12. März 2010, München
JPs Leben hatte sich verändert. Die Arbeitslast war deutlich mehr geworden, Überstunden definitiv notwendig. Der neue Job machte wirklich Spaß, aber seinen vorherigen musste er ja auch noch irgendwie bewältigen, bis „der Neue“ am 1. Mai anfing. In den vergangenen Wochen war JP nur selten vor 23:00 Uhr zu Hause und meistens vor 7:30 Uhr der Erste im Office. Seine Arbeit hatte sich verändert. Früher als Datenbankadministrator hatte er ein regelmäßiges, internes Abteilungsmeeting pro Woche und gelegentlich Meetings mit externen Consultants oder Malinger Abteilungsleitern, wenn Sie spezielle Wünsche und Projekte besprechen wollten. Diese vergangene Woche hatte er jeden Tag mindestens zwei Meetings! Mit Vor- und Nachbearbeitungsbedarf – wie bitte sollte man da noch seine anderen Arbeiten erledigen? Fuck!
Er haderte, ob er nicht etwa doch vorschnell diese Beförderung angenommen hatte. Mehr Geld ist schön und gut, aber wenn man keine Zeit zum Ausgeben hatte, was sollte man dann damit? Seine Prioritäten hatten sich verändert. Er war getrieben von Terminen, die von anderen vorgegeben waren, und nur noch reaktiv. Ständig hing er hinterher und bediente zuerst den, der am lautesten schrie, den größten Nutzen bringen konnte oder dessen Arbeit am schnellsten zu erledigen war. Seine ToDo-Liste wurde und wurde nicht kürzer. War eine Sache erledigt, kamen sogleich zwei neue hinzu. Sein „privates Ermittlungsprojekt“ im Hause Malinger hatte er begonnen, weil er ein neugieriger und verspielter Mensch war, und außerdem auch, weil er zwischendurch Zeit dafür hatte. Diese fehlte nun für solche Spielereien und Hobbys – keine Zeit, keine Energie, keine Lust. Vorerst war es aufgeschoben.
Was JP Santa Cruz jedoch begann, das zog er auch durch! Es war schon wieder Freitag, 20:3O Uhr, und nun wollte sich JP wieder seinem „privaten Ermittlungsprojekt“ widmen, d. h. zur Entspannung ein bisschen nach Informationen jagen. Endlich waren die Kollegen alle weg, das Büro leer. Der Putztrupp begann schon mit dem Staubsaugen im hinteren Officebereich. JP verzog sich ins Reich der „Big Mamas“, wie alle in der IT-Abteilung die großen IBM-Server liebevoll nannten, und schloss die Türe hinter sich. Es war nicht wirklich der gemütlichste Raum im Gebäude – keine Fenster, ein ständiges Brummen der Lüfter, sehr kühle Luft aus der Klimaanlage. Aber der Raum hatte nur eine Eingangstür und die konnte man einfach beobachten und „zufällig“ den einzigen Stuhl dieses Raumes direkt vor der Türe „parken“, damit das unverhoffte Eintreten erschwert wurde und Zeit für das Verwischen von Spuren verschaffte. In einer Ecke waren zwei Mini-Not-Arbeitsplätze: Eingabeterminals mit Tastaturen. Die „Big Mamas“ wurden ansonsten weitestgehend vom Office aus bedient und programmiert. Ja, was suchte er eigentlich? Er rief sich sein Telefonat mit Cousin Mischa Freudenthaler vom vergangenen Dienstag in Erinnerung:
„Also pass auf Davide, die tschechische Firma ist in Eurer Branche tätig, irgendwie Spritzteile für Armaturen, Lenkräder-Beschäumung, Dämmstoffe und so was. Über 400 Mitarbeiter. Sie sind vor gut drei Jahren von irgendeinem Investorenkonsortium gekauft worden. Ein Alteigentümer ist wohl auch noch mit über 25 % beteiligt. Malinger Deutschland hat Appetit auf diese Firma. Ich habe viel recherchiert. Ich soll ziemlich umfassende Daten-Modulations-Programme liefern. Wir haben so etwas schon zweimal für eine Versicherung gemacht, vielleicht bin ich deshalb im Spiel. Wir haben das Meiste schon fertig und könnten in ein bis zwei Monaten alles liefern. Nach meinem Verständnis OK, soweit Business as usual.“ „Nimmst bzw. kriegst Du den Auftrag, Mischa?“ „Kriegen würde ich ihn ganz sicher, aber ich weiß noch nicht, ob ich ihn will.“ „Hey Mischa, Kohle ist Kohle ...“ „Ja, wem sagst Du das! Aber ich habe Familie, meine Firma Jericho Computing Services.... das will ich nicht riskieren. Ich werde wahrscheinlich so eine Frickel-Bude in Indien vorschieben. Wenn die gegen die Wand fährt, können wir in zwei Tagen eine neue aufmachen.“ JP wurde hellhörig. Einen wohl sicheren Auftrag ablehnen – das war nicht Mischas Art. „Um welche Summe geht es, Mischa?“ „Mindestens 950.000 Dollar, US ...“ „Mischa, das ist verdammt viel Geld! Damit kannst Du Deine gesamten Personalkosten fast ein Jahr bezahlen und Deiner Rachel noch ein paar Klunkerchen kaufen! Rück raus, was ist los?“ „Davide, Du willst es nicht wissen....“ „Doch Mischa, ich bestehe darauf! Wir sind doch eine Familie!“
Das war unfair! Dieses Argument würde Mischa in die Knie zwingen. Es entstand eine peinliche Pause. „Davide, Du bist ein Scheißkerl! Mir so zu kommen! Ok, ich gebe Dir ein paar Informationen. Aber halt mich da raus, verstehst Du! Wir haben nie telefoniert und ich habe Dir nie etwas gesagt, egal wer mich fragt, ich streite alles ab.“ „Mischa, Du kannst Dich auf mich verlassen. Ich schwöre, Du bleibst draußen. Was ist los?“, fragte JP. „Also, die schmücken die Braut um sie zu verkaufen, OK? Aber diese Braut ist so derart hässlich, dass sie im Moment beim besten Willen keiner für gutes Geld kaufen würde. Da frage ich mich, warum bietet man mir so viel Geld für diesen Job? Zu VIEL Geld! Und warum sucht man sich für den „Anhübschjob“ nicht ein solides Systemhaus in der Tschechischen Republik? Für diese Kohle könnte es sogar SAP für sie erledigen! Nein, man will eine ausländische Firma, möglichst aus einem Land, mit dem sich keine Regierung Europas anlegt. Niemand legt sich mit Israel so leicht an. Und dann wundere ich mich, dass der potenzielle Kaufinteressent mit mir am Tisch sitzt, wo gerade diskutiert wird, wie man die hässliche Braut hübscher und damit viel teurer machen kann?“
„Was? Unsere Leute waren dabei, als ihr besprochen habt, wie Du die Bücher des Kaufobjektes frisieren und die Bilanzen manipulieren kannst?“ „Davide! Hör auf! Ich habe erstens nicht gesagt, dass ich den Job annehme und zweitens: Wir sind ein ordentliches Unternehmen! Jericho Computing Services frisiert keine Bilanzen – wir tun Derartiges nicht. Wir schreiben Softwareprogramme! Wir sind keine Buchhalter. Wir haben weder mit der Qualität noch der Art von Daten etwas zu tun!“ „Ja, ja komm wieder runter Mischa ... „Datenmodulation“ ... ist schon klar. War nun unser Geschäftsführer Dr. Bucher dabei?“ „Nein, Davide der nicht, aber ein Schotte, Dr. Angus McGregor und ein Wirtschaftsprüfer Dkfm. Hans-Joachim Fuchs aus Berlin.“ „Angus McGregor ist der Schwiegersohn von Herrn alten Malinger, Chef des schottischen Werkes und konzernweit zuständig für die Malinger Finanzen.“ „Du sagst es Davide... und Hans-Joachim Fuchs hat eine große Wirtschaftsprüferkanzlei in Berlin, sein Hauptkunde ist der Malinger Konzern ...“ „WAS? Unser Finanzchef UND unser Wirtschaftsprüfer? Warum zum Teufel wollen sie die hässliche Braut viel zu teuer einkaufen?“ „Davide, Du weißt, meine Frau Rachel hat russische Wurzeln. Sie hat mit ihrem Vater telefoniert und ihr Vater hat mit Vettern und Freunden und so weiter ... Du weißt, wir haben ein intaktes Netzwerk. Jedenfalls: Das Investorenkonsortium hat vier maßgebliche Eigner. Der Hauptanteilseigner ist Vladimir Popolowsky. Einer dieser sehr dubiosen Selfmade-Milliardäre – frühere KGB-Spitze, dann Stahl, Immobilien. Jetzt hauptsächlich Erdöl und -gas. Superreich, super einflussreich! Sicherlich schwer kriminell ... der spielt das ganz große Spiel ums große Geld ...Die anderen Eigner sind keine Russen.“
„Mischa, willst Du mir sagen, unser Dr. Angus McGregor und dieser Wirtschaftsprüfer Fuchs sind Miteigentümer von diesem Kapitalkonsortium und ihnen gehört dieser tschechische Laden? Wer ist der vierte Eigner?“ Es war still in der Leitung. Er hörte Mischa schwer atmen und dachte schon, dieser habe einen Herzanfall oder Schlimmeres erlitten. Nach endlosen Sekunden des Schweigens ging es weiter.
„Davide, ich sage damit gar nichts. Es macht keinen Spaß mit Dir – Du bist mir einfach zu schlau. Ich habe Dir ohnehin schon sehr viel mehr erzählt, als ich wollte und sollte! Ich werde jetzt nichts mehr zu dem Thema sagen und werde ins Bett zu meiner Rachel gehen. Gute Nacht und vergiss Deinen Schwur nicht, Davide!“ Piep, Piep, Piep …
Ach, da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt! JP schlussfolgerte gnadenlos: Der Schwiegersohn vom alten Malinger und sein deutscher Kumpel verkaufen ihre eigene, aufpolierte Schrottfirma und bezahlen sie teuer mit dem guten Geld ihres Schwiegerpapas und Klienten. Der Wirtschaftsprüfer attestiert den hohen Wert der zu kaufenden Firma und sein Kumpel Dr. Angus zückte das Scheckbuch des Schwiegervaters und bezahlte einen irrwitzigen Geldwert mit dessen Geld. Wie krass war das denn? Ging das gerade noch als „geschäftsmännisch-clever“ durch oder war das schon kriminell? Moralisch sauber war es sicherlich nicht! JP schwankte zwischen Respekt vor dieser unsauberen Nummer und seiner eigenen, vielleicht ein bisschen konservativen Vorstellung von Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber. Aber Moral gehörte wohl nicht ins Geschäftsleben. Und was zum Kuckuck ging das JP überhaupt an? So etwas passierte jeden Tag auf der Welt. Die Cleveren scheffelten skrupellos Geld und die Ehrlichen, Doofen rackerten sich für ein Taschengeld ab. JP führte Selbstgespräche: „Beweis das mal, Du Möchtegern, Du Würstchen, Du Pseudo-Detektiv. Diese abgebrühten Business-Jungs lassen sich von Dir kleinem Niemand ganz sicher nicht in die Suppe spucken! Der Deal läuft, egal was Du dagegen tun willst. Es geht Dich auch gar nichts an. Halt Dich da raus, Santa Cruz. Das bringt nur Ärger ...“
Aber JP konnte sich seine Selbstzweifel nicht ausreden. Zumindest die Sache mit dem hausinternen Produktdiebstahl wollte er besser auswerten, mehr Beweise zusammentragen und die Schuldigen entlarven. Nebenbei wollte er aber auch ein bisschen in der Sache dieser tschechischen Firma MOTOHOMOTY s.r.o recherchieren. Wenn er mehr darüber wusste, dann konnte er entscheiden, ob er entweder dabei etwas für sich herausholen oder die Schuldigen zu gegebener Zeit anzeigen und alles aufdecken sollte. Irgendwie ging ihm das alles furchtbar gegen den Strich! Und da er nun schon mal da saß, im kalten Rechenzentrum, fiel ihm doch wieder ein, was er hier im „Reich der Big Mamas“ zu finden hoffte. Flink huschten seine Finger über die Tastaturen.
Z. B. wäre doch die Historie der polnischen Fabrik-Neuerwerbungen, die in den vergangenen Jahren vom Malinger Konzern gekauft und mittlerweile als Tochterunternehmen integriert wurden, doch sicherlich einen tieferen Blick wert. Priorität hatte nun, viel Material zu sammeln, dann auszufiltern, auszuwerten, zu reduzieren und letztendlich zu entscheiden. Vielleicht kam irgendwann die Zeit für die Kollekte – entweder zugunsten seines eigenen Klingelbeutels oder für die Polizei.