Ende Januar 2010
Der Malinger Autoteile GmbH & Co. KG ging es wirtschaftlich wieder langsam besser. Die allgemeine wirtschaftliche Lage in Europa hatte sich verbessert, damit hatte die Auftragslage angezogen und die Vorausschau für die erste Jahreshälfte war vielversprechend. Das Management verlegte sich wieder von Krisenmanagement in Richtung „Business as Usual“ und die Mitarbeiter wurden wieder etwas entspannter und weniger verkrampft.
Die IT-Abteilung der Malinger-Zentrale ertrank förmlich in Arbeit, da plötzlich wieder reichlich Budget für Neuanschaffungen zur Verfügung standen, jeder Bereich seine Projekte aus der kürzlich durchlebten Krise angesammelt hatte und nun mit Priorität I erledigt sehen wollte. Alles war wichtig, aber jeder meinte, sein Projekt sei das bei Weitem wichtigste. Franz Korber, als Chef der IT-Abteilung für den gesamten Konzern verantwortlich, sprintete nur noch von einem Termin zum nächsten und hatte keine Zeit für abteilungsinterne Belange. Ein 16-Stunden-Tag war mittlerweile ganz normal für Franz und selbst der reichte meist nicht aus. Viele Dinge, die bisher nur er erledigen konnte, landeten mangels seiner Präsenz letztendlich auf dem Tisch von JP. Somit war JP, trotz seiner Jugend und ohne sein bewusstes Zutun oder seinen Wunsch, automatisch zur Nummer 2 in der IT-Abteilung geworden. Sein Arbeitspensum war gewaltig und die Komplexität der Anfragen sehr herausfordernd. Aber JP fühlte sich wohl mit seinen Aufgaben. Er war gut strukturiert und wurde allgemein von allen Abteilungsleitern sehr geachtet.
Sein Ventil für den Stress waren seine Wochenenden, wo er sehr häufig zum Skifahren nach Kitzbühel oder ins Zillertal fuhr. Dennoch: Irgendwie war er auf Entzug – das Fliegenfischen fehlte ihm unglaublich! Aber im Winter war das ohnehin nur eingeschränkt möglich. Die meisten seiner Zielfische wie Forellen, Äschen oder Saiblinge hatten Schonzeit und die Flüsse waren zum Teil zugefroren und die Ufer vereist.
„Verbesserung der Datenqualität“ innerhalb der Firma und „Anbindung der manuellen Produktionssteuerung der alten Produktionsstraßen an SAP“, das waren JPs hauptsächliche Projekte. „Datenqualität“: Das klang so derart banal, dass sich niemand, der nicht in diesem Bereich tätig war, auch nur annähernd vorstellen konnte, wie unglaublich aufwendig und komplex dieses Thema in der Umsetzung war.
Das Unternehmen Malinger Autoteile war über drei Generationen gewachsen. Von einem Einmannbetrieb zum Unternehmen mit über 4.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von über 923 Millionen Euro pro Jahr. Firmen wurden zugekauft, Abteilungen ständig erweitert und umstrukturiert, Management und Mitarbeiter kamen und gingen. Die Folge waren Hunderte, zum Teil komplett isolierte Datensilos mit unstrukturierten und sehr häufig nicht kompatiblen Daten, Datendoubletten und jeder Menge Datenmüll. Keiner hatte so richtig den Durchblick und dennoch funktionierte es irgendwie immer wieder. Auch wenn man sich häufig fragte, WIE das denn sein konnte.
Die IT-Abteilung sorgte bisher lediglich dafür, dass die IT irgendwie lief. Welche Daten, Qualität, Aktualität, Inhalt oder Duplikate, wurde nicht weiter betrachtet. Wenn der Speicherplatz nicht mehr reichte, wurden eben entsprechend neue Maschinen angeschafft. Dies war aber keine Lösung! Zusätzlich entstanden durch die vielen Terabytes und das Datenchaos enorme Kosten! Das Management beschwerte sich zu Recht, dass viele ihrer Entscheidungen aufgrund völlig falscher Informationen getroffen wurden und letztendlich extrem hohe Ausgaben verursachten. Ganz klar: „Garbage in – Garbage out“ (Müll rein, Müll raus). Wie sollte es sonst sein! Selbstdenken konnten all die Computer natürlich nicht. JP hatte ein Konzept zur Verbesserung der Datenqualität im Herbst ausgearbeitet und die Überzeugungsarbeit dafür geleistet. Nun war ein 500.000,- Euro Budget vorhanden und er durfte an die Umsetzung gehen – seine Idee, sein Baby! Allein die Sondierung der diversen Software-Angebote von IBM, SAP und Oracle, um nur ein paar der großen Anbieter zu nennen, war ein unendlicher Dschungel. Hinzu kamen noch die diversen Systemintegratoren, Dienstleiter und IT-Fachhändler, die alle ihre Hilfe und Kenntnisse anboten und sich um einen Auftrag bemühten. Jeder Hersteller gab an, das beste Produkt mit dem besten Ergebnis in der kürzesten Zeit umsetzen zu können.
Nur in einem waren sich alle Anbieter ähnlich: Jede Software war unglaublich komplex und leistungsfähig und ebenso unglaublich teuer! Das vorhandene Budget von immerhin 500.000,- Euro war im Grunde nur ein Tröpfchen auf dem heißen Stein und würde nur für einen kleinen Softwareanteil, ohne entsprechende und definitiv notwendige Dienstleistung, reichen. Aber: Nur Softwarelizenzen kaufen, ohne eine fachkundige Integration und Implementierung, machte absolut keinen Sinn. Dieses Geld wäre glatt rausgeschmissen!
Deshalb wollte sich JP für die Umsetzung der ersten Projektphase, als Pilot sozusagen, allein auf einen Teil innerhalb der Maschinensteuerung und Fertigung begrenzen. Das passte auch gut zu dem Anbindungsprojekt an die SAP-Software und würde in der Kombination eine wesentlich größere Wirkung erzielen, als marginale Verbesserungen in Vertrieb, Marketing, Buchhaltung etc. Im Laufe der kommenden Jahre konnten dann andere Abteilungen sukzessive nachziehen und damit ein Multimillionen-Projekt über mehrere Jahre folgen. Fokussierung statt Streuung erschien ihm sehr viel sinnvoller.
Trotz der vielen Arbeit gönnte es sich JP gelegentlich, sozusagen als Entspannung, mit seinem „Spider-Überwachungsprogramm“ zu spielen, das er für den Betriebsspionagefall um Hausmeister Tozzi anschaffen durfte. Er überwachte mittlerweile nicht mehr die Werkstoffentwicklung, sondern nutzte seine Software unerlaubter und unprofessionellerweise z. B. um hübsche Kolleginnen ein bisschen auszuspionieren. Private E-Mails und Chats waren gerne das Ziel seiner heimlichen Beobachtungen und so wusste er meist schnell, welche hübsche Kollegin Single und auf der Suche oder fest liiert war. Eines seiner Beobachtungsopfer war Dr. Drager, die als Frau durchaus JPs Interesse geweckt hatte. Es war erstaunlich, wie sie mittlerweile ihre Client-Version der Spyware, natürlich auch unerlaubter und absolut unprofessionellerweise, einsetzte, um den einen oder anderen Kollegen „im Arbeitsverhalten“ illegal zu beobachten. Sie hatte natürlich keine Ahnung, dass JP als Administrator mit der Vollversion sehr viel mehr Nutzerrechte hatte und somit auch sie bei ihren Recherchen ganz genau beobachten konnte. Dr. Drager schien besonders Franz Korber und einige Mitglieder der Geschäftsleitung regelmäßig zu überwachen. Bei Franz Korber war das ein heißes Spiel, er war viel zu gut, als das er dies nicht irgendwann bemerken würde.
In Dr. Dragers Privatleben gab es keine prickelnden Erkenntnisse, private Mails an einen Mann oder einen identifizierbaren Lover waren nicht dabei. JP hatte schon fast den Verdacht, dass Dr. Drager entweder keine Zeit für Privatleben oder irgendwas zu verbergen hatte.
Besonders in der Marketingabteilung hatte JP zwei Kolleginnen auf seinem „Junggesellen-Radar“, die seinen Jagdinstinkt entfacht und durchaus sein privates Interesse geweckt hatten. Mangels Zeit war er noch nicht in die Akquisephase übergegangen, aber dieses Ziel stand ganz konkret für die nächsten Wochen auf seinem Wunschzettel.
Der heutige Tag war mal wieder so einer, den man am liebsten aus seinem Lebenskalender streichen sollte. JP war völlig ausgepowert und müde. Es war bereits weit nach 20:00 Uhr, er war alleine in der Abteilung und wollte eigentlich noch nicht nach Hause gehen.
Julietta wollte später noch unbedingt vorbeikommen und sicherlich wieder über Nacht bei ihm bleiben, aber JP hatte keine Lust. Sie klammerte einfach zu viel und er wollte die Sache mit ihr beenden, hatte es aber noch nicht zustande gebracht. Sie war ja putzig und lieb, aber sie redete wie ein Wasserfall und das Meiste davon nervte JP – nur oberflächlicher Kram über Klamotten, Mode und Tratsch. Klar, sie ist Besitzerin einer sehr hübschen Boutique in Schwabing und ihre reichen Freundinnen haben den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als bei Julietta vorbeizuschauen, einzukaufen und über Gott und die Welt zu lästern. Jedenfalls: Er wollte sich zur Entspannung ein paar E-Mails von Dominique Faibré aus der Marketingabteilung durchlesen. Sie war Französin und innerhalb der Abteilung für Grafik, Design und Produktverpackungen zuständig. JP hatte die Vermutung, dass sie mit jemandem liiert sein musste, aber er war sich nicht sicher. Falls ja, musste es ein reicher Sack sein, wahrscheinlich verheiratet, denn Dominique trug Kleider, Schmuck und fuhr ein Auto, die sie sich nur schwer mit Ihrem Gehalt bei Malinger Autoteile hätte leisten können.
Er las gerne ihre privaten Mails an die französischen Freunde und Verwandten. Sie kam aus der Gegend um Bordeaux und hatte eine sehr erfrischende Schreibweise und vieles kam in Französisch nochmals netter rüber als in Deutsch oder Englisch. Am liebsten las er die Mails an ihre Pariser Freundin Monique und besonders gerne deren Antworten. Monique war auch irgendwie Industrie-Designerin oder so ähnlich. Die beiden Frauen hatten kaum Geheimnisse voreinander und tauschten die intimsten Schweinereien miteinander aus. Besonders Monique war ein heißer Feger und ließ nichts anbrennen auf der frivolen Seite des Pariser Nachtlebens. Einerseits erregte dies durchaus JPs sexuelles Interesse, andererseits hegte er die Befürchtung, vielleicht auch einmal das Objekt einer solchen indiskreten Bewertung zu sein. Außerdem hatte er irgendwie den Verdacht, dass Dominique sich sexuell sowohl zu Männern wie auch zu Frauen hingezogen fühlte. Ihre eher zurückhaltenden Mails waren oft nicht eindeutig. JP bevorzugte eine eindeutige sexuelle Orientierung bei Frauen. Aber er war sich nicht ganz sicher. Besser Bi als Nie.
Dominique produzierte riesige Datenpakete, die sie quer durch die Welt schickte, da sie diverse Gestaltungs-, Verpackungs- oder Designvorschläge an Agenturen mailte und ständig Antworten mit entsprechend großen Anhängen bekam. Das war nun mal ihr Job. Soeben ging wieder eine späte Mail an Monique und JP war neugierig auf ein paar antörnende Zeilen. Leider war es etwas enttäuschend – der Text war kurz und lautete übersetzt: „Sag mir, wie schnell ihr diese Verpackung produzieren könnt und was es pro jeweils 10.000 Einheiten kosten soll. D.“ Dann folgte der Anhang. Der ganze Design-Kram von Industrieverpackungen interessierte JP normalerweise nicht und so hatte er bisher noch niemals ein Attachement geöffnet. Aber dieses Mal klickte er irgendwie automatisch auf „öffnen“ – vielleicht, weil er sich ein paar heiße Fotos erhoffte.
Der Anhang zeigte ein paar der gängigen Malinger Außenspiegel, Lenkräder, Fußmatten und Leichtmetallfelgen in diversen Umverpackungen, bestimmt für den Verkauf über den Autoteile-Fach- und Einzelhandel im Ausland. Es waren Beschriftungen in Französisch, Italienisch, English, Arabisch und sogar in Chinesisch zu erkennen. Plötzlich erstarrte JP! Überall auf der Verpackung prangte der Name „Rookie“. Das Gespräch mit Dr. Drager fiel im schlagartig ein: „... weil sie äußerlich 100 % unseren Originalen entsprechen und nur durch eine andere Verpackung mit der Aufschrift ‚Rookie‘ auffielen.“
Ach du dicker Hund!!! Das Plagiate-Geschäft ging munter weiter und diese Verbrecher besaßen die Unverfrorenheit, die Grafikabteilung von Malinger sogar die Verpackungen für Ihre Raubkopien entwerfen zu lassen. Das war heftig!
Die nächsten Stunden durchforstete JP den Rechner der hübschen Dominique. Nun war klar, wie sie sich Lebensstil, Auto, Klamotten, Urlaube usw. leisten konnte. Sie hatte ein durchaus lukratives Nebeneinkommen. Die Beweise für den „illegalen Nebenjob“ für die Konkurrenz waren erdrückend, das Ergebnis war erschütternd. Hunderte Seiten Entwürfe, Skizzen und Produktionsvorlagen für ‚Rookie‘ Autozubehör.
***
Es war kurz nach Mitternacht. Dr. Elisabeth Drager konnte nicht einschlafen. Ihr ging sehr viel durch ihren hübschen Kopf. Personalchefin über gut 4.000 Menschen zu sein war kein leichter Job! Der beginnende Aufschwung tat der Firma wirklich gut, sie musste nicht mehr über notwendige Entlassungen nachdenken und konnte wieder in Richtung Steigerung von Produktivität, Motivation, Lohn- und Kostenreduktion planen. Aber dennoch plagten sie große Sorgen. Sie hatte nun mehrmals mit der Spy-Software des jungen Santa Cruz gespielt und stieß auf mehr und mehr Ungereimtheiten. Da war was im Busch – sie spürte es förmlich. Es war alles nicht rational erklärbar. Man konnte von einem „siebten Sinn“ sprechen, und genau der war bei Dr. Elisabeth Drager sehr gut ausgeprägt.
Privat war auch einiges im Argen! Eines ihrer gut gehüteten Geheimnisse war die Tatsache, dass sie lesbisch war. Wahrscheinlich war sie das von Geburt an, vielleicht war die Vergewaltigung im Alter von 16 Jahren, durch ihren Cousin Andreas einer der Auslöser dazu – jedenfalls konnte und wollte sie nichts von Männerbeziehungen wissen. Sie hatte furchtbare Angst vor körperlicher Gewalt durch Männer, ekelte sich vor einem behaarten Männerkörper, starkem Männer-Schweißgeruch und vor allem vor dem erigierten Geschlechtsteil. Diese Panik steckte ganz tief in ihr drin und sie kam nicht dagegen an.
In den vergangenen Jahren hatte sie diverse, durchaus langjährige Lebensgemeinschaften mit verschiedenen Frauen. Vor knapp einem Jahr hatte sie mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin gebrochen, weil sie sich entgegen ihrer ansonsten eisernen Prinzipien, in eine Kollegin, eine Ihrer Angestellten, Hals über Kopf verliebt hatte. Es war eine Französin, Dominique, eine Grafik- und Layouterin aus der Marketingabteilung. Dominique hatte sie mit ihrer katzenhaften, verspielten Art unglaublich fasziniert und beinahe in den Liebeswahnsinn getrieben.
Aber Dominique war wankelmütig und ihrer wohl seit einiger Zeit überdrüssig. Elisabeth Drager war 45 Jahre, der Altersunterschied zu Dominique betrug immerhin 14 Jahre und Dominique wollte auch immer Sex mit Männern – am liebsten als flotten Dreier. Aber das ging für Elisabeth Drager einfach gar nicht, nicht bei aller Liebe!
Sie konnte keinen Mann berühren oder gar ihn in sich eindringen lassen. Alleine die Vorstellung davon verursachte ihr großen physischen Schmerz. Die Erinnerungen aus Ihrer Jugend waren nie bewältigt und aufgelöst worden. Deshalb war sich Elisabeth Drager nun gar nicht mehr sicher, ob sie noch mit Dominique zusammen war. Die Französin war schon seit Anfang des Jahres nicht mehr bei ihr gewesen und Elisabeth hatte den starken Verdacht, dass im Moment ein Mann die Aufmerksamkeit und Zärtlichkeiten ihrer süßen Freundin genießen durfte.
Sie hätte es vielleicht verstehen können, wenn z. B. der hübsche Santa Cruz aus der IT-Abteilung das Opfer der körperlichen Begierde Ihrer Freundin gewesen wäre, aber dem war nicht so. Sie verdächtigte viel eher ein Mitglied aus dem Management. Deshalb hatte sie auf den PCs einiger Kollegen herumgestöbert wie eine minderjährige, liebestolle Teenagerin. Beweise für eine Affäre mit Dominique konnte sie jedoch nicht finden, aber Anderes, nicht minder Verwerfliches, fiel ihr dabei zufällig auf.
Natürlich war Dominique äußerst hübsch, jung, genusssüchtig, berechnend und gnadenlos ehrgeizig. Sie hätte es den Männern im Management nicht schwer gemacht, mit ihr eine Affäre anzufangen, sofern sie einen Nutzen daraus hätte ziehen können. Ob dieser Ehrgeiz und die Berechnung wohl auch der Grund für das Verhältnis mit Elisabeth waren?
Wenn dem so war, hatte Dominique bekommen, was sie wollte: Gehaltserhöhung, Beförderung zur Abteilungsleiterin Grafik & Design und eine kleine Gewinnbeteiligung bei der Firma Malinger. Diese Begünstigungen waren unprofessionell, das wusste Dr. Drager wohl, aber sie konnte diesem kleinen Biest einfach nicht widerstehen. Jedenfalls gefiel dieser Gedanke Elisabeth Drager ganz und gar nicht.
Es läutete an der Tür. Das konnte nur Dominique sein. Wer sonst sollte um diese Uhrzeit noch klingeln. Elisabeth wurde unvermittelt aus ihren trüben Gedanken gerissen und betätigte sofort den Türöffner für die Eingangstüre im Erdgeschoss. Ihre Liebe zu Dominique ergriff wieder von ihr Besitz. Dr. Drager bewohnte ein schickes, riesiges Penthouse in der dritten und vierten Etage einer herrschaftlichen Villa im Stadtteil Nymphenburg.
Vorbei waren die Sorgen und überglücklich eilte Elisabeth in die Küche und prüfte, ob noch eine Flasche Champagner im Kühlschrank vorrätig war. Die Eingangstüre zu ihrer Wohnung ließ sie gleich einen Spalt geöffnet.
Als nach ein paar Minuten niemand in die Küche folgte, spähte sie um die Ecke in Richtung Eingangstür. Da stand offensichtlich jemand draußen und hatte einen Stapel Papiere unter dem Arm. Dr. Drager traute ihren Augen nicht. Dort draußen wartete ganz artig und schüchtern, nicht das freche Biest Dominique, sondern der junge Santa Cruz. „Frau Dr. Drager, bitte entschuldigen Sie vielmals meine späte Störung, aber ich muss Sie unbedingt jetzt und privat sprechen!“
Es war ihm sichtlich unangenehm, um diese Uhrzeit vor der Wohnungstür seiner Chefin zu stehen. „Herr Santa Cruz! Ich bin tatsächlich sehr überrascht und bestimmt nicht vorzeigefähig ... aber kommen Sie rein – ich denke, ihre Gründe werden entsprechend schwerwiegend sein! Ich hoffe, Sie sind nicht gekommen, um zu dieser Uhrzeit zu kündigen?“
JP lachte zögerlich. „Nein, nein keine Sorge, Frau Dr. Drager! Es geht gar nicht um mich.“ Dann kam er in die Wohnung, setzte sich artig auf den zugewiesenen Platz auf der Couch und begann zu erzählen:
„Dr. Drager, Sie haben mir im Zusammenhang mit meiner Recherche zu dem Verbrecher ‚La Pulcinella‘ erzählt, dass die Firma Malinger durch die Verkäufe von Plagiaten einer Firma ‚Rookie‘ schwer geschädigt wurde. Ich habe das Firmennetz nach dem Namen ‚Rookie‘ durchforstet, da es mir nicht aus dem Kopf ging, dass Hausmeister Tozzi die alten Zugangscodes zum gesicherten Raum der Werkstoffentwicklung kannte. Das klang nach einem Insider bei Malinger. Ich wurde fündig und dies hier sind die Ergebnisse meiner Suche.“
Dabei legte er einen dicken Stapel Designstudien auf den Tisch von Dr. Drager. Sie wurde kreidebleich! Das Gespräch ging bis 3:08 Uhr morgens. Dr. Drager war fassungslos! Die ausgedruckten Beweise waren entsetzlich für sie und verursachten ein gewaltiges Erdbeben in ihrer Gefühlswelt. Ihre Liebe, ihr Weltbild und ihr Vertrauen in die Menschheit zerfielen in ihre Einzelteile.
JP fand Dr. Drager sehr verschlossen und sah die Panik und den Schrecken in ihren Augen. Er wusste nicht recht, wie er dies deuten sollte. War sie erschrocken, weil er diese Nebenbeschäftigung der Kollegin Dominique entdeckt hatte, weil er mit seiner Software anderen Kollegen nachspionierte, oder gab es ganz andere Gründe für ihr blankes Entsetzen?
Jedenfalls, am nächsten Morgen hatte sich die Kollegin Dominique Faibré krankgemeldet und erschien nicht zur Arbeit. Das erfuhr JP beim Mittagessen in der Kantine von Abteilungskollegen aus dem Marketing. JP hatte den ganzen Tag auf ein Polizeifahrzeug und eine „dramatische“ Festnahme gewartet, aber dem war nicht so. Es ging alles weiter wie gehabt. Gar nichts Außergewöhnliches geschah. Er redete mit niemandem über die Entdeckungen der vergangenen Nacht und versank rasch in der Hektik des Tagesgeschäftes.
Aber das Thema wollte er nochmals mit Dr. Drager klären. Was war da passiert? Warum hatte sie alles unter den Tisch gekehrt?
JP wurde irgendwie misstrauisch ...
***
Verflixt und zugenäht! Was war los in letzter Zeit? Zuerst verpatzte es dieser italienische Trottel und fiel auch noch der Polizei in die Finger, dann entdeckte er plötzlich seine „weiche Seite“ und zeigt Bereitschaft zum Singen und nun erwischten sie auch noch diese französische blöde Kuh, die auf dem Firmenrechner ihre Design-Entwürfe für die ‚Rookie‘-Verpackungen erstellte und vom Firmennetz aus an den Hersteller in Frankreich mailt. Pechsträhne nennt man so etwas. Leider, teure Pechsträhne!
Die Asiaten hätten tatsächlich volle 1,3 Millionen Dollar alleine für die Beschaffung der neuen Werkstoffformeln vor deren Einreichung zum Patent bezahlt. Es war ärgerlich, wenn auch notwendig, den gesamten Plan kurzfristig abändern zu müssen! Die falsche Fährte der Industriespionage war im Prinzip eine gute Idee! Es sollte davon ablenken, dass Original Malinger-Produkte regelmäßig aus der eigenen Fertigung gestohlen und unter anderem Namen vertrieben wurden.
Der Italiener „La Pulcinella“ wurde für diesen Job sehr empfohlen! Und mit den Zugangsdaten zum gesicherten Raum hätte das alles kein Problem sein dürfen. Pech gehabt, „La Pulcinella“, Empfehlungen öffnen zwar die Türe einfacher, verhindern aber nicht das Schließen des Sargdeckels.
Es wurde erledigt, was erledigt werden musste! Das einzige Glück für das Designer-Mädchen war, dass sie wirklich in keinster Weise wusste, für wen sie tatsächlich arbeitete. So konnte man sich wenigstens die Kosten für ihre Beseitigung sparen. Wer nichts wusste, den kann man auch seiner Wege ziehen lassen. Sie konnte höchstens aussagen, dass sie von einem anonymen Mann angesprochen worden war und im Laufe des vergangenen Jahres 22.500,- Euro in bar, in mehreren Raten, erhalten hatte. Aber vor wem sollte sie schon aussagen?
Der alte, weiche Malinger wollte wieder einmal jeglichen Skandal vermeiden und hatte sogar von einer Anzeige abgesehen. „Kündigung in beiderseitigem Einverständnis und sofortiges Verlassen der Stadt München“, waren seine einzigen Auflagen.
Wow, was für ein konsequenter Schritt! Aber zu mehr war der alte Saftsack ja nicht mehr fähig! Verabscheuungswürdig, ein derartiger „Warmduscher-Führungsstil“! Aber die Sache mit dem Senioren-Firmenpatron würde sich schon sehr bald geregelt und erledigt haben! Dann würden andere Zeiten aufziehen und Malinger zur profitabelsten Firma der gesamten Automobilbranche werden, geführt von einer Person, die nicht von Mitleid und Mitgefühl getrieben wurde. Ratio und Intellekt werden die neuen Entscheider. Menschlichkeit und Bauchgefühl kommen dorthin, wo sie keiner vermisst, in den Keller!
Aber sei's drum – Rückschläge machen stärker, aber sie können den großen Masterplan nicht erschüttern. Aber es war nun noch mehr Vorsicht geboten!
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Franz Korber hatte durch den beruflichen Stress zu Jahresbeginn beinahe seine privaten Ambitionen eines Jobwechsels verdrängt. Es lief wieder besser in den Malinger Werken, die Wirtschaft kam ganz langsam und aus eigener Kraft wieder aus dem tiefen Tal des vergangenen Herbstes heraus. Es wurde der IT-Abteilung großzügig Budget genehmigt und sie arbeitete wieder wie am Schnürchen. JP Santa Cruz hatte alles richtig gut im Griff. Und er, Franz, konnte sich wieder auf diversen Meetings mit Abteilungsleitern und Lieferanten durch den Tag plagen. Er war ein Mann der Tat und nicht so sehr des ständigen Verhandelns und Redens, Planens, Budgetierens und Taktierens. Deshalb kam das Jobangebot in Leipzig schon beinahe unerwartet. Aber es klang sehr verlockend. Leipzig war sicherlich nicht mit München zu vergleichen, aber, welche Stadt ist das schon?
Die Chance, wieder in den Spiegel schauen zu können und die Sache Malinger gedanklich und physisch hinter sich lassen zu können, hatte einen großen Reiz für Franz. Ein Job von 09:00 bis 17:00 Uhr, bei einem soliden Chemiekonzern mit ausbaufähiger Mannschaft, bei fast gleichem Gehalt und wesentlich geringeren Lebenshaltungskosten. Er musste einfach etwas unternehmen! Hier wurde ihm der Boden schlichtweg zu heiß unter den Füßen und er wusste nicht, wie lange er sich noch emotional kontrollieren und seine Manipulationen weiterführen konnte. Deshalb vereinbarte er kurzerhand einen Vorstellungstermin über seinen Headhunter und trug sich dafür einen Urlaubstag ein. Vielleicht konnte er bei dieser Gelegenheit das Business mit dem Privaten verbinden. Er hatte eine Telefonnummer über einen Bekannten vertrauensvoll zugespielt bekommen, die er nun anrief und einen privaten Termin für abends arrangierte.