Kapitel II

Die Vorbereitung

 

München, Herbst 2009

 

Die Malinger IT-Abteilung war momentan wohl die einzige Abteilung im Unternehmen, die nicht über Arbeitsmangel klagen konnte. Irgendwie schien jede andere Abteilung Zeit für Aufräum- und strukturelle Änderungsarbeiten zu haben und bombardierte die IT-Abteilung mit Projekten zum Zwecke der Kostenersparnis und Prozessoptimierung und wohl auch zum „Erhöhen der eigenen Sichtbarkeit“. Weltwirtschaftskrise! Verursacht durch wilde Bankenspekulationen. Es herrschte keine gute Stimmung in der Firma Malinger Autoteile GmbH & Co. KG und jedermann hatte immer mehr Angst um seinen Job. Die Automobilindustrie hatte es besonders schlimm erwischt! Die staatliche Abwrackprämie hatte ein bisschen geholfen und das Geschäft kurzzeitig vor dem Absturz bewahrt. Aber es war eben nur kurzzeitig.

      Deshalb wollte jeder Bereichsleiter irgendwie beweisen, dass er besonders gute Ideen beitragen, seine Abteilung optimieren, rationalisieren und damit wirtschaftlicher machen konnte. Und die IT-Abteilung sollte all diese Wunder vollbringen, natürlich ohne Kosten zu verursachen. Es hätten für einige Projekte dringend externe Spezialisten hinzugezogen werden müssen, aber das war im Moment nicht gestattet. Und IT-Wunder, ohne Geld in die Hand zu nehmen – das war natürlich ein irrwitziges Ansinnen, aber für einige Abteilungen wohl eine Art Hoffnungsschimmer und das Licht am Ende des Tunnels, zumal sie meistens keine Ahnung von der Komplexität und dem Aufwand ihrer Wunschvorstellungen hatten. Aber Grashalme können nicht Ertrinkende retten. Und so hatte Franz Korber häufig die undankbare Aufgabe, das Glitzern der Hoffnung aus den Augen der Bereichsleiter vertreiben zu müssen. Er und sein Team konnten nicht zaubern, wenngleich sie durchaus viele kleine Wunder mit den vorhandenen Ressourcen vollbrachten und viele Optimierungen und Verbesserungen in kurzer Zeit umsetzen konnten.

 

***

        

JP mochte die kalte Jahreszeit, den Herbst und auch den Winter. Die Tage wurden kürzer, die Blätter der Bäume verfärbten sich, der erste Schnee fiel schon in den Bergen. Aber JP mochte eigentlich jede Jahreszeit! Er war pragmatischer Genießer dessen, was die Natur gerade zu bieten hatte. Nun, im Herbst, zog sich die Natur in sich zurück und bereitete sich auf eine Ruhepause und einen Neubeginn in ein paar Monaten vor. Die Feuchtigkeit der Böden stieg auf und verdichtete sich sogleich wieder als Nebel, das Licht wurde diffus. Die Nächte wurden lang und kalt und so wurden die Flüsse auch wieder klar und führten wenig Wasser. Der späte Herbst war die perfekte Zeit für die feine Trockenfliegen-Fischerei auf Äschen und JP verbrachte mehr als sonst seine freie Zeit am Wasser. Die Flüsse Isar, Mangfall, Wertach, Loisach, das waren seine bevorzugten Reviere rund um München und dort verbrachte er viele der frühen Morgen- und der spätnachmittäglichen Stunden, bis zum Bauch im Wasser, vor Feuchtigkeit und Kälte geschützt durch seine Wathose und mit seiner feinen Fliegenrute aus den Hause Hardy bewaffnet, auf der Pirsch nach Forellen, Saiblingen und vor allem den Äschen. Thymallus thymallus, der lateinische Name der Äsche, ist ein feinfühliger, großschuppiger, starker Fisch aus der Familie der Salmoniden. Kennzeichen: Bis zu 10 cm lange Rückenflosse, kann bis maximal 55 cm groß werden, stellt sich gerne direkt in die starke Strömung und ist sehr fleißig bei der Suche nach Insektennahrung. Allerdings ist er auch extrem wählerisch, vorsichtig und misstrauisch und daher eine echte Herausforderung und zugleich Belohnung für den anspruchsvollen Fly-Fischer.

JP liebte die feine Fliegenfischerei, speziell mit Trockenfliegen (auf dem Wasser schwimmende Insektenimitationen) und speziell auf Äschen! Diese Fische, die gelegentlich nach an der Oberfläche treibenden oder ablaichenden Insekten aufsteigen, faszinierten ihn, zumal sie nicht so einfach zu überlisten waren. Die Äsche beobachtet dabei von ihrem festen Standplatz am Gewässerboden genau die Wasseroberfläche. Sie steigt blitzschnell auf, wenn ein entsprechendes Insekt in ihr Gesichtsfeld kommt und mit der Strömung treibt, um sich einen kleinen Happen zu gönnen und sich dann wieder still an den vorherigen Standplatz am Boden zurückzuziehen. Aber die Äsche ist nicht nur fleißig im Sammeln von kleinen Insekten und sie muss wahrhaft überlistet werden. Schon bei der kleinsten Unregelmäßigkeit – zu schnelle Drift, falscher Köder, zu schnelle oder zu langsame Reaktion des Fly-Fischers, und schon wird der „falsche Braten“ erkannt und ein Biss verweigert. Häufig ist in dieser „höchsten Kür“ der Fisch Sieger und der Fischer geht leer aus. Das Geschick des Fliegenfischers, seine vorsichtigen Bewegungen am Wasser und die perfekte Insektenimitation, entsprechend animierend und vorsichtig präsentiert – alles musste passen, um eine kapitale Äsche von einem künstlichen Köder zu überzeugen und zu haken. Aber die anspruchsvolle Vorarbeit und das Frieren im eiskalten Flusswasser werden dann belohnt mit einem zart nach Thymian schmeckenden Fisch, sicherlich der Höhepunkt der nächsten Mahlzeit.

Am besten schmeckte die Äsche als Filet, sanft in Trüffelbutter gebraten, dazu ein paar Salzkartoffeln oder gedünstetes Fenchelgemüse und ein trockener Chablis oder ein österreichischer Welschriesling aus der südlichen Steiermark. JP war ein sehr geschickter und deshalb auch erfolgreicher Fly-Fischer. Aber er war auch ein sehr guter und phantasievoller Koch, der zusätzlich zu seinen Kochkreationen seine Gäste mit erlesenen Weinen, witzigen Erzählungen und einer sehr geselligen Stimmung verwöhnte. Seine Einladungen zum Fischessen waren allgemein begehrt und jedermann, der irgendwie die Chance bekam dabei sein zu dürfen, sah es als große Ehre und hätte ohne Zögern jede andere Vereinbarung mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede abgesagt. Mal Familie, mal verschiedene Freunde, mal „noch-nicht, nicht-mehr, schon-wieder, immer-noch“ Freundin, das waren seine jeweiligen Essensgäste. Der ständige Wunsch nach „baldiger Wiederholung“ gab JP immer wieder gute, neue Gründe, um für frischen Fisch sorgen zu müssen. Dabei bemühte er sich, möglichst wenig einzufrieren und maximal mit ganz frischen Forellen, Äschen, Saiblingen, Hechten, Zander etc. aufwarten zu können. Klarerweise waren damit seine Einladungen immer sehr kurzfristig und spontan.

JP hatte große Hochachtung vor der Natur und ihren Kreaturen und hatte es sich zum Prinzip gemacht, pro Fischtag und pro Gewässer nur einen großen Fisch zu entnehmen. Durch die Größe seiner Forellen und Äschen waren JPs Essenseinladungen üblicherweise auf zwei bis maximal vier Personen begrenzt. Bei Hechten oder Zander waren die Fische natürlich größer und da kamen auch schon mal sechs bis acht Personen auf die Einladungsliste. Aber mehr Platz hatte er an seinem Esstisch ohnehin nicht. JP genoss diese gemeinsamen Abende in geselliger Runde. Mehr als einmal konnte er, vielleicht auch dank seiner Koch- und Bewirtungskünste, die eine oder andere bisherige „lockere Freundin“ spontan dazu motivieren, gleich bis zum Frühstück bei ihm zu bleiben. JPs Privatleben war voll im Lot. Er hatte Zeit für seine Hobbys, natürlich war ihm das nie genug Zeit, aber es war OK, so wie es war. Der Job machte ihm tierischen Spaß, auch wenn es zur Zeit sehr herausfordernd und stressig war und seine Freunde traf er so oft es irgendwie ging. Nur seine engste Familie kam ein bisschen zu kurz.

JP war ein Familienmensch, schaffte es aber beim besten Willen nicht, seine zwei Schwestern, Oma/Opa, Mama/Papa, Tante/Onkel und Cousins öfter als alle acht bis zehn Wochen persönlich zu treffen. Die Verwandten im Ausland sah er vielleicht einmal pro Jahr, meist nur anlässlich irgendwelcher Familienfeiern wie runden Geburtstagen, Hochzeiten, Trauerfällen etc. Seine Münchner Familienmitglieder sah er ab und an zwischendurch auf einen schnellen Kaffee oder einen kleinen Snack irgendwo in der Stadt. Seine beiden Zwillingsschwestern übernachteten gelegentlich bei ihm, sofern es ihr jeweiliges Studium zuließ und sie Lust auf das Münchner Nachtleben hatten. Aber dann bekam er sie kaum zu Gesicht, da sie abends ständig mit ihren Freunden unterwegs oder auf Partys waren. Die freie Zeit war einfach zu wenig, um allen gerecht zu werden. Auch das Projekt „feste“ Freundin kam irgendwie zu kurz. Sicher, er hatte drei gelegentlich bei ihm übernachtende Sexualpartnerinnen und noch eine Freundin in Paris, die er allerdings nur ein- bis zweimal pro Jahr treffen konnte, aber das war es nicht, wonach er wirklich suchte. JP war immer sehr ehrlich und korrekt zu seinen Affären und machte, zumindest nicht absichtlich, keiner Frau jemals unfair Hoffnung auf eine feste Verbindung. Er war irgendwie immer noch nicht bereit dafür. Dennoch, er hätte sich viel lieber innig verliebt und in Richtung gemeinsamer Zukunft geplant. Aber er konnte es einfach nicht erzwingen. Und so blieb ihm nichts übrig, als geschickt eine zu große Annäherung vonseiten der Freundin zu vermeiden und seine Termine so zu koordinieren, dass sich die Frauen möglichst nicht über den Weg liefen. Meistens gelang dies. Wenn nicht, setzte es auch schon mal ein blaues Auge.

 

***

 

Franz Korber hatte einen Termin bei der Geschäftsleitung. Er brauchte dringend Budget für einige sinnvolle, wenn auch teure IT-Projekte. Z. B. die Einbindung und Integration der veralteten Fertigungssysteme und Produktionsstraßen in den Werken an die Lagerverwaltungs- und an die SAP-Software. In diesem Bereich musste noch unnötig viel per Hand gemacht werden und dies war einfach nicht mehr zeitgemäß, führte zu Fehlern und kostete somit Geld. Natürlich war der Zeitpunkt denkbar schlecht und natürlich subventionierte die Firma im Moment viele andere Bereiche mit Reserven, aber man musste unbedingt in die Zukunft schauen und entsprechend modernisieren. Sonst verpasste man den Anschluss und wäre nicht mehr wirtschaftlich oder konkurrenzfähig. Die Verhandlungen waren zäh und langwierig. Wie immer wenn es um Geld ging.

Der alte Herr Malinger war zwar sehr modern eingestellt, aber er war auch ein vorsichtiger und vernünftiger Geschäftsmann. Die restliche Geschäftsleitung war in ihrer Meinung gespalten und völlig uneins. Letztendlich wurde die Entscheidung auf das nächste Geschäftsjahr verschoben. Dann lägen die finalen Zahlen aus 2009 vor und vielleicht könnte man dann wieder positive Signale zur Auftragslage und ein Abflauen der Wirtschaftskrise erkennen.

Verhandlungen dieser Art strengten Franz mehr und mehr an. Dieses ewige Lamentieren, taktieren und argumentieren war nicht sein Ding. Er sehnte sich beinahe zurück an die Zeit, wo er nicht Chef der IT, sondern nur einfacher Mitarbeiter war. Damals wurde ihm konkret ein Projekt übertragen und er konnte sich an die Umsetzung machen. Einzig das Wie und das Wann hatten ihn zu interessieren. Ja, ja, das waren noch Zeiten. Aber jetzt war er müde und abgespannt. Er wollte für sich persönlich eine Belohnung und die würde er sich nun auch gönnen. Aber das ging nicht in München, dafür musste er für seine Frau und die Kinder eine kleine, unerwartete „Dienstreise“ zu einem seiner Zulieferer erfinden. Er würde zwar angeben, nach Ingolstadt zu fahren. Allerdings war Augsburg sein Ziel.

Die Telefonnummer war schnell gewählt und der Treffpunkt vereinbart. Seine persönliche Belohnung war nun zum Greifen nahe, und so machte Franz sich auf den Weg.

 

***

 

Franz Korber bemerkte nicht, wie sich ein schwarzer Mercedes an seine Fersen heftete und ihm, in entsprechendem Abstand, bis zu seinem Treffpunkt in Augsburg folgte. Franz war viel zu euphorisch und sicherlich auch zu blauäugig, um einen Verfolger zu bemerken oder überhaupt daran zu denken.

 

***

 

Es war Ende November und Franz Korber war für zwei Wochen im Urlaub. JP war mit einem Spezialprojekt zur Verbesserung der Datenqualität der verschiedenen Anwendungen innerhalb aller Malinger-Gruppen voll ausgelastet und war in diesen Tagen einer der stillsten Mitarbeiter der IT-Abteilung, da er sich intensiv konzentrieren und die sehr komplexe Materie durchdenken und zusammenfassen musste. Er hatte schon durchaus sehr gute Ansätze gefunden und arbeitete fieberhaft an dem entsprechenden Umsetzungs- und Projektplan, den er Franz Korber sofort nach dessen Rückkehr präsentieren wollte. Natürlich war auch dies mit initialen Investitionskosten verbunden, die sich allerdings binnen eines Jahres amortisieren konnten.

         Dennoch musste jegliche Art von Ausgaben im Moment sehr gut begründet werden und Franz hatte im Moment wenig Spielraum für eigene Entscheidungen. Die Geschäftsleitung ließ sich jeden Cent zur Freigabe vorlegen und musste jedes Mal und sehr mühsam überzeugt werden. Hier klafften natürlich technisches Verständnis, Idealvorstellung und reine Wirtschaftlichkeit weit auseinander und Franz hatte in den letzten Wochen häufig den Kürzeren gezogen. Seine Vorschläge wurden abgelehnt bzw. "geparkt“, wie er gerne sagte. Das Telefon läutete just in dem Moment, als JP soeben eine komplexe Übersichtsgrafik im MS PowerPoint bearbeitete.

„Hallo, Herr Santa Cruz. Hier ist Dr. Elisabeth Drager. Sie wissen, wer ich bin?“ Na und ob JP das wusste! Dr. Drager war die Personalchefin der gesamten Malinger-Gruppe, bekannt für ihren messerscharfen Verstand und gefürchtet wegen ihrer toughen Art bei Verhandlungen mit Gewerkschaft und Betriebsrat. Einige bösartige Zungen nannten sie, aber nur hinter vorgehaltener Hand, Dr. Dragon, was für Drachen stand. „Gut, Herr Santa Cruz. Darf ich Sie bitten, gleich in meinem Büro vorbeizukommen. Ich habe etwas Vertrauliches mit Ihnen zu besprechen. Bis gleich!“

Bei Dr. Drager war das Wort „gleich“ wirklich „unmittelbar“, d. h. ohne jegliche Verzögerung. Fünf Minuten später saß JP ihr gegenüber. Er fühlte sich sehr deplatziert in seiner legeren Kleidung. Er trug Jeans und Hemd und hatte irgendwie ein ungutes Gefühl im Magen. Dr. Drager war eine sehr charismatische Person Mitte 40, die es gewohnt war, auf dem Chefsessel zu sitzen und sich bestimmt kein X für ein U vormachen zu lassen. Sie war schwer einzuschätzen. Aus der Nähe betrachtet war sie eine sehr hübsche Person: schmales, gleichmäßiges Gesicht, ca. 165 cm groß, kurzes brünettes Haar, blitzblaue Augen und eine randlose Brille. Sie trug ein stylishes Kostüm und war auch sonst extrem gepflegt, was Fingernägel, Haut und Haare betraf. An Blumen-Deko schien sie ein Faible für japanische Ikebana-Steckkunst zu haben, denn von diesen Arrangements hatte sie zwei wahre Meisterwerke auf Schreibtisch und Sideboard stehen. Bilder wie auch die Büroeinrichtung waren nüchtern und sehr modern, genau nach JPs Geschmack. Er hatte bisher noch nicht mit ihr persönlich zu tun gehabt und sie eigentlich nur bei Firmenveranstaltungen oder gelegentlich aus der Ferne gesehen.

Er hatte mal eine kurze Affäre mit ihrer Sekretärin Susanne, die er aber wegen zu großer Anhänglichkeit und dem Wunsch nach etwas Festem vor einem Jahr leider beenden musste. Von Susanne wusste JP, dass „Dr. Dragon“ ihren Kosenamen von ihren Gegnern durchaus nicht zu Unrecht verliehen bekommen hatte. Sie konnte sehr bestimmend, ja sogar herrisch sein. Dennoch, sowohl Susanne als auch die anderen Mitarbeiter der Personalabteilung verehrten ihre Chefin geradezu und hätten weder Witze noch Frechheiten von Kollegen toleriert. Susanne wünschte sich sogar, hoffentlich niemals für einen anderen Chef arbeiten zu müssen, so zufrieden war Sie mit Dr. Dragers Führungsstil. Für das Gesamtwohl des Unternehmens war Dr. Drager wohl ganz hervorragend, da sie ausschließlich und mit aller Vehemenz die Interessen des Unternehmens vertrat. Für den einzelnen Mitarbeiter war das oft schmerzlich. Nun, in der wirtschaftlichen Krise, trug Dr. Drager – bedingt durch Ihre Weitsicht und Personalplanung der vergangenen Jahre und ihr Geschick, mit den derzeitigen Problemen umzu-gehen – extrem viel dazu bei, dass die schweren Zeiten ohne zu großen Personalabbau überstanden wurden und die Firma als Ganzes überleben konnte.

Dr. Drager hatte sicherlich viele fachliche Stärken, Small Talk gehörte ganz sicher nicht dazu. Sie kam gleich zur Sache: „Herr Santa Cruz, ich beobachte Ihre Arbeit sehr viel genauer, als es Ihnen bewusst ist. Herr Korber hält sehr große Stücke auf Sie und die gesamte Geschäftsleitung ist mit Ihren diversen Projekten sehr zufrieden. Ich weiß ganz genau, woran Sie gerade arbeiten und ich finde dies ein sehr wichtiges und dringend notwendiges Projekt. Herr Korber wird nach seiner Rückkehr eine Zusammenfassung für die Geschäftsleitung präsentieren und ich bin gespannt auf Ihren Beitrag.

Ich möchte Sie allerdings in einer anderen, noch dringenderen Angelegenheit bemühen. Solange muss ihr Projekt nun etwas zurückgestellt werden. Mein neues Projekt ist streng vertraulich und darf von Ihnen ausschließlich mit mir besprochen werden, verstehen Sie? Es geht um eine mögliche Indiskretion betriebsinterner Daten aus dem Bereich Werkstoffentwicklung. Deshalb diese unbedingte Vertraulichkeit, verstehen wir uns? OK! Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich fragen, warum die Personalchefin sich um derartige Sicherheitsdinge kümmert? Ich habe ganz konkrete Gründe dafür, die ich Ihnen aber im Moment und gemäß Absprache mit dem Senior Malinger nicht nennen will.

Also: Ich habe eine kleine Wunschliste für Sie vorbereitet und meine konkreten Vorstellungen aufgelistet. Ich möchte Sie nun bitten, mir binnen drei Tagen ein detailliertes Konzept der Machbarkeit, Umsetzung und möglicher Kosten auszuarbeiten. Ich werde Sie dann auch mit der Umsetzung beauftragen, aber es muss wahrscheinlich zusätzlich zu Ihrer normalen Arbeit erledigt werden. D. h., es werden Überstunden und Wochenendarbeit anfallen, die ich Ihnen mit zusätzlichem, bezahltem Urlaub oder als Überstunden vergüten werde. Sind Sie dazu bereit?“

Dr. Drager sah JP lange und konzentriert in die Augen. Er nickte schließlich. „Ja, OK. Wir nennen dieses Projekt zwischen uns beiden ‚Projekt Mamba‘, denn so giftig kann ich werden, wenn ich merke, dass Sie sich nicht an unsere Absprachen halten. Danke, Herr Santa Cruz, ich erwarte Ihre Ausarbeitung bis Freitag. Kommen Sie bitte um 17:30 Uhr in mein Büro. Und nehmen Sie sich bitte vorsorglich nichts Privates fürs Wochenende vor. Vielleicht können wir gleich loslegen.“

Das war ein Projekt ganz nach JP`s Geschmack! Er studierte die Wunschliste von Frau Dr. Drager ganz genau und überlegte sich sofort, wie er diese delikate Sache am besten anpacken konnte. Es ging um interne Überwachung. Dafür war er zwar nicht der Spezialist, aber sein Netzwerk aus IT-Cracks war weltumspannend und konnte ihm da sicherlich gut helfen. Der restliche Tag, die heutige Nacht und auch der morgige Tag waren damit schon mal komplett verplant. Die Wunschliste beinhaltete zwar nur fünf für einen Laien einfach wirkende Punkte, aber der Teufel steckte im Detail. JP musste viel recherchieren und letztendlich ein realisierbares Konzept bis Freitag erarbeiten. Jedenfalls fühlte sich das als echte Herausforderung an und die liebte JP immer. 

 

***

 

Die Affäre mit Susanne, der Sekretärin von Dr. Drager, war ein heftiges und intensives Intermezzo von genau 51 Tagen. Es war nun seit über einem Jahr vorbei mit ihr, aber Susanne hatte es offensichtlich irgendwie immer noch nicht ganz überwunden. JP konnte es an ihrer Verwirrtheit und Ihrem Blick sehen, wenn Sie sich beruflich begegneten. So auch diesmal, als er ins Büro von Dr. Drager gebeten wurde. Susanne Blick stach ihm direkt ins Herz. Privat gab es keinen Kontakt mehr. Soweit es JP bekannt war, war Susanne seit damals Single. Schade, aber es hatte einfach nicht funktioniert, obwohl die Voraussetzungen anfänglich sehr gut waren. „Klick“ gemacht hatte es auf dem Oktoberfest 2008. Die Firma Malinger hatte einige Tische im Hypodrom-Zelt für ihre Mitarbeiter reserviert. Alle Mitarbeiter kamen in bayerischer Landestracht, viele der Männer in Lederhosen und Trachtenhemd, die meisten Frauen im Dirndl. JP besaß bis dahin noch keine derartige Kleidung und hatte sich speziell dafür mit den typischen Haferlschuhen, Trachtenstrümpfen und natürlich knielangen Lederhosen, Hemden und Janker bei Trachten Redl in der Weltenburgerstraße 17 ausgestattet. Elke, die attraktive Eigentümerin, hatte ihn persönlich beraten und typperfekt eingekleidet. Diese bayrische Tracht war ungewohnt für JP, aber er fand selbst, dass er sehr, sehr gut darin aussah! Seine große, extrem sportliche und schlaksige Figur, die dunklen Haare und die blaugrünen Augen wirkten in der bayrischen Tracht einfach noch einen Tick besser als sonst.

Er war tatsächlich noch niemals vorher auf dem Oktoberfest gewesen und dachte immer, dass er Massenaufläufe dieser Art hassen und verabscheuen würde. Weit gefehlt! Das Oktoberfest – die Wiesn, wie es in München heißt – faszinierte ihn geradezu und er brachte es in seinem ersten Jahr gleich auf sechs Wiesn-Abende. Im Jahre 2009 brachte er es schon auf zehn Wiesn-Abende. Der „Malinger-Abend“ war für JP sein Wiesn-Einstand. Ab 17:00 Uhr waren die Tische für die Firma reserviert. Die IT-Abteilung kam schon in Tracht zur Arbeit und fuhr direkt von der Arbeit, gemeinsam mit der U-Bahn vom Malinger Werk zur Wiesn. Franz Korber hatte Budget bekommen, um alle acht deutschen Kollegen und die drei Besucher aus den IT-Abteilungen in Spanien und Schottland auf zwei Maß Bier, ein Hendl und eine Brezen in der Ochsenbraterei einzuladen.

Zuerst sollte es das Mittagessen in der Ochsenbraterei geben. Anschließend war ein Abteilungsbummel durch die Fahrgeschäfte geplant – auch dafür hatte Franz Korber Budget für je zwei Fahrgeschäftsfahrten pro Person. Es war ein herrlicher Tag, Sonne pur und fast an die 20 Grad warm – keine Selbstverständlichkeit für Ende September. Man konnte draußen in der Sonne sitzen. Es war einfach herrlich! JP fand die ganze Stimmung sensationell. Er hatte so etwas noch nirgendwo auf der Welt erlebt! Das Oktoberfest wurde schon oft und auf allen Kontinenten kopiert, aber nichts, wirklich nichts kam dem Original in München auch nur nahe. Über sieben Millionen Besucher aus aller Welt jedes Jahr kamen hierher!

Die Malinger IT-Abteilung kam voll auf ihre Kosten. Die zwei Tische machten den größten Lärm von allen. Die beiden Spanier vertrugen das starke Wiesnbier gar nicht und waren schon nach der ersten Maß „sternhagelvoll“. Der schottische Kollege, ein rothaariger Riese von zwei Metern, wollte allen zeigen, dass ein echter Schotte, der sonst „Whisky schon zum Frühstück“ trinkt, unter sechs Maß (=6 Liter) Bier noch gar nicht beginnt sich wohlzufühlen. Die bayerischen Kollegen wollten sich von so einem schottischen Angeber nicht in die Schranken weisen lassen und hielten ordentlich mit. Um 14:45 Uhr wurden die Gesänge an den beiden Tischen immer lauter, um 15:30 Uhr immer unverständlicher und waren um 16:30 Uhr einfach beim besten Willen nicht mehr als „Musik“ oder als „Gesang“ identifizierbar.

Kurzum, der Bummel zu den Fahrgeschäften fiel aus und Franz Korber nutzte dieses „freie Budget für die Fahrgeschäfte“, um die doch erhebliche Zeche dann auch noch voll zu übernehmen. Der lange, zaundürre Sebastian – Basti, wie ihn alle nannten – hatte den Wettstreit mit dem schottischen Kollegen Angus gewonnen, sieben Maß Bier für den Bayern und fünfeinhalb Maß für den Schotten. Unglaublich! Wo steckte Basti das bloß hin – er hatte ja überhaupt kein Körperfett. „Alles nur eine Frage der Technik!“, lallte Basti gegen 16:00 Uhr. Später hätte er nicht mehr so viele Worte in verständlicher Form herausbringen können.

Die anderen bayrischen Kollegen lagen fast alle auch bei drei oder vier Maß Bier. Angus, der riesige Schotte, schlief zum Schluss mitten im Trubel, den Kopf vornüber auf dem Tisch abgelegt. Franz Korber und JP mussten ihn in ein Taxi setzen, den Fahrer vorab bezahlen und ihm einen Zettel mit seinem Namen – für die Rezeption im Hotel Nestor in der Leopoldstraße – mitgeben. JP hatte beim zweiten Maß Bier die Reißleine gezogen, aber er war für seine Verhältnisse auch sehr betrunken. Die Sonne, die frische Luft und das starke Bier! Das war mehr, als er vertragen konnte. Um 17:00 Uhr, beim Malinger Firmentisch im Hypodrom, waren nur noch vier von den IT-Mitarbeitern dabei. Franz Korber, JP und die beiden Spanier – die waren inzwischen schon wieder zumutbar nüchtern und wollten unbedingt noch weiterfeiern. Alle anderen hatten genug und gingen, nein, torkelten nach Hause. JP saß mit seinen vier Kollegen frühzeitig an den reservierten Tischen. Es hatten jeweils zehn Personen Platz an einem Biertisch. JP ließ gerade diese sensationelle Zeltstimmung auf sich wirken und sah sich fasziniert um. Da kam eine Gruppe mit sechs Malinger Mädels, allesamt fesch rausgeputzt, im Dirndl und wohl in bester Partystimmung. Weil es „grad vom Platz her so gut passte“, – wie er später von Susanne erfahren sollte, eine ganz bewusste Entscheidung der Mädels: die vier „feschesten“ Männer der Firma und ohne weibliche Begleitung – setzten sie sich zu den IT-Jungs an den Tisch.

Susanne war JP immer schon positiv in der Firma aufgefallen. Sie war eine besonders adrette junge Frau, rötlich-blonde Haare, viele Sommersprossen um die Nase, gertenschlank und mit „'ner Menge Holz vor der Hütten“, sprich: obenrum sehr wohl proportioniert. Persönlich hatten sie bisher noch nicht viel Kontakt gehabt, zumal die Mitarbeiterinnen der Personalabteilung den Stempel der Unberührbarkeit wie ein Markenzeichen vor sich hertrugen. In JPs Augen sah Susanne an diesem Abend einfach umwerfend in ihrem Dirndl aus. Zwischen „positiv aufgefallen“ wie bisher und „total fasziniert“ wie an diesem Abend, lagen Welten. Susanne saß „zufällig“ genau ihm gegenüber und er konnte sich einfach nicht sattsehen! Ihre grünen Augen fixierten, nein hypnotisierten ihn geradezu. Schon um 19:00 Uhr war die Sache entschieden und JP wäre Susanne an jeden Ort der Welt wie ein hechelnder, geifernder Hund hinterher getrabt. Vorzeitig verließen die beiden die Wiesn und fuhren direkt mit dem Taxi in JPs Wohnung.

Im Taxi ging es schon los! Sie konnten einfach nicht mehr an sich halten und boten dem Taxifahrer schon eine kleine Peepshow für den Rückspiegel. Als ob sie jahrelang keinen Sex gehabt hätten, fielen die beiden schon im Flur und dann im Wohnzimmer wie ausgehungerte Wölfe übereinander her. Es war einfach unglaublich und megaheftig! Beide Sofas, der Fußboden, das Bett, sogar die Küche und das Bad wurden in dieser Nacht Zeugen unglaublicher Lüsternheit. JP übertraf alle Rekorde, was seine Potenz und Ausdauer anging. Schlaf war diese Nacht einfach nicht drin.

In den Morgenstunden kamen sie, eigentlich nur notgedrungen deshalb zur Ruhe, weil er wie auch sie einfach wund an den Genitalien waren und Sex damit schmerzhaft wurde. JP war diese wilde Art von Sex nicht vertraut. Er war normalerweise ein sehr romantischer Typ und sah Sex als Folge einer guten allgemeinen Stimmung, eines schönen Abends oder guten Essens, mit entsprechender Hintergrundmusik, Kerzenschein, einer guten Flasche Wein. Und für Sex gab es für JP nur einen Ort: das Bett! Der nackte Fußboden, die Küche, Bad, Sofa etc. waren für ihn bisher keine Option dafür. Das war ihm irgendwie immer zu tierisch-animalisch, zu primitiv. Diesmal war es anders. Es gehörte irgendwie dazu. Susanne animierte und motivierte ihn entsprechend. Er konnte nicht anders, als mitzumachen. Begeistert mitzumachen.

Die nächsten Wochen suchte Susanne ständig seine Nähe. Tagsüber im Job kam sie häufig mal vorbei und vernaschte ihn gerne in einem leeren Büro, einem Lagerraum, auf einer Toilette, in seinem Auto auf einem Parkplatz, im Treppenhaus und sogar im kalt-klimatisierten Rechenzentrum. Sie liebte öffentliche Plätze und je gefährlicher es war, erwischt zu werden, umso mehr törnte es sie an. Nach drei Wochen begann Sie an seiner Wohnungseinrichtung Veränderungen vornehmen zu wollen und verschaffte sich einen freien Platz in seinem Schrank für ihre Klamotten. Sie deutete auch schon an, dass seine 115 m2 Wohnung zu groß für nur eine Person war und man da bequem auch zu zweit wohnen könnte. Ihre Wohnung ist sowieso viel zu teuer und bei weitem nicht so schön.

JP war von der Natur begnadet, indem er immer und fast überall eine Erektion bekommen konnte, aber er mochte diese halböffentlichen Quickies und die damit verbundene stressige Atmosphäre im Grunde seines Wesens ganz und gar nicht. Irgendwo schnell im Stehen eine Nummer zu schieben, das war einfach nicht sein Ding! Aber Susanne war derart zudringlich und letztendlich derart überzeugend in ihrer Anmache, dass er immer mitmachte. Sein Fleisch war einfach schwach. Und je mehr er sich zierte, umso überzeugender und zudringlicher wurde Susanne.

Tatsächlich war JP von Susannes sexuellem Heißhunger überfordert! Er hätte dies vor niemandem jemals zugegeben, aber so war es tatsächlich! JP fühlte sich zusehends von Susanne bedrängt, irgendwie vergewaltigt, nur noch ein sexuelles Lustobjekt. Susanne nahm ihm wahrlich die Luft zum Atmen. Ihre Andeutungen bezüglich einer gemeinsamen Wohnung versetzten ihn sogar in regelrechte Panik. Jeden Tag, morgens, abends und vielleicht sogar nochmals tagsüber Sex haben zu müssen, das erschien ihm in diesem Moment wie der reinste Horror! So ging das einfach nicht mit ihnen beiden! Deshalb machte er Schluss mit Susanne. Nach eben diesen 51 Tagen. Er erklärte ihr das wahre „WARUM“ nicht wirklich. Es war ihm irgendwie unangenehm, ihre sexuelle Inkompatibilität zugeben zu müssen oder auch nur anzusprechen. Andere Männer hätten eine derart agile Sexualpartnerin wahrscheinlich ganz toll gefunden. Deshalb schämte er sich, denn JP reichte es tatsächlich vollständig, ein- bis vielleicht zweimal pro Woche Schmuse-Sex im Bett zu haben. Er dachte seitdem noch häufig an Susanne und durchlebte gedanklich die eine oder andere wilde Sexszene. Es war jedes Mal sehr antörnend für ihn.

Das Gedankliche reichte ihm aber, denn er wusste auch, dass dies nicht die Art Sex war, die er mit seiner ständigen Partnerin haben wollte....

Ohne Skrupel
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