21. März 2010, Augsburg

 

Frühlingsanfang im Kalender – unwichtig! Der erste warme Märztag – bedingt wichtig! JPs erster Tag 2010 fürs Fliegenfischen auf Bachforelle – MEGA WICHTIG! Schon gestern Nachmittag hatte er alles penibel vorbereitet. Es war ein fast schon religiöses Ritual: Die neue 700,- Euro teure Fliegenrute von House of Hardy wurde liebevoll gestreichelt, die neue WF #5 Flugschnur von Alpine Anglers aufgezogen, das Vorfach neu montiert und vor allem der Vorrat an „Kunstwerken“ – JPs Ködern, einfach genannt „Fliegen“ –, jede liebevoll von ihm aus Federn und diversen Kunstfasern gebunden, sortiert und mehrfach begutachtet. Fehlendes oder Abgenutztes durch Neues aufgefüllt. Es war ein ehrfurchtsvolles Zeremoniell für ihn, wie für einen Hohepriester die Vorbereitung für eine Kulthandlung. Dann wurden seine Goretex Wathose von Patagonia, seine Watschuhe, sein Handkescher, sein Hut (der war besonders wichtig und fast sein Markenzeichen), Ersatzkleidung (für unfreiwillige Bäder im kalten Wasser) etc. sorgfältig überprüft und in den Kofferraum des Audi TT gelegt. Der Wagen war frisch gewaschen und innen gesaugt – zu festlichen Anlässen fuhr man nicht mit einem schmutzigen Auto. Es war absolut nicht akzeptabel, am Wasser zu stehen und etwas Wichtiges vergessen zu haben!

Normalerweise würde JP den 16. März als Urlaubstag eintragen, denn dies ist der erste Tag im neuen Jahr, an dem die Schonzeit der Bachforelle beendet und damit die Fliegenfischsaison in den Clubgewässern des Anglerclubs eröffnet war. In diesem Jahr war es allerdings viel zu kalt am 16. März. Somit hatte JP seinen diesjährigen Start aufs Wochenende danach verlegt. Der Samstag Vormittag fiel dem Ausschlafen und dem „bei Tina tiefe Eindrücke hinterlassen“ zum Opfer. Am Nachmittag wurde vorbereitet und der „heilige“ Sonntag wurde genau dem gewidmet, was JP eben heilig war: dem Fliegenfischen!

Tina hatte andere Pläne geäußert, aber keinerlei Interesse bei JP dafür geweckt. Nicht einmal eine Orgie mit Sandy, Tina und Felicitas zusammen in einem Whirlpool hätten JPs Pläne bezüglich Fliegenfischen verändern können – höchstens ein bisschen nach hinten verschieben ... JP war ja schließlich nicht blöd. Tina fand es jedenfalls sehr befremdlich, dass JP sie am Samstag schon um 14:00 Uhr mit Nachdruck aus seiner Wohnung komplimentiert hatte und er partout nicht wollte, dass sie eine weitere Nacht bei ihm schlief. Kulthandlungen erbrachte man nun mal alleine.

JP war Mitglied in einem der renommiertesten Fischereiclubs in München, 120 Mitglieder, 3 Seen und gut 110 km große und kleine Fließwasser rund um München, größtenteils im Eigentum und zum Teil gepachtet. Bei derart vielen Gewässern traf man kaum einen der Kollegen am Wasser und hatte somit eigentlich fast „private“ Flüsse, nur für sich alleine. Außerdem waren die Gewässer des Anglerclubs durch den geringen Befischungsdruck sehr gut mit Fischen aller Art und Größe besetzt. Absolute Rekord- und Trophy-Fische wurden jede Saison gefangen. Auch „Forellenmonster“ jenseits der 3 kg waren schon mal dabei. JP wurde um 5:30 Uhr ganz von alleine wach, obwohl er erst um 9:30 Uhr mit seinen Freunden Manfred und Richard verabredet war und nur ca. 45 Minuten Fahrzeit einrechnen musste. JP war aufgeregt.

Das FlyFi Fieber (Fliegenfischfieber) hatte ihn gepackt ...

Es war noch dunkel draußen. JP war wirklich aufgeregt und nervös wie ein Erstklässler – nach den langen, kalten Winterwochen ging es nun endlich, endlich wieder los. Gut vier Monate kein Fliegenfischen – er war irgendwie auf Entzug und ausgehungert! Für heute stand die „Wertach“ bei Augsburg auf dem Plan. Um diese Jahreszeit ein wirklich wunderschöner, breiter, sehr schön renaturierter Fluss. JP hatte hier im Herbst 2009 noch zwei Huchen, Verwandte der Forellen, von 89 und 84 cm gefangen. Für Huchen waren die beiden Exemplare sicherlich noch Babys, denn diese Forellenart konnte durchaus 130 cm erreichen.

Für JP aber war es dennoch ein kapitaler Fang. Der größere der beiden Huchen ging auf seine Streamerfliege (die Imitation eines kleinen Fisches) und auf Fliegenrute, der andere ein paar Tage später auf Gummifisch und die „normale“ Angelrute mit Stationärrolle. Der größere Fisch diente als köstliches Abendessen, bei dem JP sich in seinen Koch- und Bewirtungskünsten selbst übertraf und sechs seiner Freunde mit unglaublich leckerem Fisch verwöhnen und satt machen konnte. Der kleinere Fisch wurde wieder sorgsam zurück in die Freiheit entlassen.

Um 7:50 Uhr stand JP bereits bis zum Bauch im noch eiskalten Fluss Wertach. Um 10:00 Uhr, als Manfred und Richard dazustießen, hatte er bereits seine ersten fünf Forellen, alles sehr große Regenbogener, die allerdings noch in Schonzeit waren, bereits gedrillt und wieder sanft und mit Ehrfurcht und Respekt zurück ins Wasser gesetzt. Im Anglerclub fischte man ausschließlich widerhakenlos, also mit Schonhaken, demnach verletzte man diese Raubfische kaum und konnte untermaßige und Fische in Schonzeit wieder problemlos und sanft in den Fluss zurücksetzen.

Respekt vor der Kreatur und Natur war eines der Leitmotive innerhalb seines Clubs. Nach kurzer und herzlicher Begrüßung ging jeder der Männer ein Stückchen flussauf oder flussab, um einen Abschnitt für sich alleine zu befischen. Fliegenfischen ist höchste Konzentration, dabei viel zu reden und sich zu unterhalten ist nicht möglich. Jeder fischt für sich und man freute sich, wenn man selbst oder der jeweils andere einen guten Fang landete. Sofern man in Rufweite war, wurde ein freundliches „Petri“ als Gratulation gerufen und man setzte seine eigene Fischerei fort. Fliegenfischen hatte mit dem klassischen Angeln an Seen oder Flüssen rein gar nichts gemeinsam. Beim See-Angeln war man reaktiv, man war stationär, d. h. oft für lange Zeit an derselben Stelle. Man legte den Köder, häufig einen Naturköder (totes Fischchen, Wurm, Teig, Mais etc.) z. B. auf Grund, in der Erwartung, dass dieser z. B. von einem Karpfen, Hecht, Zander gefunden und aufgenommen wurde und ein Signal an der Angel auslöste.

Der Fisch sucht die Beute (Nahrung), der Angler reagierte. Beim Spinnfischen warf man einen metallenen oder Gummi- oder Plastikköder aus und versuchte den Raubfisch durch rasches Einkurbeln zu einer Verfolgung des vermeintlichen Fischchens und so zum Beißen zu bringen.

Fliegenfischen imitiert die natürliche Nahrung der Fische (kleine Wasserinsekten, kleine Fischchen, Landinsekten, fliegende Insekten) mit diversen künstlichen Mustern, die aus Federn, Kunstfasern oder anderen Hilfsmitteln gebunden werden. Der Fliegenfischer ist extrem proaktiv. Fliegenfischen findet zum größten Teil in Bächen und Flüssen, also fließenden Gewässern, statt. Der Fliegenfischer veränderte ständig seinen Standort und präsentierte seinen Insekten-Imitations-Köder immer wieder aufs Neue – durchaus drei bis fünf mal pro Minute. Sofern möglich steht der Fischer tief im Wasser. Der gute Fliegenfischer sucht den Fisch! Er muss „im Wasser lesen können“ – d. h., er befischt den Fisch ganz gezielt, indem er den möglichen Standort des Fisches genau erkennt bzw. erahnt.

Dies ergibt sich aus fachkundiger Deutung von Strömungsverlauf, Wassertemperatur und –qualität und benötigt Kenntnisse von Fressverhalten und gezielter Standortwahl. Außerdem sind Wind- und Außentemperatur zu berücksichtigen und man muss die Lebensgewohnheiten der Zielfische genauestens kennen, z. B. ihr Jagd-, Unterstand- und Revierverhalten. Fliegenfischen ist ein lebenslanges Forschen und Lernen. Je mehr man sich mit dem gesamtheitlichen Thema „Leben im und am Gewässer“ beschäftigt, umso faszinierter wird man davon und letztendlich auch erfolgreicher bei den Fängen. JP beschäftigte sich seit Jahrzehnten mit allen Details rund um sein Hobby und seine Freunde Manfred und Richard waren genauso fanatisch und versiert wie er.

 Zur Jause traf man sich wieder und schwelgte in den Erlebnissen der vergangenen Stunden und der verpatzten oder erfolgreichen Pirsch. Dabei entstanden tiefe und respektvolle Freund- und Kameradschaften zwischen Männern, deren Tiefe und Magie den Frauen meist unklar und verschlossen blieb. Manfred, Richard und JP waren sehr häufig gemeinsam zum Fliegenfischen unterwegs und verstanden sich auch ohne viele Worte ganz ausgezeichnet. Sie waren schon gemeinsam in Slowenien, Norwegen, Österreich und zahllosen Gewässern in Bayern zum Fliegenfischen gewesen und respektierten einander. Als Nächstes stand ein Trip nach Finnland an – zum Lachs- und Hechtfischen mit der Fliegenrute.

Der Tag war mehr als erfolgreich! Zu Saisonbeginn sind die schönen Rotgetupften einfach noch hungrig und gierig! JP und Richard nahmen jeweils eine wunderschöne, rotgetupfte, 53 cm Bachforelle mit nach Hause, Manfred eine mit 55 cm. Alle drei wirklich kapitale Forellen, ca. 1,5 kg, die auch in der Wertach nicht tagtäglich gefangen wurden. Das war ausreichend für jeweils eine Mahlzeit für mindestens vier Personen und stand nun auf dem Speiseplan für heute oder morgen Abend.

Um 17:00 Uhr war JP wieder zu Hause und gönnte sich ein gutes Mützchen Schlaf. Um 19:00 Uhr kam Tina wieder bei ihm vorbei und er servierte ihnen beiden eine wunderbare, frische Bachforelle auf Wurzelgemüse, gedünstet in zarter Weißwein-Limonensoße. Was davon übrig blieb – es war natürlich zu viel für zwei Personen – kam am nächsten Tag auf den Salat.

Als Getränk wählte JP einen jungen, kalten steirischen Welschriesling aus der Region Kitzeck, Weingut Ilgy, Jahrgang 2009. Zum Dessert kredenzte er eine Joghurt-Bombe mit in Sherry eingelegten Waldbeeren und dazu ein Gläschen von einem Ziegler Nr. 1, ein wunderbares Destillat aus Wildkirschen, dessen Duft seinen Wohnraum überflutete. Tina war hin und weg! JP genoss ihre Anerkennung und brachte sich später zur Höchstform, als Tina sich bei ihm für den schönen Abend „revanchieren wollte“, wie sie es ausdrückte.

Liebe geht eben doch durch den Magen....

Ohne Skrupel
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