24. März 2010, Paris & München, kurz vor 24:00 Uhr
Felicitas kommt aus dem Lateinischen und steht für „das Glück, die Seligkeit“. Felicitas ist der Name einer römischen Gottheit und zweier christlicher Märtyrerinnen. Felicitas ist auch der Name einer schönen Frau, bei der all dies im Moment ganz und gar nicht zutraf. Felicitas war todunglücklich, sehr traurig und weit weg von jeglicher Seligkeit.
Felicitas Meribeaux hatte mal wieder furchtbaren Streit mit ihrem Ehemann François. Streit gab es häufig in der letzten Zeit, aber dieses Mal kam es einem Erdrutsch und einer Schlammlawine gleich. Zuerst ging es nur um ein bisschen Kindererziehung, dann um unterschiedliche Interessen bei der Freizeitgestaltung, danach um verschiedene politische Ansichten und plötzlich kippte die Stimmung und sackte tief ab, ins Persönliche. Eine böse Anschuldigung folgte der nächsten und steigerte sich ins Unsachliche und wirklich Gemeine.
Die beiden Kinder waren zum Glück über Nacht bei Felicitas` Mutter, sie hatten wohl die häufigen Streitereien der Eheleute in letzter Zeit bemerkt und suchten möglicherweise bewusst Zuflucht bei Oma und Opa, wenn ihr Vater mal ausnahmsweise während der Woche zu Hause war. François hatte vor einer Stunde wutentbrannt die wunderschöne und riesige Stadtwohnung verlassen und war entweder ins Hotel oder in eines seiner Häuser außerhalb der Stadt geflüchtet. Es war Felicitas einfach nur egal. Sie war nun allein zu Hause und weinte, zum Teil aus Selbstmitleid, zum Teil aus Wut, Verletztheit und Verzagtheit. Wie sollte es nur weitergehen, mit ihr und François?
Der Streit heute war viel persönlicher und unfairer als die bisherigen gewesen und sie war sich im Moment nicht sicher, ob diese Kluft jemals noch reparierbar und überbrückbar sein würde. François war sehr erfolgreich in seinem Beruf und einer der reichsten Industriellen Frankreichs. Felicitas war wirtschaftlich nicht von ihm abhängig, da sie als Redakteurin einer erfolgreichen Modezeitschrift ebenfalls sehr gut verdiente und auch von Hause aus sehr vermögend war. Felicitas war 35 Jahre, fühlte sich aber im Moment weit in den 70ern. Sie war eine sehr dynamische und energische Person, die durch ihre quirlige und fröhliche Art die anderen Menschen mitriss. Aber im Moment fühlte sie sich leer, ausgebrannt und kraftlos, wie jemand, der das Leben bereits gelebt hatte. Als ihr Strom aus Tränen endlich zu versiegen begann, hatte Felicitas den tiefen Wunsch mit jemandem ganz ehrlich und freundschaftlich zu reden. Ihre zwei besten Freundinnen waren nicht die Richtigen dafür. Sie fanden immer, Felicitas müsste jeden Tag auf Knien rutschen und dankbar sein, einen so tollen, gut aussehenden und dermaßen reichen Mann wie François zu haben. Die dummen Puten sahen nur das viele Geld und den großen Luxus ihres Lebens, aber sie sahen einfach nicht die große Leere und Einsamkeit in ihrem Herzen. Die anderen Freunde kannten alle François sehr gut, die meisten machten Geschäfte mit ihm, damit waren sie eindeutig einseitig in ihrer Meinung und Loyalität. Ihre Eltern kamen ganz und gar nicht infrage, die waren beide alt und gebrechlich und konnten mit Problemen dieser Art einfach nicht mehr umgehen.
Da fiel ihr jemand ein, den sie schon einige Monate nicht mehr gesprochen hatte, der ihr immer ein hervorragender Freund war und vor allen Dingen ihren Gatten François weder kannte noch irgendwelche wirtschaftlichen Interessen ihm gegenüber hegte. Sie nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte eine deutsche Nummer. Es war die Nummer von Jean-Paul Davide Santa Cruz, zur Zeit wohnhaft in München. „Hallo Cherie.“, sagte sie, als sie seine Stimme am anderen Ende der Leitung hörte. „Ich glaub‘s ja nicht! Felicitas! Ist alles in Ordnung bei Dir?“, plapperte er gut gelaunt in fließendem Französisch in seinen Telefonhörer.
Anstatt zu sprechen, konnte Felicitas nur einen tiefen Seufzer ausstoßen und schon sprudelten wieder die Tränen in Strömen! Sie hatte direkt Weinkrämpfe und brauchte einige Zeit um sich zu fangen. JP war weitestgehend still und ließ sie gewähren. Er machte es sich auf seiner Couch bequem und schenkte sich einen großen Schluck rauchigen Bowmore, Single Malt, Scotch Whisky von Islay ein, zog sich seine Kuscheldecke bis ans Kinn und richtete sich auf ein sehr langes Telefonat ein. JP war gerade dabei gewesen, seine gesammelten Malinger-Daten zu analysieren und ging soeben den Kauf der beiden polnischen Firmen vor dreieinhalb und zwei Jahren durch.
Stattliche Kaufsummen von 32 Millionen US-Dollar in 2006/2007 und 87,5 Millionen Euro im Jahr 2008 gingen dabei über den Tisch. Eigenartigerweise war jedes Mal der Verkäufer die russische Firma Moskow Invest , die „eigenartiger Weise“ nun wieder Eigentümer des tschechischen Unternehmens Motohmoty s.r.o war, das im Moment wohl laut Cousin Mischa möglicherweise auf der Wunsch-Akquise-Liste von Malinger Autoteile GmbH & Co. KG stand. „Ja Himmel!! Fällt denn dem alten Malinger dabei nichts auf!! Sein Schwiegersohn bedient sich in seinem Laden, wie es ihm gefällt und der Alte kriegt nichts mit!“ schimpfte JP laut vor sich hin. „Und anscheinend wird der Appetit immer größer, der Preissprung vom ersten Kauf zum Zweiten war doch ganz schön knackig und wer weiß, wie sehr sie diesmal zulangen wollten.“ Brummte er soeben und gerade als JP sich so richtig hineinsteigern und weiterwühlen wollte, rief Felicitas an. Freunde gehen vor! Ob es gerade passt oder nicht. Felicitas ging eigentlich Allem vor!
„Feli“, wie er sie immer gerne nannte, bedurfte im Moment unbedingt seiner Zuwendung. Ihr ging es wirklich schlecht! Sie hatte immer mal Stress mit ihrem Mann gehabt, aber das schien sich jedes Mal zu steigern. Diesmal war es wohl der Supergau gewesen. Feli war so eine derart tolle Frau und sie tat JP unendlich leid! JP fand, sie hätte etwas viel Besseres als gerade diesen Mistkerl verdient. Er war zwar unglaublich reich, aber sonst stimmte es schon lange nicht mehr zwischen den beiden. Wäre dem nicht so gewesen, dann hätten Felicitas und JP sich nicht vor fünfeinhalb Jahren in Verbier beim Skifahren kennen und lieben gelernt.
Er war damals noch Student als Wirtschaftsinformatiker und einer seiner Cousins hatte ihm seine Ferienwohnung in Verbier für eine Woche kostenlos überlassen. Ein Wahnsinns-Skigebiet, mit derart vielen exzellenten Skifahrern, dass nicht einmal ein Skigott wie JP groß auffiel. Er war nur einer der vielen Götter im Skifahrer-Olymp von Verbier. Er ging an seinem ersten Abend in eine Pizzeria, weil er sich nicht viel mehr als eine Pizza leisten konnte. Die Schweiz war teuer, speziell für einen Studenten mit kleinem Budget und dieses kleine Budget musste schließlich für eine Woche reichen.
Sein Cousin Peter, der älteste Sohn seiner Tante Romana und Besitzer der Ferienwohnung in Verbier, ansonsten Wissenschaftler in einem Genfer Institut, hatte ihm diese Pizzeria empfohlen. „Ganz tolle Pizza und sehr günstig – ist immer voll – aber irgendwie bekommt man immer einen Sitzplatz – auch wenn man vielleicht mal ein bisschen warten muss.“ Das Lokal war tatsächlich rappelvoll und so setzte ihn der Kellner an einen Tisch mit fünf anderen Personen. Es stellte sich heraus, dass sich keiner an diesem Tisch vorher kannte. Es waren tatsächlich fünf unterschiedliche Nationalitäten – zwei Italiener, ein Franzose, ein Spanier, ein Schweizer und ein Amerikaner, die versuchten, sich halbwegs miteinander zu verständigen, zu unterhalten und zu beeindrucken. JP hatte das Glück, in allen Sprachen fließend sprechen zu können und half bei den Übersetzungen, wenn mal die eine oder andere Vokabel in der benötigten Sprache gerade nicht einfallen wollte. Sechs wildfremde, gut gelaunte, etwa gleichalte junge Menschen in einem äußerst legeren Lokal mit Papiertischdecke und billigem Rotwein – die beste Voraussetzung für einen netten Abend. Und genau das wurde es auch! Ein ganz besonders netter Abend! Man alberte herum, erzählte sich alle möglichen Anekdoten, bestellte eine Karaffe Rotwein nach der anderen und irgendwann war ihr Tisch der letzte noch besetzte im Lokal und sicherlich der bei Weitem lauteste und betrunkenste.
Die Zeche war dann doch so hoch, dass JP und der Spanier nicht mehr ihren vollen Anteil bezahlen konnten, da sie nicht genug Geld oder eine Kreditkarte dabei hatten. Da sprang die quirlige Französin wie selbstverständlich ein und übernahm die Differenz. Man verabredete sich für den nächsten Morgen mutigerweise um 9:00 Uhr zum gemeinsamen Skifahren und jeder zog bestens gelaunt seiner Wege. 9:00 Uhr war dann doch sehr sportlich und es fanden sich nur zwei Personen am Lift ein: JP und Felicitas.
Die anderen hatten entweder verschlafen oder nicht mehr genug Geld für die Tageskarte. Wie auch immer, JP und Feli hatten einen bombastischen Tag! Die Sonne schien, der Schnee war fantastisch und die Pisten leer. JP fühlte sich wie im Himmel, Felicitas fühlte sich wie im Himmel und es kam, wie es kommen musste. Abendessen in der Pizzeria fiel aus und fand in JPs Ferienwohnung statt.
Als Vorspeise gab es JP auf Felicitas, als Hauptgericht Felicitas auf JP und als Dessert JP an Felicitas. Sie hatten die ganze Nacht leidenschaftlichen Sex und leerten so nebenbei einige der Weinflaschen von Cousin Peter. JP wusste, dass er diese teuren Flaschen nicht würde ersetzen können, aber es war ihm einfach nur egal! Er schwebte im Moment auf Wolke 7 und ein möglicher Orkan der Empörung von Cousin Peter tangierte ihn im Augenblick ganz und gar nicht.
Es wurde eine ganz wunderbare Woche für JP und Felicitas. Und das erste Mal in seinem Leben hatte JP sich so richtig verliebt. Felicitas raubte ihm fast den Verstand! Aber sie hatten die ganze Woche ihres Glückrausches niemals über ihr „normales“ Leben gesprochen. JP wusste nur, dass sie in Paris lebte und sie wusste nur, dass er Student war und ein bisschen knapp bei Kasse. Sie war es definitiv nicht und so sprang sie schon mal ein, wenn sie bemerkte, dass er sich im Lokal nicht zu bestellen traute, worauf er Lust hatte, sondern stattdessen bestellte, was er sich leisten konnte.
Je näher das Ende der Woche kam, umso banger wurde JP ums Herz. Er wollte und musste sie einfach wiedersehen! Der letzte Abend wurde ganz schlimm, auch für Felicitas! Er hatte sich sanft erkundigt, wie es mit ihnen beiden weitergehen sollte. Felicitas hatte ihm unter Tränen gestanden, dass sie verheiratet war und zwei Kinder in Paris hatte. Auch sie hatte sich in ihn verliebt und wohl die schönste Woche ihres Lebens mit ihm zusammen verbracht. JP hätte ihr an diesem Abend sein gesamtes Leben geschenkt und hätte kein Problem gehabt, mit ihr zusammen ihre Kinder großzuziehen. Aber sie wollte nicht. Sie wollte ihr Leben nicht aufgeben, nicht für ihn.
Es traf JP unglaublich hart!
Er war über Monate am Boden zerstört und wollte sich in der Zeit keiner anderen Frau auch nur nähern. Sogar über Selbstmord hatte er damals nachgedacht. Er hatte dann, viel später, viele Affären, aber eben nur Affären. Erst vor zweieinhalb Jahren in New York hätte er beinahe wieder diesen „Fehler“ gemacht und war drauf und dran sich in eine Frau bis über beide Ohren zu verlieben.
Diese Beziehung hatte damals keine Chance und im Moment lagen nicht nur die vielen Kilometer Entfernung zwischen ihnen, sondern auch die Gefängnismauern eines amerikanischen Hochsicherheitsgefängnisses.
Von Felicitas hielt sich JP für lange Zeit fern. Der Schmerz war zu groß. Auch für sie! Sie litt genauso wie er. Erst nach über einem Jahr meldete sie sich wieder bei ihm – unvorbereiteterweise, wie auch jetzt. Seitdem hatten sie sich ein- bis zweimal im Jahr getroffen, je nachdem, wie sie oder er es einrichten konnten. Es hing vor allem von Felis ehelicher Situation ab, so wie in Verbier war es jedoch niemals wieder.
Weder JP noch Felicitas konnten und wollten diese unglaubliche Nähe von Verbier nochmals zulassen – er wäre nicht mehr von ihr losgekommen. Und sie war augenscheinlich nach wie vor nicht bereit, ihr Leben für ihn aufzugeben. Aber sie waren wirklich gute Freunde geworden, die gelegentlich miteinander schliefen und gute Laune teilten. Es wurde dabei kaum über „Privates“ gesprochen und JP wusste nichts Wichtiges aus ihrem Leben und sie nichts Wichtiges aus seinem. Keinerlei Ansprüche an den jeweils Anderen! Es ging gut. Nur Gegenwart – keine Zukunft. Dieses Telefonat war anders. Diesmal erzählte ihm Felicitas sehr viel Privates. In den über fünf Jahren, die sie sich bereits kannten, hatte er nicht annähernd so viel erfahren. Er war sich nicht sicher, ob er das alles wirklich hören wollte, aber es ging im Moment nicht darum, was er wollte.
Es ging in diesem Gespräch nur und ausschließlich um Feli und sie musste unbedingt mit irgendjemandem reden und ihr schweres Herz ausschütten. JP war ihr Freund, ihr wirklich guter Freund. Das Telefonat ging nun schon über drei Stunden und JP sehnte sich nach Schlaf, da hatte er eine Idee: „Feli, mein Liebes“, sagte er, „Du musst raus aus der Stadt. Du brauchst Abstand und du musst dein Herz wieder reinigen. Warum fährst du nicht ein paar Tage in die Berge zum Skifahren. Du kennst meinen Spruch: Man geht mit schwerem Herzen auf den Berg und kommt mit leichtem Herzen zurück. Man muss mit einer höheren Perspektive auf seine Sorgen schauen und dann geht alles viel leichter.“
„Oh Jean-Paul, das ist eine großartige Idee! Kannst Du mitkommen? Bitte! Bitte! Ich lade Dich ein! Willst Du nach St. Moritz? Das ist für Dich nicht so weit und das liegt so hoch, da haben wir auch jetzt noch wirklich guten Schnee und viel Sonne. Bitte, bitte, sag JA! Biiitte!“ „Feli, willst Du nicht lieber alleine sein für Deine Reinigungskur?“ „Nein, Jean-Paul, ich will diese Kur sehr gerne mit Dir machen! Du bist mein einziger Freund, dem ich vertraue und der mir wirklich helfen kann, wieder zu mir zu finden.“ „Feli, ich würde gerne, aber ... Ach weißt Du was, ich werde heute in der Firma versuchen, am Freitag und am Montag Urlaub zu bekommen. Dann komme ich zumindest für ein langes Wochenende nach St. Moritz und dann hast Du vielleicht anschließend noch ein paar Tage für Dich alleine und kannst nachdenken, was Du wirklich willst. Was hältst Du davon?“ „Es wäre wunderbar Jean-Paul! Einfach wunderbar! Schicke mir bitte gleich eine SMS, ob Du frei bekommst, ich kümmere mich dann um unser Quartier! Ich würde mich soooo freuen!“ „Gut mein Liebes, so machen wir das. Und jetzt muss ich leider ins Bett, sonst schlafe ich morgen im Office ein und dann bekomme ich sicher nicht die zwei Tage frei.“ „Oh Himmel, es ist schon 3:17 Uhr – na klar – gute Nacht Cherie! Ich danke Dir für Deine Freundschaft und Geduld beim Zuhören. Es hat so gut getan mit Dir zu reden! Schlaf gut und ich hoffe, es klappt! Je t´aime, Jean-Paul!“
Der Schlusssatz saß und bohrte sich wie ein wunderbarer Stachel mitten in JPs Herz! Alle Hoffnungen waren wieder da! JP, Feli und ihre Kinder – Familie – Liebe – Harmonie...
Nach 3:00 Uhr morgens ist die Zeit zum Träumen.