5. Mai 2010, München, Krankenhaus Schwabing, morgens

 

Seine Polizeiberatungstätigkeit begann ihn bereits jetzt, an seinem zweiten Arbeitstag, zu nerven. Holzner war wirklich ein Morgenmensch und war schon beim Frühstück um 6:30 Uhr anwesend um zu kontrollieren. Und noch dazu war der Kerl immer so früh schon wahnsinnig gut gelaunt und pfiff vor sich hin. JP war von Natur aus eher ein Nachtmensch und ein Morgenmuffel. Zumindest bis 7:30 Uhr. Er fand den Tagesrhythmus bei diesem unfreiwilligen Genesungsurlaub zum Kotzen und wollte einfach nicht um diese Uhrzeit fremde Menschen um sich haben. Irgendeine übrig gebliebene Maus von der Nacht davor, das ging grad mal so durch, aber all diese Typen hier, die er nicht kannte, das nervte. Aus Protest beschloss er, heute sein Tagwerk der „beratenden Tätigkeit“ nicht vor 8:00 Uhr zu beginnen. Er ja war nicht Sklave der Polizei und hatte seine Rechte! Aber Holzner scherte sich absolut nicht um seine miese Laune und begann den Tag zu verplanen. JP sollte am Vormittag „Polizeikollegen“ im Halbstunden-Takt empfangen.

Jeder hatte seine Spezialisierung bei der Kripo oder sonst einer Behörde. „Stellen Sie sich vor, einer kommt sogar vom BKA ...“, flüsterte Holzner mit verschwörerischer Mine und voller Ehrfurcht. JP versuchte sich diese BKA-Sache bildhaft vorzustellen – er sah rein gar NICHTS! Es war ihm ehrlich gesagt scheißegal. Er hatte keine Ahnung, was das bedeutete und musste erst fragen, was BKA überhaupt heißt. „Das ist das Bundeskriminalamt“, sagte Holzner. Jetzt wusste JP genausoviel wie vorher und auch das war ihm einfach nur Schnuppe! Wie sollte er wissen, ob das gut oder schlecht, wichtig oder unwichtig für ihn war. Wohl irgendwie „wichtig“, so wie der Holzner katzbuckelte.

Diesen behördenübergreifenden und allgemeinen „Eifer“ mochte JP gar nicht! Er sah primär eine Gefahr für die Anzahl der zu berechnenden Tagessätze von Lucky Eagle Ltd . Je mehr Leute mit großem Eifer an dieser Sache arbeiteten, umso schneller wären sie fertig, umso weniger Kohle – ganz einfach: schlechtes Geschäft! Bei der Gelegenheit fiel ihm die Sache mit den IT-Consultants ein, die „ewig“ im Konferenzraum der Firma Malinger rumlungerten, um diese neue Produktionssteuerungs-Software endlich zum Laufen zu bringen. Und selbst nach der „liebevollen Motivation“ des Produktionsleiters, der „sie bei den Eiern aufhängen und ihre Finger und Zehen seinen Presswalzen anvertrauen“ wollte, hatte sich nicht wirklich was bewegt.

Trotz Vorliegen des Patches von ihrem amerikanischen „Guru“ haben diese Knilche nochmals volle 14 Tage mit jeweils drei Personen, also 42 Manntage à 1.250,- Euro netto plus Spesen benötigt, um diese Software, die in sich schon ein Heidengeld gekostet hatte, endlich zum Laufen zu bringen. Damit sie dann endlich bei der Produktfertigung ihren Job machen konnte. Diese Typen in ihren schicken Anzügen, sie wollten wahrscheinlich einfach nur „Kohle scheffeln“ und waren wahrscheinlich schon mit allem fertig, bevor sie überhaupt den großen Konferenzraum für sich in Beschlag genommen und ihren Fuß bei Malinger ins Werk gesetzt hatten.

Der Rest war nur Show und warme Luft. JP war sich dessen ganz sicher! Konnte er es beweisen? Natürlich nicht! Und so hatte Malinger schön brav einen Haufen Geld für „warme Luft“ bezahlt. Andererseits: So lief das eben! Wenn der Betroffene es erkannte, nannte er es Betrug. Wenn ein Außenstehender es bemerkte, nannte er es geschickt und clever. Wenn niemand drauf kam, nannte man das Business!

Man hatte Lucky Eagle Ltd . ein Zeitlimit von drei Wochen, also 21 Tagen mit je zwei Datenanalysten mit jeweils 2.000,- Euro netto pro Person pro Tag gesetzt, also 84.000,- Euro gesamt, und die wollte JP auf jedenfall in Rechnung gestellt sehen. Wenn der Kuchen groß genug und attraktiv erschien, dann könnte er sich gut vorstellen, dass das Budget der Kripo nochmals „ein bisschen aufgestockt“ werden würde. Ergo: 100. – 120.000,- Euro waren hier durchaus drin.

Also Jungs: eurer Scheiß-Aktivismus ist absolut kontraproduktiv!

Der gute JP wird ab sofort ein bisschen auf die Bremse treten müssen und das wollte er gleich heute machen. Alleine schon aus Rache für den unfreiwillig frühen Start. „Hauptkommissar Holzner“, begann er. „Ihnen ist schon bewusst, dass Sie es hier mit einem schwerstverletzten und stark traumatisierten Explosionsopfer in einem Krankenhaus zu tun haben? Meine Ärztin wird Ihnen bestätigen, dass ich noch nicht für einen derartig straffen Einsatzplan gesund genug bin. Das wird mir zu viel!“ „Hören Sie mal Junge! Sie sind jung und in bester Form. Sie haben ein paar oberflächliche Schrammen, ein paar Zerrungen und unkritische Prellungen. Ein paar Knöchelchen sind gebrochen....alles unwichtig.... denn diese haben rein gar nichts mit Ihrer Fähigkeit zu denken und zu sprechen zu tun. Wenn’s nach mir ginge, würde ich sie schon wieder ins nächste Fußballspiel schicken und am Marathonlauf teilnehmen lassen.... Seien sie kein Jammerlappen und kein Weichei und besinnen sie sich ihrer Pflicht, der Polizei zu helfen, diesen Schlingeln das Handwerk zu legen und sie rasch hinter Gitter zu bringen!“

Irgendwie klang das wie aus dem Mund von Onkel Tim in Kanada. JP mochte diesen Holzner! Dem konnte er nichts vormachen. Diese Mitleidstour-Verzögerungsstrategie war jedenfalls eine Sackgasse!

Nun gut, auf zur Einsatzbesprechung.

 

***

 

Am späten Nachmittag kam dann dieser „wichtige Mann vom BKA“ und spielte sich gleich auf wie Graf Koks! „Mein Ministerium übernimmt ab sofort diesen Fall, und überhaupt....“ Die Kripo München sollte sich auf die Dinge beschränken, die sie wirklich könne und sich um Verkehrsdelikte und sonstige „wichtige“ Aufgaben innerhalb ihres Kompetenzbereiches kümmern. Eine Frechheit, diese Abwertung, zumal nicht korrekt! JP fand diesen arroganten Schnösel einfach widerlich und aus tiefstem Herzen unsympathisch! Hauptkommissar Holzner saß ganz bedröppelt an seinem kleinen Protokolltisch. JP konnte ihm ansehen, dass er soeben seine Felle davon schwimmen sah und nicht wusste, wie er jetzt noch im Spiel bleiben sollte.

        Ober sticht nun mal Unter. Diese einfachen Spielregeln gelten auf der ganzen Welt. JP fand diesen neuen Wichtigtuer einfach nur entsetzlich! Er war Pragmatiker und sah es überhaupt nicht ein, seinen erst heute gewonnenen neuen „Freund“ Holzner, der ihn an seinen Lieblingsonkel Tim aus Vancouver erinnerte, gegen irgendein fremdes Arschloch einzutauschen. Nee, nee, nicht mit ihm. So nicht. Deshalb beschloss er jetzt und sofort seine Trümpfe einzusetzen, solange er noch welche hatte und sagte: „Hören sie mir zu, Herr ...“ An den Namen dieses Möchtegerns konnte er sich schon nicht mehr erinnern. „Albers“, erwiderte der Mann vom BKA. „Gut, Herr Albers, ich habe es schon zum Chef von Herrn Hauptkommissar Holzner, Herrn Dr. Koller, Chef der Kripo München, am Montag gesagt: „Ich arbeite ausschließlich mit Herrn Hauptkommissar Holzner zusammen! Und ich meine das nach wie vor so! Ich habe etwas, das Sie und die deutsche Polizei unbedingt wollen und das bekommen Sie nur nach meinen Spielregeln. Wir haben einen eindeutigen Vertrag. Da ich nichts verbrochen habe, sondern freiwillig helfen will und wesentliche Informationen zur Aufdeckung beitragen und noch beschaffen werde, zu denen Sie und Ihre Behörde keinerlei Zugang haben oder sich beschaffen können, sage ICH, mit wem ich arbeiten will und werde.

        Also: Herr Albers, seien Sie nun nicht albern und lassen sie mich und den kompetenten Hauptkommissar Holzner mit seinem Kripo-Team hier“, dabei deutete JP schwungvoll auf die anderen Personen im Raum, „unseren Job zusammen machen und tragen Sie bitte Ihren Teil zur Aufklärung – von mir aus vom Nachbarraum aus – bei! Ich will und werde NICHT mit Ihnen oder Ihrer Behörde arbeiten. Mein Team ist die Kripo München mit Hauptkommissar Holzner in der Hauptrolle und den Leuten aus der Abteilung von Herrn Dr. Koller“.

Es waren vier Männer und eine Frau der Kripo München im Raum, plus dem BKA-Mann und Holzner. Es war mucksmäuschenstill im Zimmer! Die Kripo-Leute trauten sich nicht mehr zu atmen. Holzner war vor Aufregung puterrot angelaufen und hatte nervöse Flecken im Gesicht, die sogar durch seinen mächtigen Schnurrbart leuchteten. JP wartete nur darauf, dass gleich wieder ein Schuhplattler mit Luftsprung begann.

Der BKA-Mann schien derartigen Widerstand nicht gewöhnt zu sein und sah hilfesuchend in die Runde. Allerdings konnte er in den Gesichtern der anwesenden Münchner Kripobeamten nur Triumph, Häme und unverhohlene Schadenfreude erkennen. Diese Runde hatte er verloren. Dieser Junge hatte Informationen, die jeder Chef und jeder, irgendwie Beteiligte unbedingt wollte. Das wusste das Bürschchen und nutzte seine Position einfach schamlos aus. Wutentbrannt rauschte der Mann vom BKA aus dem Zimmer!

Er war kaum aus dem Raum, ging der Tumult los wie bei einem Dammbruch. Die Kripo-Leute konnten einfach nicht mehr an sich halten. Holzner machte den Anfang. Dann stimmten alle anderen ein – in ein rauschendes, herzhaftes Gelächter! Daumen wurden zur Anerkennung nach oben gestreckt und Holzner schlug sich derart heftig auf seine Oberschenkel, dass JP schon wähnte, bald einen neuen Zimmergenossen als Patienten mit Brüchen und Prellungen auf den oberen Schenkeln zu haben! JP hatte soeben ein paar richtig gute, neue Freunde gewonnen!

Mit dieser Story wurde er zum Gesprächsthema und unbedingtem Sympathieträger für die gesamte Kripo München und jedem neuen Beamten wurde dieser Dialog noch Jahre darnach und immer bunter und ausführlicher erzählt. Die Kripo-Leute versorgten JP nun auch mit ihrem eigenen, mitgebrachten Kaffee – „schmeckt viel besser als die Plörre hier im Krankenhaus ...“, und besorgten ihm am Abend sogar eine Pizza Prosciutto è Funghi vom Restaurant La Piazza direkt vor dem Krankenhaus.

Sie ließen JP nicht mal dafür zahlen und bemerkten nur freundlich: „Die geht aufs Haus.“ Jeder Kripo-Beamte behandelte ihn respektvoll und wenn er mal ein bisschen ausruhen wollte, dann waren sie sofort damit einverstanden und ließen ihn ein halbes Stündchen sein wohlverdientes „Nickerchen“ machen. Der BKA-Mann war nicht mehr bei JP im Zimmer erschienen und hielt sich wirklich nur noch in den anderen Räumen auf, wenngleich wohl nicht sehr begeistert, denn er fühlte sich dort gar nicht willkommen.

 

***

 

Die Trauerfeier der Firma Malinger verfolgter JP im regionalen Fernsehen. Die Geschäftsleitung legte vor laufenden Kameras symbolisch Kränze nieder und kondolierte den Hinterbliebenen. Die gesamte deutsche Belegschaft schien anwesend zu sein und die Reporter ereiferten sich über die schlimmste Katastrophe in der Firmengeschichte des Unternehmens Malinger. Dabei wurden auch die Interviews der verletzten Kollegen aus dem Nebenzimmer ausgestrahlt. Da man von zwei weiteren schwer verletzten Mitarbeitern, die noch im Koma lagen, berichtete, ging JP davon aus, dass auch seine „Verlegungsgeschichte“ so interpretiert und somit geschluckt wurde. Demnach war er offiziell wohl noch im Koma oder zumindest so schwer verletzt, dass er nicht ansprechbar war. Das war gut so. Damit war er erst mal aus der Schusslinie und nicht anschlaggefährdet.

 

***

 

Frau Dr. Gabriela Gruber war auch weiterhin seine behandelnde Ärztin. JP fiel auf, dass sie sich intensiv um sein Befinden kümmerte, vielleicht, nein, eindeutig einen Tick mehr als notwendig. Heute kam sie nach 16:00 Uhr nochmals zur Visite – die dritte heute, obwohl JP von der Schwester wusste, dass die Frau Doktor nur bis 15:00 Uhr Dienst hatte. Visite war immer das magische Wort für: „Bitte Zimmer räumen“, das Korbinian Holzner dann auch wenn auch etwas widerwillig tat.

Aber nicht nur, dass die Frau Doktor nach ihrem Dienstschluss noch durch die Flure des Krankenhauses schlich, nein: Parfüm war neu aufgetragen worden und Dr. Gabriela Gruber war zart geschminkt! JP war darauf trainiert, Signale zu erkennen und dann darauf zu reagieren. Der Schalk saß ihm im Nacken und er bemerkte: „Dr. Gruber! Der Lichtblick meines trüben Tages! Ich freue mich außerordentlich, Sie sogar nach ihrem Dienstschluss noch in meinem Zimmer begrüßen zu dürfen und bemerke mit Freude den zarten, aber berauschenden Duft des neu aufgetragenen Parfums Gucci by Gucci und die gekonnte, wenn auch überflüssige Schminke auf Ihrem edlen und schönen Gesicht!“ Bingo! Das Süßholz saß! Rot wie eine überreife Tomate wurde die Gute! „Äh, hmmm, Herr Santa Cruz, ich bin eigentlich schon weg und gehe heute zum Konzert mit einer Freundin, ich wollte nur nochmals, ähm ...“ „Freundin oder Freund? Dr. Gabriela?“, an dieser Stelle wechselte er „ganz zufällig“ zum Vornamen. „Ich wollte nur nochmals anmerken, dass ich nicht vorhabe überdimensioniert lange innerhalb dieser Mauern zu residieren und ich mich schon bald wieder einem normalen Leben widmen werde. Dort werde ich mich dann sofort auf die Suche nach Etwas machen, zu dem sie mich vor zwei Tagen mit Ihrem Satz „Nur wer suchet, der werdet finden...“ motiviert und in den vergangenen Tagen vermehrt inspiriert haben – und von dem ich doch sehr hoffe, dass ich es bei und mit Ihnen finde....“ Teufel, Teufel, er hätte Textschreiber für Rosamunde Pilchers Schmonzetten und nicht IT-Fuzzi werden sollen.... JP war stolz auf seine salbungsvollen und geschwollenen Worte. Die Wirkung war bombastisch! Die Tomate wurde noch überreifer und glühte förmlich! „Ich glaube, ich muss jetzt los ... spät dran ...morgen wieder!“ und schwupp war sie zur Tür hinaus.

Holzner kam wieder zur Tür herein und bemerkte trocken und mit einem Zwinkern: „Na sauber! Ich bin fast auf der feuchten Spur der Dame ausgerutscht!“ JP hätte nun gerne herzhaft gelacht, wenn das wegen der gebrochenen Rippen nur nicht so furchtbar schmerzhaft gewesen wäre!

Aber es tat ihm dennoch gut, ein bisschen vor sich hinzugackern!

Ohne Skrupel
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