München, 30. April 2010, Krankenhaus Schwabing, 17:30 Uhr
„Wie heißt er?“, hörte JP bei geschlossenen Augen. Er hatte keinerlei Lust auf Frage-/Antwortspielchen und beschloss solange den Schlafenden zu spielen, bis er sich einen akustischen Überblick verschafft hatte. „Giovanni Paul Davide Santa Cruz, geboren am 10.12.1980 in Rom, amerikanischer Staatsbürger, wohnhaft in München, Schwabing, Römerstraße 21, seit knapp zwei Jahren in München, mehr hab‘ ich noch nicht.“, hörte er eine andere Stimme. „Und wie passt der jetzt in das ganze Chaos?“, meinte die erste Stimme – versuchtes Hochdeutsch, vielleicht Mitte Dreißig, mit leichtem Rheinländer-Einschlag, wahrscheinlich ein zugereister Wahl-Münchner. Klingt nach Wichtigtuer und wahrscheinlich karrieregeil.
Die zweite Stimme, auch männlich, eher über die 40, Bayer, dem Tonfall nach aus dem Umland um München. Tiefe Stimme, hört sich gemütlich, eher sympathisch an. Santa Cruz wusste nicht warum, aber es war ihm klar, die beiden waren von der Polizei. JP verlieh dem Bayern innerlich den Arbeitstitel „Bulle“ und dem Rheinländer den Titel „Chefchen“, zur leichteren Zuordnung. Bulle: „Keine Ahnung, wir müssen ihn fragen, sobald er zu sich kommt. Er ist irgendwie der Computerfuzzi im Haus und anscheinend hat er 112 angerufen und Feuerwehr- und Polizei-Hilferufe bei uns gemacht.“ Chefchen: „Versteht er uns? Ich meine sprachlich? Santa Cruz klingt irgendwie spanisch und bei den vielen Vornamen kennt man sich gar nicht mehr aus. Wie schwer ist er verletzt?“ Bulle: „Ich denke schon, dass er Deutsch spricht. Sein Kollege liegt im Zimmer nebenan, den kann ich gleich mal fragen. Sofern er wieder ansprechbar ist. Vorhin ist er mir während des Redens ständig eingepennt. Die Jungs sind alle vollgedröhnt mit Medikamenten. Kein Wunder bei den Verletzungen. Der Doktor sagt, bei Santa Cruz sieht es viel schlimmer aus, als es tatsächlich ist. Wohl gut durchtrainierter Bursche. Glück gehabt.“ Chefchen: „Bleib dran, Korbinian, ruf mich, sobald er die Augen aufmacht. Ich muss wissen, was da genau passiert ist, bevor ich beim Alten Bericht erstatte oder die Geier von der Presse über mich herfallen. So eine Sch ... , ich hab heute Hochzeitstag und wollte etwas früher abhauen, sonst gibt‘s Ärger mit der Regierung daheim. Aber so wie ich das sehe, wird das nix!“ Bulle:“ Ja, Manfred, so sehe ich das auch. Du kannst von Glück sprechen, wenn Du heute überhaupt heimkommst. Aber das ist ein echter Notfall, das wird sie schon verstehen.“ Chefchen: „Schön wär´s, aber sie sagt, ich habe jedes Mal, wenn wir privat was vorhaben, einen Notfall. Sie kann´s schon nicht mehr hören.“ Bulle: „Aber bis jetzt schon drei Tote und sieben Verletzte, zum Teil schwer, wer weiß, ob die noch alle durchkommen. Und vielleicht haben wir noch nicht alle gefunden. Das ist wirklich ein Notfall! Wann hatten wir schon sooo eine Explosion in München? Das letzte Mal bei den Olympischen Sommerspielen 1972, oder?“ Chefchen: „Ja, ich weiß schon, aber Frauen sind da anders. Meine zumindest. Am Hochzeitstag ist nicht mal ein Weltuntergang ein akzeptabler Notfall.“ „Manfred, Du wirst in den nächsten Tagen zig Interviews geben und mit dem Fall hier berühmt werden, das mag Deine Frau! Die ist doch gerne die Frau von Herrn Dr. Manfred Koller, dem berühmten Ermittler in der Malinger Katastrophe. Das wird sie besänftigen.“ „Grins ... gib mir Bescheid, Korbinian, sobald sich hier was tut, OK? Ich mache die Runde zu den anderen Malinger-Leuten. Vielleicht ist einer ansprechbar und weiß, was da passiert ist.“ „Ja ist gut Manfred, ich muss grad aufs Klo und setz‘ mich dann hier am Fußende hin“. Dann war es wieder ruhig im Raum.
Das war ja entsetzlich! JP konnte es nicht fassen – drei Tote und sieben Verletzte, einige noch kritisch. Himmel, das gab es doch nicht! Er machte die Augen auf und erstarrte. Krankenzimmer sind immer hässlich und kahl, aber dieses hier war ja potthässlich und auch noch winzig. Quer hätte das Bett gar nicht in den Raum gepasst, und all die blinkenden Geräte an seinem Kopfende, Schläuche in seinen Armen und Beinen und irgendein Korsett um seine Mitte. Das musste ein Aufwachraum sein! JP konnte sich kaum bewegen. Und jetzt tat ihm buchstäblich sein ganzer Körper weh. Sicherlich schwere Prellungen, aber dafür, dass er nur ein paar Meter von der Explosion entfernt war, hatte er noch mal Glück gehabt. Auch wenn er von den Blutergüssen grün und blau sein würde. Aber es hätte schlimmer ausgehen können, sehr viel schlimmer! Er ist bestimmt einige Meter durch die Luft geflogen und ganz hinten an der Wand oder den Büromöbeln abgeprallt. So genau wusste er das nicht mehr, war auch unwichtig. Aber so ganz brachte er die Abläufe noch nicht auf die Reihe. Irgendwie hatte er die Polizei oder Feuerwehr angerufen, eine von diesen Notrufnummern 110 oder 112, egal, dann hatte er irgendwie ein paar Kollegen vor die Türen geschleift und wie wild mit den Feuerlöschern weißes Zeug versprüht. Die Sprinkleranlage ging auch irgendwann los und hat wohl auch das Feuer gelöscht, zumindest im Office. Das Rechenzentrum war sicher zerstört. Was hatte da bloß diesen derartigen Knall ausgelöst?
Dann: Filmriss, er konnte sich erst wieder erinnern, als er auf der Straße vor einem Krankenwagen auf dem Boden saß. Dann war irgendwas furchtbar komisch und er musste lachen. Aber er war noch nicht ganz bei Verstand – wie hatte „Bulle“ vorhin gesagt: „vollgedröhnt mit Medikamenten“, ja das war´s wohl. Er war nun wieder so furchtbar müde. Warum sollte er wach bleiben? Denken war ohnehin nur grausam, er wollte schlafen, lange schlafen und hoffentlich lange nicht mehr aufwachen.
Langsam dämmerte er weg und verlor sich in seinen Erinnerungen der vergangenen Tage.