München, Winter 2009/2010

 

War das die Midlife-Crisis? Wurde er alt? Hatte er den vorweihnachtlichen Blues? Franz Korber hatte einen tollen zweiwöchigen Urlaub mit Frau und Kindern verbracht. Aber der Erholungswert war schon wenige Tage nach seiner Rückkehr wieder restlos durch den Stress im Job verbrannt. Und nun, nur drei Wochen später, konnte er sich kaum noch an seinen Urlaub erinnern. Irgendwie hatte er die Nase voll von dem täglichen Stress, die Zeit der Regeneration – Urlaub, Wochenende - reichte nicht mehr aus. Gut, er war nun 46, aber das ist doch kein Alter und sicher kein Grund, sich schon morgens abgespannt ins Büro schleppen zu müssen. Seine Familie gab ihm Kraft und Halt, aber reichte das noch für die nächsten 20 Jahre? Im Moment hatte er da seine Zweifel. Bei Malinger war im Moment alles so zäh und kompliziert. Die Auftragslage war sicherlich schlecht, aber die Geschäftsleitung blockierte jegliche IT-Entscheidung und die Worte „Geld“ oder „Investition“ wurden zu den Unwörtern des Jahres.

Franz hatte zu guten Zeiten die wohl beste IT-Abteilung der Branche aufgebaut, aber jetzt drohte er in die Mittelklasse abzusinken. Santa Cruz hatte ein sensationelles Konzept zur Verbesserung der Datenqualität vorgelegt. Sie hatten es gemeinsam der Geschäftsleitung präsentiert und aufgezeigt, was mit den benötigten 500.000,- Euro kurz und mittelfristig für Einsparungen und Verbesserungen für die Malinger-Gruppe hätten erzielt werden können. Aber keiner wollte sich entscheiden, also wiedermal ein „geparkter Antrag“ und warten, warten, warten.

Er wollte eine Veränderung. Einen neuen Arbeitgeber suchen – kleiner, regionaler, in einer stabileren Branche. Vielleicht IT-Leiter in der Pharmaindustrie oder einer Versicherung. Oder sollte er versuchen, bei einem seiner großen Lieferanten wie IBM, Microsoft oder Oracle unterzukommen? Eine schöne Stelle im Labor, endlich wieder selbst entwickeln und programmieren können. Ein ruhiger Job von 9:00 – 18:00 Uhr. Das klang im Moment sehr verlockend für Franz. Verlockend genug, um nach Alternativen zu suchen. Und mit diesem Frust im Bauch verschickte er an drei seriöse und ihm bekannten Headhunter eine E-Mail. Zum Vorfühlen sozusagen. Franz war nun endlich bereit, einen fetten Strich unter das Kapitel Malinger Autoteile zu ziehen. Sein Herzblut hing zwar an der IT-Abteilung und an seinem Team. Er wollte allerdings auch aufräumen mit all dem Mist, den er seit Jahren mit verantwortete und er konnte dem alten Herrn Malinger, der immer nur gut und fair zu ihm gewesen war, einfach nicht mehr in die Augen schauen! Er hatte sich die Entwicklung seiner IT-Abteilung teuer erkauft und mit Unmoral und Illoyalität bezahlt. Aber nun wollte er den Preis nicht mehr entrichten. Es war „Time for a Change“. Er musste raus und er musste nun diesen Schritt einfach für sich und für sein ganz persönliches Überleben machen. Sonst würde er garantiert vorzeitig mit Magen- oder sonstigem Krebs in der Kiste landen. Ja, das Jahresende hatte etwas Gutes! Man konnte schlechte Dinge abschließen und vielleicht neues Glück ins Leben lassen.

 

***

 

JP legte sich wirklich ins Zeug und schuftete vor Weihnachten wie ein Ochse! Vor Jahresende musste ohnehin viel mehr erledigt werden als während des Jahres und Dr. Dragers persönliches Projekt „Mamba“ machte zwar Spaß, war allerdings noch mal ein ordentliches Schippchen Mehrarbeit. Und da Franz Korber sehr genau die Auslastung seiner Mitarbeiter einschätzen und bewerten konnte, war es äußerst schwierig, hier noch ein zusätzliches Projekt mitlaufen zu lassen und es vor Franz geheim zu halten. Dr. Drager wünschte immer noch nicht, dass Franz Korber oder sonst jemand eingeweiht wurde. Als JP Anfang November seine Ausarbeitung für das Projekt „Mamba“ Dr. Drager termingerecht vorlegte, begann mit diesem Moment seine zweite Karriere als betriebsinterner „Sicherheitsmann“ und „Ermittler“.

JP war damals am Freitag um Punkt 17:30 Uhr bei Dr. Drager im Büro – diesmal allerdings geschniegelt und gestriegelt, im schwarzen Anzug und sogar mit Krawatte, was sie übrigens sehr belustigend fand. Seine IT-Kollegen hänselten ihn tagsüber, ob er nach Dienstschluss ins Konzert oder auf eine Beerdigung müsse? Die IT-Abteilung war üblicherweise in ihrer Kleidung sehr leger. Eine saubere Jeans mit Hemd war schon die obere Luxusklasse.

Dr. Drager studierte sein fünfzehnseitiges Dossier fast 30 Minuten und stellte die eine oder andere intelligente Frage. Als sie mit dem Lesen fertig war, lehnte sie sich in ihren Ledersessel und schwieg ein paar Minuten. „Herr Santa Cruz, ich danke Ihnen! Wie ich sehe, ist die Einschätzung von Herrn Korber bezüglich der Qualität Ihrer Arbeit voll berechtigt! Ich bin einerseits völlig perplex und irritiert, aber auch fasziniert, was Sie alles überwachen könnten und wie wenig dies im Verhältnis nur kosten würde. Sie könnten diese Firma vollkommen gläsern machen und durchaus vieles rasch und frühzeitig aufdecken. Einerseits will ich unbedingt eine mögliche Indiskretion unserer Werkstoffentwicklung entlarven, andererseits sind wir in Deutschland und nicht in einem Polizeistaat oder einer Diktatur.

Wir haben hier das unbedingte Recht auf Privatsphäre und ein Bekanntwerden einer derartigen innerbetrieblichen Überwachung würde mich nicht nur meinen Job kosten, sondern mich auch berechtigterweise ins Gefängnis bringen! Ich finde Ihre Ansätze wirklich hervorragend, aber wir müssen abspecken.... Sie gehen einfach zu weit! Streichen Sie bitte die umfassende Überwachung der E-Mails, des Surfverhaltens im Web und das Abhören der Telefonate!“ Es entstand eine Pause von mehreren Minuten ...

„...Und ganz besonders schnell vergessen Sie.... auch nur den gedanklichen Ansatz.... die privaten und finanziellen Verhältnisse unserer Mitarbeiter transparent zu machen. Ihr Vorschlag, den Kopierraum mittels Mikrokamera zu überwachen, ist interessant. Auch das Durchforsten von persönlichen Ordnern auf den Firmenrechnern der betreffenden Mitarbeiter hat seinen Charme, wenngleich sich dies ausschließlich auf professionelle Bereiche beziehen darf, und ein paar andere Dinge finde ich auch noch interessant. Ich muss und möchte allerdings übers Wochenende darüber reflektieren. Das ist ein sehr heißes Eisen und man kann sich daran leicht die Finger bis zum Knochen verbrennen.

Geben Sie aber auf jeden Fall schon mal den Auftrag an dieses Unternehmen in Zypern, Lucky Egale oder so, dieses Spyware-Programm – was für ein fürchterliches Wort – zu besorgen. 22.000,- Euro, das ist zwar schon viel Geld, steht aber meines Erachtens in vertretbarer Relation zum möglichen Nutzen. Die Rechnung geht direkt an mich. Ich möchte eine Rechnung über IT und Programmierservices. Kein Wort darüber, dass wir überhaupt Software kaufen. OK? Gut – so machen wir das.... Sie installieren das dann nur auf meinem Rechner.

… Wissen Sie Santa Cruz, es war mir bis dato gar nicht bewusst, dass wir alle derart einfach zu überwachen wären und ich fühle mich momentan nicht besonders wohl bei diesem Gedanken. Jede kleinste Aktivität am PC könnte protokolliert und beobachtet werden und wäre womöglich für Jahre gespeichert. Dieser Gedanke erschreckt mich zutiefst! Ich dachte immer, das Überwachungszeug in den TV-Filmen ist alles ersponnen und erlogen, aber es scheint wohl Wirklichkeit zu sein. Ja, ja, ich glaub´ Ihnen schon, dass sogar noch sehr viel mehr möglich wäre, aber das will ich gar nicht alles wissen. Ich kann so schon nicht mehr beruhigt schlafen. Wir beide vertagen unser Gespräch auf nächste Woche Dienstag. Ist 18:30 Uhr OK, gut, ist vermerkt. Und denken Sie daran, kein Sterbenswörtchen darüber, und zwar zu NIEMANDEM.“

Klar war nach dem „Abspecken“ nur noch ein kleiner Teil seines ursprünglichen Konzeptes übrig geblieben, aber die Mikrokamera wurde von einem Sicherheitsunternehmen an einem Wochenende installiert. Die Spyware, beschafft durch das Haus Lucky Eagle Ltd . aus Zypern, wurde eingespielt und von JP bedient und überwacht. Auf dem PC von Dr. Drager installierte er ein Benutzerinterface mit sehr einfachen Funktionalitäten und sehr eingeschränkten Benutzer- und Zugriffsrechten. Er selbst als Administrator hatte alle Zugriffsrechte der umfangreichen Vollversion. Hätte er es gewollt, hätte er ein unglaublich lückenloses Überwachungsszenario eines jeden Rechners im Netzwerk der Firma Malinger einrichten können. Natürlich sprengte dies jeglichen, gesetzlich erlaubten Rahmen.

Es war schier unglaublich, welches Software-Juwel ihm Lucky Eagle Ltd . hier besorgt hatte. Und der Geldbetrag dafür war der reinste Witz! JPs Profiversion, also die umfangreichere und natürlich auch sehr viel teurere Software, war nicht umsonst im Einsatz bei Mossad, CIA und anderen Geheimdiensten und Militärs. Kein Zweifel, es wäre sicherlich höchst illegal, diese Profiversion kommerziell in einem Unternehmen einzusetzen. JP konzentrierte sich vereinbarungsgemäß nur auf den eingeschränkten Personenkreis, der unmittelbar infrage kommenden Personen aus der Werkstoffentwicklungsabteilung. Aber wirklich alles, was auf diesen Rechnern geschah und nicht dem, von ihm festgelegten Kriterien und Profil entsprach, wurde ihm als Alert (Benachrichtigung) auf seinen Server geschickt. Er konnte nun die Sorgen von Dr. Drager sehr gut nachvollziehen. Derartige Software entblößte den Menschen vollkommen und alle seine elektronischen Aktivitäten wurden zu 100 % transparent. Gut, dass der Staat und die Gesetzgebung hier versuchten, den Missbrauch einzudämmen. Verhindern konnten sie es natürlich dennoch nicht.

Auch ein paar der anderen kleineren Überwachungsmöglichkeiten konnte er in den Folgewochen erfolgreich umsetzen. Dazu gehörte das Sammeln von Altpapier in speziellen Behältnissen, die nur in dieser Abteilung aufgestellt wurden und deren Inhalt vom Reinigungspersonal nur nach ausdrücklicher Aufforderung entsorgt werden durfte. Einmal im Monat verbrachte JP dann einen „Sortiersonntag“ im Büro und durchforstete alle Papiere, die in diese Behälter entsorgt wurden. Dies war ein ekeliger Job und er hasste sich für seinen blöden diesbezüglichen Vorschlag, zumal sich ein Erfolg nur durch puren Zufall einstellen würde. Natürlich ahnte niemand in der Abteilung, warum diese speziellen Sammelbehälter für Altpapier plötzlich da und alle anderen Papiereimer entsorgt worden waren. Er wertete die Protokolle wöchentlich aus und übergab alle zwei Wochen ein ausgedrucktes Extrakt sehr diskret an Dr. Drager persönlich. Per E-Mail wollte er nichts verschicken. Er wusste ja nur zu gut, wie unsicher jegliche elektronische Kommunikation war.

Die Zusammenfassungen zu erstellen klingt einfach, war es aber definitiv nicht! Die neue Software war gnadenlos, und so musste das Einstellen der Überwachungsparameter ständig nachgebessert und justiert werden. Zu Anfang wurde er mit Informationsmüll geradezu überhäuft und das manuelle Nachbearbeiten war dann extrem zeitaufwendig. Er konnte und wollte ohnehin etwa 90 % aller gesammelten Daten nicht an Dr. Drager weiterleiten. Dazu musste er sie aber vorher erst manuell auswerten, um sie dann zu verwerfen oder weiterzugeben. JP wollte ja nicht, dass jemand seinen Job verliert, nur weil er sich vielleicht ein paar Pornoseiten im Internet angesehen oder während der Arbeitszeit in einem der Internetforen gechattet hatte. Das tat alles nichts zur Sache und hatte die Personalchefin nicht zu interessieren. Gut 12 - 18 Stunden pro Woche gingen dabei durchaus von seiner Freizeit drauf. Er führte ein gesondertes, privates Stundenkonto für das Projekt „Mamba“ und hatte zum Jahresende dort 94 Einsatzstunden vermerkt. Das konnte er unmöglich mit zusätzlichen Urlaubstagen abfeiern. Hier wäre eine Auszahlung sinnvoller. Hinzukamen die normalen Überstunden, die sich im Laufe des Jahres auch schon auf 182 angesammelt hatten und in nächster Zeit sicher nicht abgebaut werden könnten. Das gab einen fettes Dezembergehalt!

Er leitete alles auf seine privaten Server und konnte so das Meiste von zu Hause und nachts oder am Wochenende erledigen. Aber für sein Fliegenfischen (FlyFi-Hobby) hatte er in diesen Wochen kaum Zeit. Naja, es war nun ohnehin recht kalt, zumindest versuchte er, sich damit ein wenig zu trösten.

Für die Überwachungsfilme aus dem Fotokopierraum richtete JP einen isolierten Speicherplatz auf einem der großen IBM-Server im Rechenzentrum ein und verschlüsselte die Zugriffsrechte. Somit konnte niemand außer ihm unbemerkt darauf zugreifen. Die Qualität der beiden Kameras war beeindruckend für ihre winzige Linsengröße. Kamera Nr. 1 zeigte beinahe den gesamten Raum und Nr. 2 filmte das zu kopierende Schriftstück in einer Qualität, dass man den Text des Kopiergutes lesen konnte.

Der Kopierraum war eine etwas abseits gelegene, größere Kammer. Vielleicht traten deshalb auf den Überwachungsvideos einige ganz bizarre Dinge zutage: Alfred Gogl z. B. hatte ein Alkoholproblem und trank heimlich beim Kopieren aus seinem dort versteckten Flachmann, Hermann Uller bohrte gerne unbemerkt in der Nase und inspizierte dann interessiert seinen Popel, den er dann genüsslich verzehrte. Christine Sorger setzte sich einmal ohne Unterhose auf einen Kopierer und machte Kopien – oh la la. Und Monika Wallner und Barbara Arglos waren lesbisch und schmusten schon mal hemmungslos im Kopierraum. Jedem eben das Seine.

JP fielen dabei seine wilden Sexabenteuer mit Susanne, Dr. Dragers Sekretärin, in diversen Räumen der Firma Malinger wieder ein und so hoffte er nun inständig, dass nicht auch noch anderswo Mikrokameras installiert und von irgendeinem Sicherheitsmann überwacht worden waren. Aber das hätte er inzwischen wohl schon mittels Kündigung oder Abmahnung mitgeteilt bekommen. Jedenfalls: All diese Aufzeichnungen taten nichts zur Sache „Werksspionage“ und konnten nichts beitragen, um den möglichen Übeltäter zu entlarven oder zu überführen. Deshalb leitete JP nichts davon weiter an Dr. Drager und löschte die Filme nach ein paar Tagen wieder.

Dennoch hatte JP einen speziellen Kollegen aus der Maschinenbauwerkstatt, also einem ganz anderen Bereich, lange Zeit stark im Verdacht. Das nervöse und irgendwie linkische Verhalten von diesem Kerl war JP schon mehrmals negativ aufgefallen. Deshalb hätte er ihn gerne unter die Lupe genommen, aber leider hatte dieser rein handwerklich tätige Kollege keinen Computer. Somit konnte JP wenig elektronisch überwachen. Auf der dieses Jahr recht bescheiden ausfallenden Weihnachtsfeier stellte sich dann allerdings im Gespräch mit einem anderen Kollegen heraus, dass besagter Mitarbeiter aus der Werkstatt irgendein schweres Nervenleiden hatte und deswegen ständig in ärztlicher Betreuung sein musste. Das erklärte damit natürlich auch das nervöse, linkische Verhalten und so konnte ihn JP wieder von seiner Verdächtigungsliste streichen.

Ganz kurz nach Jahreswechsel wurde JP allerdings fündig! Die Sache begann sich zuzuspitzen.

 

***

       

Es war kurz vor Weihnachten. Die Einkaufsstraßen in Münchens Zentrum waren schön geschmückt mit Lichterketten, die Fenster der Geschäfte waren prachtvoll dekoriert, es leuchtete und blinkte an jeder Ecke und es war sogar schon ein bisschen Schnee gefallen. Außerdem war es bitterkalt. Die Fußgänger, eingehüllt in ihre dicken Mäntel, zogen sich die Kopfbedeckung tief ins Gesicht und schmiegten sich, schon beinahe Hilfe suchend, eng an die Hauswände der Geschäftshäuser, einfach um dem eisigen Wind ein bisschen zu entgehen. Franz Korber hatte einen persönlichen Termin im „Ratskeller“, einem Traditionsrestaurant im Kellergewölbe des wunderschönen Münchner Rathauses, direkt am Marienplatz. Vorher war er noch über den Weihnachtsmarkt geschlendert und hatte gehofft, für seine beiden „Engelchen“, seine Töchter Janine, 7, und Nicole, 9 Jahre, noch irgendein kleines, zusätzliches Geschenk zu finden. Leider Fehlanzeige.

Es waren Himmel und Hölle an Menschen unterwegs und man wurde nur noch von einem Stand zum nächsten geschoben. Franz hasste dieses Gedränge und außerdem mochte er den Weihnachtsmarkt am Marienplatz noch nie, – jetzt wusste er auch wieder warum – Kitsch und Ramsch in jeder Bude. Die Weihnachtsmärkte Chinesischer Turm, Münchner Freiheit, Wittelsbacher Platz oder Residenz Höfe waren dagegen eine wahre Offenbarung! Viel weniger frequentiert, weniger touristisch, viel schöner und tausendmal stimmungsvoller!

So begnügte sich Franz mit einem Glas Glühwein und unnötigerweise aß er auch noch eine extralange Bratwurst. Zumal er zum Essen verabredet war und dafür eine stille Nische im Rathauskeller reserviert hatte, hätte er sich diese zusätzlichen Kalorien wirklich sparen können. Lecker aber unnötig! Aber was soll's – man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Und eine Bratwurst und Glühwein gehören einfach zu einem Bummel über den Weihnachtsmarkt. Es war zwar erst später Nachmittag, aber dennoch schon fast dunkel. Franz war ein bisschen früh dran und überlegte gerade, ob er schon etwas früher in das warme Restaurant gehen und sich aufwärmen sollte. Er hatte einen ersten Sondierungstermin mit demselben Headhunter, der ihn vor Jahren an die Firma Malinger vermittelt hatte. Als Franz seine Hand an der Tasse Glühwein wärmte und dabei interessiert die Menschen um sich herum beobachtete, fiel ihm unvermittelt ein großer, sportlicher Mann auf, der sich offensichtlich bemühte, besonders unauffällig für Franz zu sein und möglichst jeglichen direkten Blickkontakt mit ihm zu vermeiden.

Der Mann war gut Ende 40, hatte helles Haar und ein breites, irgendwie brutal wirkendes Gesicht. Hinter den Handschuhen konnte man stark behaarte, kräftige Unterarme mit Tätowierungen erkennen und trotz Wintermantel sah man den extrem muskulösen Körperbau. Franz überkam ein eisiges Gruseln! Er bekam Herzrasen. Irgendwie faszinierte ihn dieses brutale Gesicht! Vielleicht hatte er es schon irgendwo, wenn auch nur flüchtig, gesehen. Franz überlegte angestrengt, welcher Art das so plump versteckte Interesse dieses Mannes an ihm sein könnte. Er kam eigentlich nur auf ein „erotisches Interesse“ und versuchte den Mann einer seiner Schwulen-Bar Besuche zuzuordnen. Franz war drauf und dran, es mit einem Kontaktgespräch herauszufinden, als der Mann unvermittelt seinen Mantel zuknöpfte und rasch in den Menschenmassen auf dem Marienplatz verschwand. Franz wäre ihm beinahe gefolgt, ermahnte sich aber dann eines Besseren und eilte zu seinem Termin mit seinem Headhunter. Es war dies weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige, Ort um dem Unbekannten hinterherzuschleichen.

 

***

 

Verdammt! Das zu beobachtende Objekt hatte ihn bemerkt. Der große, sportliche Mann mit dem brutalen Gesicht hätte es beinahe vermasselt! Gut, dass er noch rasch im Getümmel auf dem Marienplatz untertauchen konnte. Das nächste Mal musste er unbedingt vorsichtiger sein und nicht so nahe heran gehen. Leider war eine weitere Verfolgung an diesem Tag nicht mehr möglich. Das war natürlich ärgerlich! Er spürte förmlich körperlich, dass er hier etwas Wichtiges verpasste. Aber bei diesen Menschenmassen war eine Beobachtung aus der Ferne einfach nicht möglich. Sein Auftraggeber würde verärgert sein, aber er musste es ja nicht erfahren.

 

***

      

Weihnachten im Hause Santa Cruz war einfach zu beschreiben: sehr laut, sehr bunt und sehr chaotisch! Auch 2009 bildete da keine Ausnahme. Man hatte sich dieses Mal darauf geeinigt, bei Oma und Opa Rossellini, den Eltern von JPs Mutter, in Berlin zu feiern. Opa war schwer gestürzt und hatte sich das rechte Bein zweimal gebrochen und Oma konnte ihre beiden Hunde diesmal nicht bei ihrer Freundin unterbringen. Damit war sie auch nicht fähig zu verreisen. Ihrem Mann traute sie es nicht zu, die Hunde nach ihren Vorstellungen alleine zu versorgen und außerdem würde sie ihren Giovanni zu Weihnachten natürlich nicht alleine lassen. Also kam ein Teil der Sippe, sofern sie gerade in Deutschland weilten, eben nach Berlin.

Das Haus der Rossellinis in Berlin-Zehlendorf war zwar groß, aber dennoch viel zu klein für diese Menge an Personen. Es war rappelvoll mit italienischer, amerikanischer, deutscher, argentinischer, französischer „Familia“. Alle Sprachen wirbelten wild durcheinander und es gab keine Ecke im Haus, die man kurz für sich alleine beanspruchen und wieder zur Ruhe kommen konnte. Viele der Familienmitglieder hatten sich zuletzt vor einem Jahr oder länger getroffen und hatten sich dementsprechend viel zu erzählen. Von den Anwesenden, immerhin 21 Familienmitglieder, waren mehr als die Hälfte Frauen, und somit gab es nochmals mehr zu erzählen und sich gegenseitig zu berichten. Es waren alle Altersklassen und Verwandtschaftsgrade vertreten, der Älteste in der Runde war Opa Giovanni mit seinem 76 Jahren, die Jüngste die kleine Sabina von Cousin Carl mit ihren drei Jahren. Wenn sich zwei männliche Familienmitglieder trafen, lief das Gespräch in etwa folgendermaßen: „Wie geht’s Dir?“ „Danke, gut und Dir?“ „Danke auch gut. Und wie geht’s Deiner Frau und den Kindern?“ „Danke, gut und bei Dir?“

Damit war alles über die Familienangelegenheiten seit dem letzten Treffen erzählt. Dann konnte man sich zusammen ein Bierchen gönnen und über die wichtigen Themen des Lebens wie Frauen, Urlaub, Fliegenfischen, Fußball etc. unterhalten.

Wenn sich zwei weibliche Familienmitglieder – speziell, wenn sie mit dem Temperament einer Italienerin, Argentinierin oder Französin ausgestattet waren – mal wieder nach einiger Zeit trafen, dann zog sich alleine schon die freudige Begrüßung bis zu 20 Minuten hin. Dann näherte man sich langsam über Kindergarten-, Arbeits-, Schul-, Gesundheits-, Ehe-, Freundschafts-, Nachbarschaft- und moralischen oder unmoralischen Themen einander an, um nach ausladendem Anlauf zum eigentlichen Kern der Frage „Wie es denn um das persönliche Wohlbefinden bestellt sei?“ zu kommen. Diese weibliche Vorgehensweise war durchaus zielführend, wenngleich sie mehr Zeit in Anspruch nahm, einen sensationellen Geräuschpegel erzeugte und bei entsprechend hoher Frauendichte bei den Männern zu Kopfschmerzen, Unlust sowie echten Panikattacken führte.

Und genau an dem Punkt war JP schon nach den ersten zwei Stunden. Aber er war wohl nicht der Einzige. Eine kleine Gruppe der Männer verdrückte sich anfänglich „zum Rauchen“ auf die Terrasse und bibberte im kalten Wind. Bald schon kamen immer mehr Männer von drinnen nach draußen und brachten Decken, Handschuhe, Glühwein und kaltes Bier mit. Komischerweise war nur ein „echter“ Raucher dabei, aber das störte die gute Stimmung in keinster Weise. Sogar Opa Giovanni mit seinem Gipsbein saß halb auf dem Terrassentisch und diskutierte in seinem furchtbaren Italodeutsch oder in breitem neapolitanischem Dialekt mit den anderen Männern auf der Terrasse.

Der Geräuschpegel war bald höher als bei den Frauen im Wohnzimmer, zumal der Alkohol, der ohne die wachsamen Augen der Frauen sehr reichlich floss, die Dosierung der Lautstärke beständig der intellektuell gesteuerten Kontrolle entzog. Sogar die minderjährigen Jungs hatten schon bald arg Schlagseite. Aber das interessierte an diesem Abend Keinen! Es war schließlich Weihnachten! Da war halt mehr erlaubt.

Die Damenwelt bemerkte den „Schwund“ ihrer besseren Hälften erst, als ein Autoschlüssel gesucht wurde, um die Familienbilder aus dem Kofferraum zu holen. Damit war dann „Schluss mit lustig“ und der Alkoholausschank wurde sofort gestoppt. Einer der Väter erhielt „encora Publico“ einen ordentlichen Anschiss wegen seines betrunkenen Juniors und man verlagerte sich wieder gemeinsam ins Innere des Hauses. Bewachung war nun wieder angesagt. JP fand dies geradezu blöd, es war gerade an dem Punkt, eine richtig gute Weihnachtsparty zu werden. Und so wurde dann der Weihnachtsabend in der üblichen Familientradition weiter gefeiert – laut, bunt und chaotisch – und leider nüchterner. Irgendwie schade eigentlich, jedenfalls spielten religiöse Motive dabei keinerlei Rolle, denn so bunt wie die Nationalitäten, so unterschiedlich waren auch die Religionen innerhalb der Familia. Es waren alleine bei dieser Weihnachtsfeier Christen, Juden, „Konfessionslose“ und eine Muslima vertreten, aber deswegen gab es niemals Stress. Weihnachten war für die Sippe nur irgendein Grund, so gut wie jeder andere, um sich mal wieder im Verbund zu versammeln und ausgiebig auszutauschen.

Zu Silvester konnte JP allerdings ungebremst nachholen, was er am Weihnachtsabend versäumte und feierte ausgelassen mit der in München lebenden „Familia“, seinen Schwestern, seiner momentanen Favoritin Sandy, einer Stewardess von British Airways, und etlichen Freunden in ein neues Jahr 2010.

Irgendeine, scheinbar betrunkene ältere Frau im U-Bahnhof Münchner Freiheit wollte JP am 31.12. unbedingt aus der Hand die Zukunft für 2010 lesen. Er ließ sie gewähren. Sie sagte ihm voraus: „Du erlebst schon bald eine sehr turbulente Zeit mit einer sehr schmerzhaften Erfahrung. Ab dem Frühjahr wirst Du entweder einem gewaltsamen Tod erleiden oder Du wirst Dein Glück in der Liebe finden – es hängt von Deinen Entscheidungen ab. Vertraue dem dicklichen Mann mit dem großen Schnurrbart.“

Geld wollte sie keines. Dann verschwand sie im Gewühl der Menschen und JP konnte sich schon Minuten später nicht mal mehr an ihr Gesicht erinnern. JP bewertete diese Sätze damals als reinen Humbug und als „Schmarrn“! Dennoch spukten sie ihm ständig im Kopf herum. Derartiges konnte man nicht so einfach verdrängen oder vergessen. Er analysierte ständig, wen er als „dicklichen Mann mit großem Schnurrbart“ kannte. Es fiel ihm aber niemand ein.

Es wurde ihm erst sehr viel später bewusst, dass er damals wohl einem Engel in der Gestalt einer alten Frau begegnet war! Diese Person oder was auch immer sie auch war, konnte in die Zukunft schauen.

Jedes Wort sollte sich erfüllen.

Ohne Skrupel
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html
part0000_split_062.html
part0000_split_063.html
part0000_split_064.html
part0000_split_065.html
part0000_split_066.html
part0000_split_067.html
part0000_split_068.html
part0000_split_069.html
part0000_split_070.html
part0000_split_071.html
part0000_split_072.html
part0000_split_073.html
part0000_split_074.html
part0000_split_075.html
part0000_split_076.html
part0000_split_077.html
part0000_split_078.html