auch nicht so genau, wie gesagt, bin nicht nah genug dran. Aber ich denke schon, ... der alte Malinger geht wohl im Sommer in den Ruhestand. Keine Ahnung, wie er seine Nachfolge geregelt hat. Soweit mir bekannt ist, ist keines seiner Kinder in der deutschen Geschäftsleitung.

Du, pass auf, wenn du mit Deiner Firma nicht kannst oder willst, dann bring doch bitte unseren Cousin Mosche Heiligenschein ins Spiel, der kann vielleicht mit einer seiner Firmen was drehen.“ „Davide, ich weiß sehr wohl, dass DU und Mosche die Eigentümer von “Lucky Eagle Ltd .“ seid, ich bin ja nicht blöd ... Mischa trank einen Schluck Kaffee und dachte kurz nach. „Also gut Davide, ich bring‘ Euch da rein, wenn die Sache sauber ist. Aber meine Verdauung ist seit einer Woche schlecht und das ist immer ein sicheres Zeichen, dass irgendetwas nicht stimmt ... Ich schaue mir die Sache übermorgen kritisch an. Dann melde ich mich bei Dir! Ich muss jetzt weiter – grüß deine Goldstück-Schwestern und deine Mama. Deinen Papa sehe ich ja bald beim Pasachfest in Haifa. Kommst Du auch?“

Ups, das war's mit dem großen Geheimnis um Lucky Eagle Ltd . Mischa wusste genau Bescheid. „Mischa, ich bin doch nur Vierteljude, wenn überhaupt. Religiöses ist gar nicht so meins, das weißt Du doch, ein andermal gerne!“ „Mein Haus steht Dir immer offen, mein Lieber! Israel ist ein schönes Land! Auch wenn man dort wohl nicht Fliegenfischen kann.“ „Genau! Du sagst es! Kein Land ist ein schönes Land, wenn man dort nicht Fliegenfischen kann. Machs gut, küss‘ Deine hübsche Frau in meinem Auftrag! Mit ihr bist Du zu beneiden!“ „Wohl wahr! Irgendwann wirst auch Du fündig! Du musst es nur erkennen, diese Frau dann festhalten und das ganze Vermehrungsprogramm konsequent durchziehen.“

„Ja, ja, schon gut – noch ist aber Jagdzeit! See you, mein Lieber! Ach Mischa, sag dem Doktor von Malinger nicht, dass wir verwandt sind und uns kennen!“ „Warum duzen Sie mich, wer sind Sie?“ Mit einem Zwinkern machte Mischa die Geste des Reißverschlusses quer über seine Lippen. „Shalom und gib schön Acht auf Dich, mein Lieber!“

Shalom heißt „Frieden“. Aber den hatte JP, zumindest im Inneren, soeben verloren. Was war das für eine Geschichte? Mischa trifft sich ausgerechnet mit jemandem aus der Geschäftsleitung von Malinger? Ein Werk in Tschechien, das es bisher nicht gab, „spezielle Programmierungen“, von denen JP nichts wusste und zufälligerweise wurde er kürzlich unerwartet befördert und überdimensioniert mit Kohle überschüttet.

War das wirklich alles Zufall? Diese Cebit hatte sich allemal gelohnt!

Da würde JP doch mal ein bisschen schnüffeln müssen.

Ohne Skrupel
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