Ende Februar, 40 km südlich von Prag
Er beobachtete ihn seit Tagen! Das Objekt war ein Mann der festen Gewohnheiten. Ein leicht zu durchschauender, hemdsärmeliger Handwerker-Typ. Er hatte es weit gebracht: vom Werkzeugbauer zum Werksleiter und Mitbesitzer eines 430-Mann-Unternehmens. Branche: Autozulieferer, Name: Fiodr Youl, 58 Jahre, verheiratet, zwei Kinder. Auftragszweck: Termination durch Unfall Er war die Zielperson! Der neue Auftrag von Victor Ivan Kurostzov. Victor Ivan war noch unentschlossen, wie der „Unfall“ vonstatten gehen sollte. Klare Anweisung für diesen Job: keine Zeugen, keine nachfolgende Untersuchung, keine zusätzlichen Opfer. Ein eindeutiger Unfall ohne nachweisbares Fremdverschulden. Victor Ivan kroch die Kälte in die Knochen. Er hatte diesen Winter so satt. Er sollte jetzt eigentlich im Urlaub in der Sonne sein.
Dieser Fiodr hatte ihn um seinen geplanten Urlaub gebracht. Jetzt saß er hier in diesem Kaff und fror sich den Arsch ab. Und der Kerl war einfach nie allein. Er hatte so etwas wie einen Bodyguard, welcher aber keine Herausforderung im Nahkampf für Victor Ivan bedeutete. Der Kerl war zu fett, zu langsam und höchstwahrscheinlich schwerer Alkoholiker. Das schloss er aus der roten Nase und dem aufgedunsenen Gesicht, dem glasigen Blick. Aber es sollte keine weiteren Opfer geben. Nur das „Unfallopfer“. Also wartete Victor Ivan seit Tagen auf seine Chance, wie eine Spinne im Netz. Er hatte schon eine Serie von „Unfällen“ gedanklich durchgespielt – Autounfall mit Explosion, von der Fahrbahn abdrängen, eine Steilwand hinunterstoßen, Betriebsunfall mit Stromschlag usw. Aber der Kerl war einfach nie alleine. Er war nun schon zweimal nachts in Prag gewesen, um sich ein bisschen Zerstreuung zu verschaffen, – Huren kamen während eines Auftrages aus Prinzip nicht infrage – aber es war nicht viel los in Prag.
Es war Ende Februar und bitterkalt. Alle priesen Prag als wunderschöne Stadt, aber Victor hatte kein Auge dafür. Er zermarterte sich den Kopf, wie er diesen Unfall inszenieren könnte, und kam einfach noch nicht auf die Lösung. Und so endete der Abend meist an einem einsamen Tresen in einer einsamen Bar mit einem einsamen Rausch. Aber heute am Mittwoch, der Tag in der Mitte der Woche, da wollte er es irgendwie zu Ende bringen. Warum gerade heute? Na, WEIL! Mehr fiel ihm dazu nicht ein! Aber WEIL war ein guter, triftiger Grund. So gut wie jeder andere. Kurz und effektiv, genau, wie Victor Ivan es mochte.
Es war nach 19:15 Uhr und natürlich schon dunkel. Der ganze Winter war dunkel – und bitterkalt. Victor Ivan saß in der Ecke der Dorfkneipe, in der er sich auch einquartiert hatte und die nur fünf Geh-Minuten von der Villa des Zielobjektes entfernt lag. Man musste nur über die Brücke eines kleinen Baches gehen und schon war man da. Die Einbrecher-Nummer mit „unbekanntem Dieb, der vom Eigentümer versehentlich überrascht wurde dabei versehentlich den Eigentümer erschießt“, ging Victor soeben durch den Kopf und er verwarf den Gedanken gleich wieder, als die Türe sich öffnete und Fiodr Youl die Gaststätte betrat. Dieses Mal tatsächlich alleine!
Das Wort „WEIL“ umspielte Victor Ivans Lippen wie ein Mantra. Er verstand kein Tschechisch, aber an den Gebärden und dem Gelächter des Barkeepers reimte er sich zusammen, dass der Bodyguard wohl zu tief in die Wodka Flasche geguckt hatte. Fiodr setzte sich an die andere Seite des Gastraumes und bestellte Essen und eine Flasche Rotwein. Er sprach nicht viel und schien irgendwie verärgert. Nach dem Essen kamen noch ein paar Wodkas hinzu und dann noch eine Flasche vom Roten. Victor täuschte einen Verdauungsspaziergang vor und stellte sich draußen in eine dunkle Ecke. Jetzt hatte er einen Plan. Die Wegstrecke zur Villa war sehr kurz, aber auch sehr schlecht beleuchtet. Die Straßen waren menschenleer, sehr glatt und vereist. Schnee wurde hier im Dorf nicht geräumt, sondern nur von den Fahrzeugen platt gefahren. Er fror!
Um 22:15 Uhr wankte Fiodr Youl aus der Kneipe und schlitterte in Richtung Brücke. Victor Ivan löste sich aus seiner dunklen Ecke und steuerte bedächtig auf den betrunkenen Fiodr zu. Kurz vor der Brücke versetze er ihm mit einem gefrorenen Stück Holz einen Schlag auf den Hinterkopf. Fiodr sackte sofort zusammen und Victor Ivan tat so, als ob er in stützen wollte. Sorgfältig blickte sich Victor Ivan dabei um, um eventuelle Zeugen auszumachen. Nichts. Er war allein. Auf der kleinen Brücke kippte Victor Ivan den kraftlosen Körper von Fiodr gekonnt über die Brüstung. Das Bachbett war stockdunkel und gefroren. Er hörte das Eis durch den Aufprall des Körpers brechen und wandte seine Schritte unmittelbar in Richtung Kneipe. Fiodr Youl war Geschichte.
Victor Ivan ging direkt ins Gasthaus und checkte sofort aus, setzte sich in sein Auto und brauste in Richtung deutsche Grenze. Er würde irgendwo zwischendrin übernachten, aber erst auf deutschem Boden. Morgen würde er die „Erledigt“-SMS schicken, 20.000,- Euro abholen, Olga aufsuchen, die Nummer vom letzten Mal wiederholen und dann zum Flughafen fahren und einen Last-Minute-Flug in die Wärme buchen.
Aber das Leben verlief nicht immer linear und nicht immer nach Plan! Auch nicht für einen Victor Ivan Kurostzov.
***
JP traute kaum seinen Augen: Der vermeintliche Programmierfehler, den der Praktikant Anton Hirma entdeckt hatte, war gar keiner! Es war pure Absicht! Irgendjemand hatte ein Daten-Moduler installiert, ein kleines, völlig unspektakuläres, aber effizientes Softwareprogramm, das ganz bewusst Mengen nach unten verfälschte. Produktionsmengen wurden automatisch um 3 bis 8 % reduziert, d. h. geringer in den IT-Systemen geführt, als sie tatsächlich vorhanden waren. Das lief folgendermaßen: Die Fertigung produzierte eine Menge von z. B. 100 Innenspiegeln und erfasste diese Werte im zentralen Computersystem. Hier, direkt an der Datenquelle, wurde der Daten-Moduler aktiv und verbuchte von nun an nur noch z. B. 92 Innenspiel für Lager und Verkauf. Irgendwann erfolgte die Korrektur der ursprünglichen Eingabebestände und das gesamte Unternehmen meinte, nur jemals 92 Spiegel produziert zu haben. Eine andere Zahl war gar nicht mehr ermittelbar.
Der Abgleich der Rohmaterialien für die Produktion hätte Differenzen und Abweichungen beim Materialverbrauch aufweisen können. Aber auch diese Rohmaterialbestände wurden ständig manipuliert, sodass höchstens ein etwas größerer Ausschuss und Produktionsverlust hätte festgestellt werden können. Clever! Echt Clever! Wahrscheinlich ging das schon seit Jahren so!
Ha! Plagiatehandel – von wegen! Kein Wunder, dass diese Produkte von „Rookie“ sogar chemisch identisch mit den Malinger Produkten waren! Es WAREN Original-Malinger-Produkte! Im großen Stil geklaute Originalprodukte und auf dunklen Kanälen unter anderem Namen günstig verkauft! Klar günstig – bei Produktionskosten von NULL Euro konnte man jeden Preis unterbieten. JP blieb förmlich die Spucke weg! Das war nur aufgefallen, weil ein Praktikant gründlich gearbeitet hatte und nur möglich, weil noch sehr viele Produktionssysteme nicht miteinander vernetzt waren. Je vernetzter die einzelnen Systeme waren, umso schwieriger wurde eine derartige Manipulation – obwohl: Es kam eigentlich nur darauf an, an welcher Stelle der Daten-Moduler eingebaut wurde. Je näher an der Eingabequelle, desto schwerer war der Betrug zu entdecken.
Aber dennoch, je moderner die Fertigung wurde, umso schwieriger wurde ein derartiger Betrug. Vielleicht war der Diebstahl der Unterlagen aus der Werkstoffentwicklung eine Art „Plan B“ – entweder um von dem Diebstahl in der Malinger Fertigung abzulenken oder schon für den Fall, dass man ein Konkurrenzwerk in einem Billiglohnland aufbauen müsste, weil bei Malinger, mit den neuen SAP-Anbindungen, die Schlupflöcher geschlossen bzw. enger wurden. Aber was sollte JP mit diesem Wissen anfangen?!
Eines war klar, dieser große Betrug konnte nur funktionieren, wenn jemand ganz oben die Fäden zog. Definitiv hatte Franz Korber etwas damit zu tun! Wer sonst könnte den Daten-Moduler installieren und immer wieder justieren? Franz` Beteiligung war für einen IT-Profi leicht ermittelbar – eine gute IT protokollierte schließlich ALLES, jeden Zugriff und jede Datenveränderung incl. Uhrzeit und Datum. Diese Daten vollständig zu löschen war nicht so einfach und der entsprechende Profi würde sie immer wieder rekonstruieren können. Aber Franz war nicht genug materiell orientiert.
Er musste einen oder mehrere sehr mächtige Drahtzieher bei Malinger haben. Vielleicht war er nur eine Marionette in diesem Spiel ums große Geld. JP musste sehr vorsichtig sein! Es ging hier um viel Geld – womöglich zweistellige Millionenbeträge, und da hörte einfach jeglicher Spaß auf! Äußerste Vorsicht war geboten! Hier kamen gleich ein paar schwere Strafdelikte zusammen: Diebstahl, Betrug, Steuerhinterziehung, vielleicht Bilanzfälschung und wer weiß was sonst noch alles. Jemand, der die Chuzpe hatte, ein derartiges Ding innerhalb der Firma und vor den Augen der gesamten Mannschaft und über Jahre hinweg durchzuziehen, der hatte definitiv Gefriermittel in den Adern.
Und so jemand würde auch sicherlich unliebsame Zeugen beseitigen lassen! Außerdem wusste JP noch nicht, was er mit den Informationen anfangen wollte. Er war nicht unbedingt darauf aus, die Sache an die Polizei zu melden. Im Prinzip war auch er einem guten Geschäft und ein paar extra Euros nie abgeneigt. Vielleicht sollte er sich ein Stückchen von diesem Kuchen abschneiden. Aber er hatte noch nicht den gesamten Überblick. Er musste noch viele Beweise sammeln: Art der Malinger Produkte, Stückzahlen und Lieferadressen etc. Erst wenn er den vollen Umfang kannte, konnte er für sich Entscheidungen treffen. Dafür war es noch viel zu früh! Deshalb würde er die nächsten Monate verdeckt recherchieren und Fakten sammeln.
JP hätte sich liebend gerne mit jemandem über diese delikate Angelegenheit unterhalten. Dr. Drager, seine Personalchefin, fiel ihm ein. Sie war die einzige Person aus der Geschäftsleitung, die er ein wenig zu kennen glaubte. Ja, glaubte! Kannte er sie eigentlich? Die Angelegenheit mit Dominique Faibré hatte sie unter den Tisch gekehrt und keinerlei weitere Diskussion zu dem Thema zugelassen. Dominique war nicht mehr in der Firma beschäftigt, mehr wusste JP dazu nicht. Irgendwie hatte er seitdem das Gefühl, dass Dr. Drager ihm aus dem Weg ginge. Sie war sehr intelligent und wohl auch sehr vermögend. Wohnung, Auto, Lebensstil etc.: Wie sollte er sicherstellen, dass nicht sie die Drahtzieherin hinter diesem Betrug war? Vielleicht war die Betriebsspionage-Sache ihr persönliches Ablenkungsmanöver? Vielleicht wollte sie jemand anderen decken? Vielleicht würde sie JP ans Messer liefern? JP war entbehrlich. Nein, mit ihr konnte er nicht offen reden! Das konnte lebensgefährlich sein.
Vielleicht mit Herrn Malinger Senior? Aber dieser steckte sogar vielleicht selbst dahinter? Vielleicht war dies ein bewusstes Verkaufen der eigenen Produkte unter anderem Branding. Das kam häufig vor: Die Discounter hatten auch Markenartikel, die dort günstiger unter anderem Namen verkauft wurden. Wer war schon gegen Schwarzgeld immun? Vielleicht gehörte diese Import/Export Handelsfirma „Rookie“ – mit Firmensitz in Monaco – soweit hatte JP schon recherchiert - auch dem alten Malinger. Wie konnte er das wissen? Er musste einfach tiefer graben, sich Klarheit verschaffen! Davor würde er gar nichts unternehmen!