Januar 2010, München
Die Schlagzeilen waren dramatisch und reißerisch: „Schießerei in Neuperlach“, „Vernichtender Schlag gegen die Mafia“, „Zustände wie in Neapel, mitten in München“, „Zivilisten sterben im Kugelhagel“, „Das Blut der Mafia klebt an unseren Händen“, usw. usw. Kaum ein sachlich korrekter Bericht war dabei und es hörte sich mehr oder weniger an wie eine italienische Blutfehde. Der Name Malinger Autoteile wurde allerdings in keiner Zeitung erwähnt – ein herzliches Danke an den Herrn Polizeipräsidenten und gutem Golf-Freund von Herrn Malinger Senior!
Aber die Staatsanwaltschaft und einige Ermittler der Polizei gaben sich, natürlich ganz diskret, förmlich die Klinke zum Büro von Dr. Drager oder Herrn Malinger Senior in die Hand. Es wurden viele Fragen gestellt, aber die Antworten drangen nicht nach außen. JP wurde kaum befragt – nur sein filmisches „Beweismaterial“ wurde konfisziert. Die anderen Mitarbeiter bekamen von all dem nichts mit, nur das Top-Management wurde eingeweiht. Franz Korber wollte genau von JP wissen, welche Rolle in dieser Ermittlung spielte und welche Art Überwachung er vorgenommen hatte. JP erzählte ausschließlich von den versteckten Minikameras. Seine kleinen Überwachungsprogramme erwähnte er mit keinem Wort. Dr. Drager hatte davon wohl auch nichts im Management erwähnt.
Es dauerte fast zwei Wochen, bis wieder Ruhe und die gewohnte Routine einkehrte. JP bekam den Auftrag, ein Angebot für ein neues Sicherheits- und Überwachungskonzept für den Sicherheitsraum der Werkstoffentwicklung einzuholen. Der Auftrag wurde dann der Sicherheitsfirma erteilt, die schon die bisherigen Mikrokameras installiert hatten. Die drei vorhandenen Kameras wurden zusammen mit neuen Kameras außerhalb und innerhalb des Sicherheitsraumes verbaut. Das bisherige, elektronische Zugangskontrollsystem war sehr veraltet und wurde durch ein hochmodernes und effizienteres ersetzt. Zusätzlich würden Bewegungsmelder in Zukunft sofort Alarm auslösen. Der Raum und sein Inhalt waren nun wirklich sicher.
Bei dieser Gelegenheit kam auch heraus, dass Hausmeister Tozzi am Nachmittag seiner Verhaftung viele Male versucht hatte, in den gesicherten Raum zu gelangen. Zum Glück hatte der Leiter der Entwicklungsabteilung, Alois Huber, zuvor den Zugangscode geändert. Hausmeister Tozzi hatte aber den bis dahin gültigen Code verwendet. Es stellte sich nun die berechtigte Frage, wie er als Hausmeister an diese Zahlenkombination von acht Zahlen gekommen sein könnte. Es blieb ein ungeklärtes Rätsel und der Verdacht auf einen Insider-Informanten blieb bestehen.
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Diese Art Publicity war nicht geplant und gar nicht gut! Eine Verhaftung war der Supergau schlechthin! Donatelli, „La Pulcinella“, war ein Gangster und für seine professionelle Job-Erledigung bekannt. Er war auch dafür bekannt, ein „harter Hund“ zu sein und niemals jemanden zu verpfeifen. Es war ganz und gar nicht geplant, dass er einen „Subunternehmer“ einsetzen und den Job nicht selbst erledigen würde. Die Hinweise des Informanten bei der Polizei waren alarmierend. Anscheinend lag Donatelli im Gefängniskrankenhaus und war, bedingt durch den Tod seiner Freundin, völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Sie war wohl sein weicher Kern und der einzige Mensch, den er wirklich geliebt hatte. Anscheinend war ihm nun Vieles völlig gleichgültig. Er war schwermütig und hatte sich aufgegeben. Er hatte seinen Anwalt beauftragt, einen „Deal“ mit dem Staatsanwalt auszuhandeln: Ausreise gegen Informationen.
Der harte Hund „La Pulcinella“ wollte für seine jämmerliche Freiheit auspacken und singen wie ein Vögelchen. Geschwätzigkeit konnte den großen Masterplan gefährden. Niemand war sich sicher, was genau dieser „La Pulcinella“ wirklich wusste. „La Pulcinella“ war nicht allzu blöde, nein er war schlau wie ein Fuchs und wusste vielleicht mehr, als man dachte.
Eine derartige Gefahr war nicht akzeptabel – schon gar nicht jetzt, so kurz vor dem großen Deal. Eine neue Prepaid-SIM-Karte wurde ins Handy geschoben. An die spezielle Handynummer wurde eine SMS mit folgendem Text geschickt: „Verkaufe sofort 50 Nelken.“ Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und war ebenso kurz: „Kaufe“
Dann wurden 58 Sekunden telefoniert und die Details besprochen. Fotos, Aufenthaltsort und 50 % Anzahlung waren ab morgen im geheimen Briefkasten hinterlegt.
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„La Pulcinella“ saß in seinem Krankenbett. Irgendwie hatten sie ihn wiedermal zusammengeflickt. Es war nicht seine erste Schussverletzung. Eine Kugel im rechten Arm, eine im rechten Bein und ein Durchschuss an der linken Bauch-Außenseite – zum Glück ohne gröbere innere Verletzungen der Organe. Aber all das interessierte ihn nicht wirklich!
Rosanna war tot! Ihretwegen war er ausgebrochen, ihretwegen hatte er die letzten Jahre immer weitergemacht und für sie hatte er immer das viele Geld verdient. Mit ihr wollte er abhauen und eine Familie gründen, er wollte Kinder, zwei Jungs und ein Mädchen. Sie hatte ihr Drogenproblem inzwischen bewältigt, sie war clean und nun wollte auch sie unbedingt Kinder, mit ihm! Der Name „La Pulcinella“ sollte innerhalb der Camorra für immer verschwinden und einem neuen Namen Platz machen – Carla und Antonio Lombardi – dies waren die Namen auf den falschen Pässen und unter diesem Namen hätten sie ein neues Leben, ein glückliches Leben, in Chile anfangen können. Eine kleine Hazienda mit ein paar Rindern in Feuerland und in ein paar Jahren hätte ihn auch die Camorra vergessen und er hätte all den Mist und seine üble Vergangenheit begraben und hinter sich lassen können. Für immer! Rosanna wollte nichts von seiner Vergangenheit wissen, ihn aber immer wieder davon abbringen. Aber sie brauchte immer so viel Geld für ihre verdammte Sucht. Da war „Wegschauen“ der einfachste Weg.
Seit sie nun clean war, war das anders geworden: Sie wollte all den Mist nicht mehr. Sie wollte, dass er aufhörte. Sie wollte mit ihm fliehen, weit weg – Chile, Hazienda, Kinder! Das war zuerst nur ihre Idee, aber diese Idee war mittlerweile auch zu seiner fixen Vision geworden. Dafür hatte er in dem vergangenen Jahr alles vorbereitet – Pässe, Geld, Kauf der Immobilie etc. Er hatte gedealt, erpresst, gemordet – sofern die Kasse stimmte, war er immer mit dabei. Die Sache mit den geheimen Unterlagen von dieser deutschen Firma sollte sein letzter Coup sein. Die 35.000,- Euro waren ein willkommener Beitrag für seine Reisekasse nach Chile. Aber nun war Rosanna tot! „La Pulcinella“ war zutiefst verzweifelt. Er wusste, Aussagen bei der Polizei würde Rosanna wohl gefallen, wenngleich es seinen sicheren Tod bedeutete, sofern er nicht das Land verlassen konnte. Aber der Tod erschien ihm im Moment sehr verlockend.
„Oh Tod, Du süßer Erlöser, nimmst Schmerz und Pein!
Verdunkle den Raum, füg Wund mir zu und nähre mich mit Melancholie und tiefer Qual.“
Wo hatte er dies bloß aufgeschnappt – Gedanken dieser Art schossen ihm durch den Kopf.
Der Staatsanwalt hatte ihm das Recht zur Ausreise in Aussicht gestellt, sofern seine Informationen interessant genug wären. Aber genau da lag das Problem! „La Pulcinella“ hatte wenig Brisantes anzubieten. Schon gar nicht zu der Sache mit den Unterlagen dieser deutschen Firma. Er hatte den Auftrag erhalten, das Material zu beschaffen, und hatte dafür diesen Hausmeister-Trottel erpresst. Er hatte gedroht, dem kranken Kind sein steriles Zelt wegzunehmen und es damit letztendlich umzubringen. Er kannte Tozzi noch aus Neapel und diese Möglichkeit, einen Anderen die Drecksarbeit erledigen zu lassen und nicht mal was dafür bezahlen zu müssen, war einfach zu verlockend gewesen.
Dennoch: Er hätte es lieber selbst machen sollen. Tozzi hatte es verpatzt und ihm die Polizei auf den Hals gehetzt. Aber ganz ehrlich: Er wusste weder, welcher Art das Material war, wofür es gut sein sollte und wer es oder gar wofür es verwendet werden sollte.
Und mit all den anderen Dingen im Zusammenhang mit der Camorra war es nicht viel besser. „La Pulcinella“ hatte den Ruf eines „harten Hundes“, der nie jemanden verpfeift! Aber in Wahrheit war der harte Hunde nur eine Maskerade und gut gespielt - „La Pulcinella“ konnte gar niemanden Wichtigen verpfeifen, weil er nichts Wichtiges wusste und selbst vollkommen unwichtig und entbehrlich war.
„Capo Pulcinella“, das war er nur für die ganz unterste Riege in der Nahrungskette – innerhalb der Organisation war er nur der Mann fürs Grobe, für die dreckigen, gut bezahlten Jobs – aber nicht viel wichtiger als eine räudige Katze auf den Straßen Neapels. Das bisschen, das er tatsächlich über die Organisation der Camorra wusste, würde nicht reichen, um dafür eine Flasche Rotwein einzutauschen, geschweige denn, um ihm freies Geleit ins Ausland zu erkaufen.
„La Pulcinella“ blickte von seinem Krankenbett durch die vergitterten Fenster auf mehrere Flachdächer gegenüberliegender Bürogebäude. Die Wintersonne des späten Nachmittages schien ihm ins Gesicht und blendete ihn. Die Situation war übel! Er wollte und hätte gerne mehr verraten, konnte aber nicht, weil er nichts anzubieten hatte.
Interessiert nahm er ein kurzes Blitzen auf einem der Flachdächer gegenüber wahr. Irgendwie registrierte er noch ein kleines, kreisrundes Loch im Fenster. Dann war es schlagartig finster.
„La Pulcinella“ – der Name innerhalb der Camorra war verschwunden! Sein Hirn und Schädelteile klebten breitflächig an der Wand und folgten brutal dem Gesetz der Schwerkraft und tropften langsam nach unten, in Richtung Fußboden ...
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Der sportliche, große Mann packte mit professionellen und flinken Griffen sein Scharfschützengewehr mit Schalldämpfer und dem Präzessionsfernrohr in die längliche, schwarze Sporttasche. Ohne Hast stieg er in den wartenden Fahrstuhl, dessen Tür – durch ein Klebeband über dem Lichtstrahl im Türrahmen – sich bis jetzt nicht hatten schließen können. Er fuhr geradewegs in die Tiefgarage und legte seine Sporttasche in den Kofferraum des gestohlenen Autos. Niemand war ihm begegnet. Dann ging er gemächlichen Schrittes in das Erdgeschoss und verließ das Gebäude durch den Haupteingang in Richtung U-Bahn. Die ersten Sirenen von Einsatzfahrzeugen waren aus der Ferne zu hören.
Das Angebot war klar: „Verkaufe sofort 50 Nelken.“ „Nelken“ war das Codewort für Ermordung, die Zahl davor für Euro in Tausendern. „Verkauf“ war eine Art Ausschreibung. Also im Klartext: „Biete 50.000 € für einen sofort auszuführenden Mord.“ Das war der Deal. Die Unterlagen im geheimen Briefkasten waren detailliert und hilfreich. Er hatte den Job angenommen und den Job erledigt. Kurz vor der U-Bahn zückte er sein Handy und verschickte eine SMS an die Nummer des Prepaid-Handys: „Erledigt“.
Den gestohlenen Wagen holte soeben ein Junkie gegen ein Trinkgeld aus der Tiefgarage ab. Den Autoschlüssel hatte er ihm auf dem Weg zur U-Bahn zugesteckt. Timing war alles. Die Gummihandschuhe wurden in zwei verschiedenen Müllbehältern in der U-Bahn Station entsorgt. Mit dem Junkie in dem gestohlenen Auto war er in genau 30 Minuten einige U-Bahn Stationen entfernt verabredet. Das Scharfschützengewehr würde er später aus dem Kofferraum entnehmen und dann den Wagen im tiefsten Wald in Brand stecken. Die vollen Benzinkanister dafür lagen im Kofferraum seines eigenen Wagens, der bereits dort parkte. Eventuelle Beweise würde dann auch das beste polizeiliche Labor keine mehr finden.
Präzision und Vorausplanung waren das Geschick des Profis. Und Profi, das war er durch und durch.