4. Mai 2010, München, Krankenhaus Schwabing; frühmorgens
Was soll der Stress? Wer will schon um 6:30 Uhr Frühstück? JP hätte gerne noch etwas länger geschlafen, aber diese frühe Betriebsamkeit um ihn herum ließ das sowieso nicht zu. Um 6:45 Uhr winkte Hauptkommissar Holzner ein gut gelauntes „Guten Morgen“ durch die Tür und war wieder entschwunden. Er wollte die Sache mit dem neuen Zimmer klären. Anrufe über Anrufe und das um diese Uhrzeit!! JP machte schließlich sein Handy aus. Um 8:15 Uhr kam Tante Romana mit seinem Computerkram und seinem Vertragsausdruck vorbei. Notebook und das kleine HP-Druckerchen waren gleich einsatzbereit und angeschlossen, sogar an das Verlängerungskabel mit Mehrfachsteckdose hatte die gute Tante gedacht! Das Wichtigste war erst mal das Ladekabel für sein Handy. Die Low-Battery Signale kamen schon fast im Sekundentakt, aber die nervigen Piepser verstummten sofort, als wieder neuer Strom durch die Platinen floss und sich das IPhone vollsaugen konnte.
Um 8:30 Uhr machte Dr. Bürokratenwichser-Chefchen Koller, zusammen mit einer Anwaltskollegin seine Aufwartung und versicherte, dass er begeistert sei, welche professionelle Vorarbeit JP hier geleistet hätte. JP dachte bei sich: „Du hast ja nur Angst, dass die ‚mächtigere Behörde‘ Dir diesen Fisch wegschnappt und Du aus dem Spiel gezogen wirst.“ Dann verschwand Dr. Koller, um Korbinian Holzner zu suchen. Die beiden Anwältinnen saßen am kleinen Besuchertischchen und verhandelten! Sie argumentierten heftig über „einzelne Worte“, wie es JP vorkam.
Um 9:45 Uhr waren sie sich einig und Tante Romana übergab JP einen Stick „zum Ausdruck, bitte“. JP las sorgfältig alles durch und war zufrieden. Tante Romana war eine gute Anwältin! JP hatte die Position eines „externen Beraters“ auf Zeit. Man hatte dafür erst mal drei Wochen als Obergrenze festgelegt, damit die Kosten der Firma Lucky Eagle Ltd . eingegrenzt waren. Der Bonus an Lucky Eagle wurde fällig, sobald die Staatsanwaltschaft Haftbefehle erlassen hatte. JP hätte es nicht akzeptiert, wenn man versucht hätte „nach Urteilsverkündung“ reinzubringen, weil Prozesse konnten Jahre dauern. „Recht haben“ und „Recht kriegen“ lag ja bekanntlich weit auseinander. Der Vertrag las sich für JP als Nicht-Jurist wie ein kompliziertes Zeugenschutzprogramm. Aber er vertraute voll und ganz auf die Formulierungen seiner Tante und stellte die vielen komplizierten Satzstellungen nicht weiter in Frage. Ob er den Inhalt verstand? Nur die für ihn wesentlichen, wirtschaftlichen Elemente.
Tante Romana hatte noch alle möglichen Straffreiheitsklauseln für JP reingebracht, von denen er weder wusste, dass es sie gab, noch dass er sie brauchte. Zusätzlich hatte sie für ihn persönlich eine einmalige Prämie von 30.000,- Euro als „Beratungshonorar“ (die würde er leider voll versteuern müssen) und die volle Übernahme seiner Anwaltskosten durch den Staat verhandelt. Er hätte seinen Teil der Arbeit durchaus umsonst gemacht, aber wenn man ihm das Geld aufdrängte, würde er es gerne nehmen. Und 10.000,- Euro pro Woche – das war doch was! Das Coole war: Sein Beratungshonorar wurde auf jeden Fall fällig, egal wie die Sache ausging, auch wenn niemand verhaftet wurde. JP unterzeichnete und überreichte seiner Tante den Vertrag. Die Gegenunterschrift musste jemand anders in irgendeinem Ministerium leisten. Dr. Koller war dazu nicht berechtigt. Tante Romana würde dann direkt dort alles erledigen und den Vertrag treuhänderisch bei sich verwahren. Jetzt konnte es losgehen! Der Vormittag war weit fortgeschritten und Hauptkommissar Holzner hatte „die Sache mit dem Zimmer“ geregelt. JP wurde eine Etage höher am Ende eines Flures einquartiert. Eine Glastür grenzte den Flur und die vier Zimmer dahinter ab. Vor der Glastüre saß 24 Stunden ein Polizist und jeder Besucher musste sich ausweisen und in eine Liste eintragen. Das kleinste der Zimmer bekam JP.
Als JP samt Bett in sein neues Zimmer gerollt wurde, konnte er erkennen, dass in den anderen großen Räumen fleißig umgeräumt, diverse Kisten ausgepackt und Computer aufgebaut wurden, mehrere Monitore waren zu erkennen. Man schien sich hier einen Feldarbeitsplatz aufzubauen, den mittlere Firmen durchaus als „großes Rechenzentrum“ bezeichnet hätten. Die Kollegen von der Kripo wollten nicht auf ihren ganzen technischen Kram verzichten. JP fand das absolut überdimensioniert und Schwachsinn! Ein einfaches Notebook war für seinen Geschmack völlig ausreichend und sehr effektiv. JPs vielen Besuchern und auch seinen verletzten Malinger-Kollegen im selben Krankenhaus wurde die Story von „Komplikationen bei Herrn Santa Cruz und einer Verlegung in ein anderes Krankenhaus in einer anderen Stadt“ mit vorläufigem Besuchsverbot aufgetischt.
Man wollte unbedingt verhindern, dass die Presse Wind von den stattfindenden Ermittlungen bekam womöglich frühzeitig Beweismittel vernichtet oder die Verdächtigen alarmiert und zur Flucht gezwungen wurden.
Bei JPs engsten Verwandten, seinen Eltern und Großeltern, erzählte man die wahre Geschichte, allerdings mit der Auflage der absoluten Verschwiegenheit und einem vorläufigen Besuchsverbot „im Interesse des Jungen“. Das war nun der erste Arbeitstag für JP und sein Rechercheteam, vermittelt von Lucky Eagle Ltd . Im Laufe des Nachmittages stellten sich alle möglichen Leute bei ihm vor, deren Namen er sich nicht merken konnte, stellten viele Fragen und verschwanden dann wieder geschäftig in einem der drei anderen Zimmer.
Hauptkommissar Holzner saß wie ein Zerberus am Tischchen neben der Eingangstür und schrieb wie wild in sein Notizbuch. Er hatte wohl schon mindestens eines ganz voll geschrieben und einen guten Vorrat an weiteren Heftchen dabei. Er würde sich nichts, aber rein gar nichts entgehen lassen. Das war sein Fall! Das war seine Show! Es war ganz offensichtlich, wenn das jemand anders sehen wollte, dann gab´s was auf die Fresse! Korbinian Holzner nimmt keiner was weg! Wenn Holzner auf die Toilette musste, machte er die Türe zu JPs Zimmer zu und wies den Polizisten vor der Glastür an, NIEMANDEN in den Raum zu lassen, bis er zurück wäre.
Das Pflegepersonal fand den Kontrollwahn vom Herrn Hauptkommissar sehr lästig und fühlte sich in seiner Arbeit behindert. Aber das war Holzner vollkommen egal. Er bestand auf Eingrenzung der Zugangsberechtigung in den „Sicherheitsbereich“ durch vorherige Festlegung der Dienstpläne beim Wachtmeister an der Eingangstür. Jalousien hochziehen kam nicht in Frage, Fenster aufmachen: nein – nur Kippen. Das Essen wurde kontrolliert, es fehlte nur noch, dass er den Vorkoster spielte. JP fühlte sich wie in einem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses. Er fand dies alles sehr übertrieben und bereute jetzt schon, dass er auf eine Bewachung bestanden hatte. Er hatte ja keine Vorstellung davon, was die Kripo daraus machen würde.
Die deutsche Polizei war sehr gründlich – halbe Sachen waren nicht drin. So ging sein erster Tag als Polizeiberater zur Neige. JP war froh, als er endlich alleine war. Holzner hatte sogar darauf bestanden im Nebenraum zu schlafen. JP stellte sich Holzner bildhaft vor, dass – so verbissen ernsthaft wie er diesen Job machte – er wahrscheinlich mit der Pistole in der Hand und voll bekleidet auf dem Bett lag, mit all seinen Sinnen die Geräusche der Nacht und des Krankenhauses nach Gefahren für seinen Schutzbefohlenen abscannte und sofort zum Eingriff bereit wäre, sobald sich der „Feind“ näherte.
Die Mailbox vom Handy war wieder mal voll. JP hatte einfach keine Lust, erst jede Nachricht anhören zu müssen, bevor man sie löschen konnte, vielleicht morgen. Mails gab es auch viel zu viele, aber da war er in der Bearbeitung routiniert und flink. Mosche bestätigte per Mail die Teilnahme von FATBOY an dem „Project Disclosure“ (mit der entsprechenden, nochmaligen Belehrung über Risiken bla, blabla ...). „Er macht’s übrigens für nur 1.000 Flocken pro Tag.“ JP wollte soeben das Licht löschen, als sein IPhone blinkte, es war stumm geschaltet. Die Rufnummer war unterdrückt. Aber wer sollte ihn jetzt, kurz vor Mitternacht, noch anrufen? Das konnte nur jemand sein, den er gut kannte. Somit ging er an sein Telefon. „FATBOY here,“ klang es an sein Ohr. Ganz offensichtlich war die Stimme wieder über einen Stimmverzerrer moduliert. JP war von den Socken.
Er hatte erst funf bis schechs Mal mit FATBOY telefoniert, sonst immer nur über PC und Text. Und das war gut zwei Jahre her. Woher hatte der Kerl seine deutsche Handynummer? FATBOY sprach amerikanisches English mit irgendeinem ausländischen Akzent. JP und FATBOY kannten sich nicht persönlich, aber JP wusste um die überragenden Qualifikationen von FATBOY im Bereich Datenbeschaffung und war extrem von dessen Arbeitsqualität beeindruckt. Unter all den Hackern dieser Welt hätte FATBOY wohl einen der allerobersten Ränge belegt. Und JP hatte Vertrauen zu ihm. Das letzte Mal hatte er sich auch beim Abrechnen sehr korrekt verhalten, auch wenn Mosche davon nichts wusste. „FATBOY, altes Haus! Lange her! Wie geht‘s Dir? Woher hast Du meine Handynummer?“ „JP, was geht hier ab? Mosche hat nur gequirlte Scheiße gebrabbelt. Wenn es nicht um Dich ginge, hätte ich keinerlei Interesse. Ich will hören – alles!“
Nach diesem zweistündigen Telefonat war FATBOY wirklich im Team! Und wahrscheinlich schon längst aktiv. JP hatte ihm noch viel mehr Details geliefert als der Polizei. Aber die hatten ja auch nicht gefragt. JP verteilte die Aufgaben zwischen Mosche und FATBOY. Sie vereinbarten, dass alle Informationen ausschließlich über JP liefen. FATBOY nahm erst mal die Lebensläufe von Franz Korber und den, von JP ausgwählten, weiteren Personen unter die Lupe dann teilte er Mosche noch schnell per Mail die Zugangscodes für „elektronische Besuche“ der Malinger Rechenzentren in Schottland und Spanien mit.
Nun war endlich Zeit, die Augen für den Tag zu schließen.