26. März 2010, München
Franz Korber dachte an Selbstmord! „Doc“, dieses Schwein ließ ihn nicht ziehen und einfach nicht in Ruhe! Vernichtung seiner Existenz war eine sehr ernst gemeinte Drohung! „Doc“ würde dies, daran bestand kein Zweifel, durchziehen! Der gestrige Donnerstag war die Hölle für Franz. Am Mittwochabend wollte er kündigen, er wollte als Sieger aus „Doc`s“ Büro kommen und erhobenen Hauptes die Firma verlassen, am liebsten sofort und für immer. Wenn man mit einer Sache erst mal abgeschlossen hat, dann will man nur noch weg – sofort! Und was war geschehen? Diese kalte Hundeschnauze hatte wieder gewonnen! Das Video mit ihm und seinen beiden Lovern war gar nicht mal schlecht – thematisch und filmerisch – aber es war einfach der falsche Schauspieler drauf. Er war drauf. Und er, Franz Korber, musste wie ein geprügelter Hund das Werk verlassen. Eingefangen und erpresst von diesem Schwein „Doc“!
Franz raste zuerst vom Werkshof, ging dann in den englischen Garten runter zur Isar, an die Stelle unter der Brücke, wo immer ein paar Stricher auf Freier warteten und ließ sich auf brutalste Art durchficken, bis er kaum noch stehen konnte. Seine Knie waren wund, sein Arsch war wund, seine Seele war wund, aber der unglaublich tiefsitzende Zorn wollte einfach nicht weniger werden. Die ganze Nacht ist er durch diverse Bars gezogen und hat sich unglaublich besoffen. So besoffen, wie schon sehr lange nicht mehr. Sogar das Rauchen hatte er wieder angefangen. Er war mit sich und der Welt am Ende.
Seiner Frau hatte er von einem Notfall im Rechenzentrum erzählt und gesagt, er würde diese Nacht nicht nach Hause kommen. Das ist schon früher vorgekommen. Sie würde es glauben. Und falls nicht, an diesem Abend war ihm das auch egal. Was hatte er schon zu verlieren? Donnerstag war er tatsächlich um die Mittagszeit im Office. Er war immer noch stark betrunken, trotz der vier doppelten Espressi, der kalten Dusche und sonstigem Nüchternmacherzeugs, das man ihm an der Hotelbar zu trinken gab... Aber er ging ins Büro! Wie auch immer! Er wollte dem fiesen Doc-Schwein keinerlei Triumph gönnen. Irgendwie ging der Tag vorüber; Franz wusste nicht so recht wie. JP kam irgendwann am Nachmittag vorbei und fragte ob er zwei Tage Urlaub haben könne.... Franz zeichnete den Urlaubsschein wie eine Marionette ab und wusste nachher gar nicht mehr, was er überhaupt unterschrieben hatte.
Franz´ Denken kehrte zurück zu dem verdammten Video. Für seine Frau würde mit diesem Video eine Welt zusammenbrechen – und dann: Frau weg, Kinder weg, Existenz weg! Sein Leben wäre nicht mehr, wie er es wollte. Er wollte gerne eine intakte Familie! Seine dunkle Seite wollte er nicht, aber er konnte sich gelegentlich einfach nicht dagegen wehren. Ein paar mal im Jahr musste es einfach sein, bisher nur außerhalb Münchens, aber jetzt – was sollte er schon verlieren. Vielleicht, ganz tief in seinem Inneren, hoffte er irgendwie sogar, dass sie es merkte – dann wäre er nicht mehr erpressbar. Anderseits, wie konnte er dies seinen Kindern nur antun? Sie würden es nicht verstehen. Seine Frau würde es nicht verstehen, seine Freunde, Eltern und Geschwister auch nicht.
Er musste einen anderen Weg finden. Selbstmord! Das erschien ihm sehr vernünftig und auch konsequent und verantwortungsvoll! So etwas konnte man sorgfältig planen und Franz mochte es gerne, alles genau zu planen. Er hatte eine Lebensversicherung für den Fall seines Ablebens, aber die war nicht hoch genug, um für Frau und Kinder für die nächsten 20 Jahre zu sorgen. Nein, die Police musste drastisch aufgestockt werden. Und genau das hatte er heute am frühen Morgen mit seinem Versicherungsvertreter geregelt. Auf vier Millionen Euro im Todesfalle vor dem 55. Lebensjahr – das klang gut und vernünftig! Aber so lange würde es nicht mehr dauern, er würde diese Sache in den nächsten Monaten erledigen und er würde es irgendwie wie einen Unfall während der Arbeit aussehen lassen, dann gab es auch noch eine satte Firmenrente für seine Frau. Im Normalfall würde er sich diese zusätzlichen, monatlichen Versicherungsraten gar nicht leisten können, aber was soll´s es war ja nur für kurze Zeit. Und noch einen weiteren dramatischen Entschluss hatte Franz Korber gefasst: Er würde diese Schweine „Doc & Co“ vernichten – und nicht umgekehrt! Er würde alle Beweise seiner ausgeführten EDV-Manipulationen der Bilanzen, aller Steuerhinterziehungen und fiktiven Gehälter von Zeitarbeitsfirmen gnadenlos und zu gegebener Zeit an die Polizei weiterleiten. Franz hatte immer schon vorgesorgt und die echten, alten Daten vor seiner Manipulation zu keinem Zeitpunkt gelöscht und sie sorgfältig aufbewahrt. Er konnte beweisen, dass im Laufe der vergangen vier Jahre durch „Doc & Co“ mindestens 20 Millionen Euro veruntreut und gestohlen wurden.
Franz war kein Kaufmann, er hatte es nie nachgerechnet und er wollte es auch nie wirklich genau wissen. Aber so in etwa kam das schon hin. Beim Kauf von ausländischen Tochtergesellschaften in Polen hatte Franz auch seine Verdachtsmomente, aber da konnte er nichts beweisen. Er fand nur jedes Mal die übernommene EDV dieser neuen Tochtergesellschaften in äußerst schlechtem Zustand vor und er fand regelmäßig manipulierte, zum Teil sehr schlecht manipulierte Daten. „Doc“ wusste das immer und verbot Franz, diesen Dingen nachzugehen. Bei der spanischen Tochter war komischerweise keinerlei Datenmanipulation vorgenommen worden und die schottische Firma war lange vor seiner Zeit bei Malinger gekauft worden. Franz war nie in die Details der Manipulation abgetaucht und hatte auch nicht versucht, diese Dinge ans Licht zu bringen. Franz wusste nur, „Doc“ war wahrscheinlich der Kopf beim Betrug in Deutschland, der Schwiegersohn vom alten Malinger in Schottland hing auch irgendwie mit drin und dann musste es einfach noch jemanden geben, von dem er nicht wusste, wer es war. Sonst kann man ein Ding dieser Dimension einfach nicht durchziehen. Aber Franz wollte nie all die Zusammenhänge und alle Details wissen. Ihm war es genug zu wissen, dass gewisse Datensätze regelmäßig manipuliert werden mussten. Er hatte dafür eigens kleine Programme geschrieben, die Dateneingänge, Buchungen und dann sichtbare, auswertbare Daten gekonnt manipulierten. Franz hatte die Manipulationen auf der EDV Ebene verantwortet und vergleichsweise ein Trinkgeld und natürlich das Schweigen gegenüber seiner Familie wegen seiner sexuellen Vorlieben dafür bekommen. Aber sein abbezahltes Haus, sein schönes Auto und ein paar wunderbare Urlaube waren dabei für ihn durchaus rausgesprungen.
Aber er wollte das nicht mehr! Wenn er erst mal tot war, hatte niemand mehr einen Grund, das Video seiner Frau vorzuspielen. Er würde seine gesammelten Beweise zeitverzögert, nach seinem Tod, an die Polizei schicken. Er konfigurierte sein Zeitverzögerungsscript so, dass er alle 15 Tage den Timer, zurücksetzen musste. Das konnte er auch von außerhalb erledigen, sofern er mal länger im Urlaub sein wollte. Nach Ablauf des Timers würden mit genau 15-tägiger Verzögerung automatisierte E-Mails mit Zugriffsdaten zu seinen diversen Archiven an die Polizei rausgehen. Also spätestens 30 Tage nach seinem Ableben würde seine Informationsbombe platzen. Er hatte sich zu diesem Zweck zehn sehr unterschiedliche E-Mail Adressen von hochrangigen Polizeibeamten besorgt, damit seine E-Mails mit Sicherheit bei einem der zuständigen Beamten landen und zu Untersuchungen führen würden. Dann wären diese Mistkerle in der Firma erst mal mit dem Retten ihrer kriminellen Hintern beschäftigt. Man würde natürlich herausfinden, dass er, Franz Korber, maßgeblich beim Manipulieren der Bücher mitgewirkt hatte.
Aber: Er würde bei den Beweisen hinterlegen, dass er unter Androhung des Lebens seiner Familie zu dieser Mitarbeit gezwungen wurde. Diese Beweismittel hatte er auch schon im Laufe der Jahre besorgt, indem er mehrere Gespräche mit dem „Doc“ aufgezeichnet und dann so zusammengeschnitten hatte, dass nur noch die massiven Drohungen gegen das Leben seiner Familie übrig blieben. Diese Dateien waren auch in seiner „privaten Storage Unit“, wie er sein Datenversteck immer nannte. Auf diese Weise konnte er wenigstens sein Gesicht gegenüber den wichtigsten Menschen und seiner Familie wahren. Ja, das klang nach einem guten Plan!
Im Malinger Rechenzentrum in München hatte sich Franz ein paar Terrabite Daten für seine persönlichen Archive abgezweigt. Er hatte acht angelegt – jeweils eines für einen sechsmonatigen Zeitraum. Franz hatte mehrere, sehr ausgeklügelte Zugriffs-Sicherungsebenen eingebaut, um sie vor ungebetenen Besuchern zu schützen. Seine Mitarbeiter in der Abteilung, besonders Sebastian und JP, waren alle sehr fit, auch im Knacken von Zugriffscodes, aber Franz hatte sich auf Kosten der Firma Malinger das beste Zugriffssicherheitsprogramm gekauft, das es für Geld gab. Daran wäre jeder ihm bekannte IT-Spezialist gescheitert. Damit wurden Nationalbanken, große Versicherungen und militärische Einrichtungen geschützt. Nicht einmal JP Santa Cruz traute er zu, bis an seine geschützten Dateien durchzudringen – und der Junge war wohl der beste Spezialist, den er persönlich jemals getroffen hatte. Auch wenn JP immer so tat, als ob er niemals ein Programm hacken würde, so war das sicherlich nur gespielt und vorgetäuscht. Wenn JP es nur wollte, dann konnte er irgendwann absolut alles knacken. Aber für die Zugriffe auf die geschützen Dateien von Franz würde sogar er mindestens ein paar Monate für jedes einzelner seiner acht Archive brauchen.
Es sei denn... Ja, das war eine gute Idee – das machte er am Besten gleich, bevor er es wieder vergaß...
JP mußte Teil seines Enthüllungsplanes werden! Dieser Junge würde ganz sicher die Öffentlichmachung der Gaunereien veranlassen, nur für den Fall, dass die offiziellen EMails an die Polizei doch nicht die gewünschten Untersuchungen auslösen sollten... Man weiss ja nie, die Drahtzieher waren mächtig und einflußreich. Aber an JP würden sie nicht denken....
Als Franz gerade an JP dachte, fiel ihm unvermittelt das äußerst clevere und hoch effiziente Hochverfügbarkeitskonzept ein, das dieser vor ein paar Monaten für alle Datenbanken konzernweit eingeführt hatte. Franz dachte anfänglich, dass dies nur eine Spielerei des Jungen sei und irgendwie mit dieser fantastischen IBM-Informix-Datenbank-Liebe von Santa Cruz zusammenhing. Erst als alles bereits installiert war und vom ersten Moment an unglaublich perfekt und stabil lief, war er derart begeistert, dass er daraufhin seine gesamte Datenbankstrategie konzernweit überdachte und alle Anwendungen in nächster Zeit ausschließlich auf Informix umstellen ließ. Wenn JP Santa Cruz von etwas derart begeistert war, dann nur deshalb, weil er die fachliche Kompetenz besaß, es tatsächlich zu bewerten und mit anderen Produkten abzugleichen. Seine Entscheidung war nicht fanatisch-emotional, sondern ausschließlich analytisch-rational. Und genau dieses Hochverfügbarkeitskonzept mit gespiegelten Daten und Speicher-Platten setzte Franz nun auch für seine „private Storage Unit“ und „geheimen Back-up Dateien“ um.
Aber ein Datenpaket dieser Größenordnung konnte nur in einem der zwei Konzernrechenzentren außerhalb Münchens hinterlegt werden. Franz unterstanden auch die beiden anderen Rechenzentren. Schottland war ihm zu heiß – der Schwiegersohn und Komplize vom Doc war dort – mann konnte nie wissen. Spanien war gut. Die IT-Kollegen dort waren faul und hatten wenig fachliche Kompetenz. Die Maschinen waren ohnehin weit überdimensioniert und es gab genug Speicherplatz für ein paar zusätzliche Terrabites. Er konfigurierte das System so, dass jeweils am Donnerstag nachts zwischen 23:50 und Freitag 3:55 Uhr eine komplette Datenspiegelung aller seiner persönlichen deutschen Daten auf die spanischen Systeme durchgeführt wurde. Zu diesem Termin erfolgten ohnehin automatisierte Abgleichroutinen zwischen den Rechenzentren und da fiel Derartiges am wenigsten auf.
Franz war hoch zufrieden mit seinem Plan! Er war klar strukturiert, folgte einer Zeitlinie und hatte ein definiertes Endergebnis. Franz war jahrelang Projektleiter gewesen und mochte derart gut geplante Projekte. Gute Ergebnisse konnte man nur mit genauer Planung erreichen! Jetzt blieb nur noch die akribische Planung seines eigenen Ablebens.