1. März 2010, Prag

 

Diese Schweine!

       Er hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Aber er hatte nicht gedacht, dass sie so weit gehen würden! Mit dieser Protz-Karre mit deutschem Kennzeichen konnte man nicht einfach in einem 1.000-Seelenkaff herumfahren, beim einzigen Gasthaus absteigen und allen Ernstes annehmen, dennoch nicht aufzufallen.

Er hatte ein Gespür für diese brutalen Kerle, diese Soldaten, diese Russenschweine! Er hatte sie immer schon gehasst und meilenweit gegen den Wind gerochen! Das hier war auch so einer! Zu alten, kommunistischen Zeiten, da musste er zwangsweise mit der Stasi, der Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik, paktieren und war ihr Informant. Aber er hatte diese Militärs noch nie leiden können. Nach der Wende musste er seine alten Seilschaften zwar leider wiederbeleben und konnte sie sogar sehr gewinnbringend für sich nutzen. Aber er wollte nun raus aus dem Sumpf, er wollte nicht mehr mitspielen! Abschließend nur ein bisschen Cash für seinen Ruhestand – und nun das!

Es war 9:30 Uhr morgens und sein Schädel tat ihm höllisch weh! Der Verband saß wie ein Turban auf seinem Kopf und auch sein ganzer Rücken schmerzte. Die Krankenschwester kam ins Zimmer und begrüßte ihn freundlich: „Guten Morgen, Herr Youl! Wie ist Ihr Wohlbefinden?“ Ja, Fiodr Youl lebte! Wie durch ein Wunder hatte er dieses Attentat überlebt. Sein Glück war, dass der kleine Dorfbach im Winter extrem wenig Wasser führte. Er war zwar im Eis eingebrochen, aber in dem seichten Bach konnte er beim besten Willen nicht untergehen oder gar unter das Eis driften. Durch das kalte Wasser war er schlagartig wach und nüchtern geworden. Er hatte sich mühsam die Böschung hinaufgeschleppt. Die Kellnerin aus dem Gasthaus fand ihn wenig später auf dem Nachhauseweg, der ebenfalls über die Brücke führte. Dann Krankenwagen, Krankenhaus in Prag. Schwere Gehirnerschütterung! Die ersten Tage war er kaum ansprechbar. Jetzt lag er hier und grübelte.

Eine neue Woche, Entscheidungen standen an. Er, Fiodr, aber auch sein Leibwächter Juri hatten den Ausländer mit dem deutschen Kennzeichen, ein Mietwagen, wie seine Schwägerin, die bei der Polizei arbeitete, schnell herausfand, sofort bemerkt. Wer steigt schon in einem Kaff ab und tigert immer die Straße rauf und runter, mit verhohlenem Blick auf eine Villa. Er hatte gespürt, dass es ein Russe war, auch wenn er mit dem Wirt nur Deutsch gesprochen hatte.

Fiodr fühlte förmlich, dass dieser Kerl vom Doc Oberst geschickt wurde. Aber er dachte: nur zum „Verhandeln“. Doc Oberst hatte schon bei der Stasi gerne solche brutalen Einschüchterer losgeschickt um zu bekommen, was er wollte.

Fiodr hatte Doc Oberst schon immer gefürchtet. Fiodr hatte seine Optionen gut überlegt und kam zu dem Schluss, dass der Typ im „Goldenen Hasen“ wahrscheinlich den Auftrag hatte, mit ihm zu verhandeln. Fiodr hatte von dem Investoren-Konsortium „nur“ sieben Millionen Euro Abfindung in cash gefordert, damit er seine 26%-Firmenanteile an MOTOHMOTY s.r.o verkaufte. Es wurden ihm aber gerademal 1,5 Millionen angeboten.

Nur einmal und niemals nachverhandelt. Und das, obwohl sie gerade dieses unverschämte Ding mit seinem größten Kunden Malinger aus München drehen wollten. Diese neue Sauerei fand er einfach nicht mehr in Ordnung. Er musste vorher raus! Die sieben Millionen kamen ihm sehr vernünftig und bescheiden vor. Hatte er ja die Jahre zuvor schon gut mitverdient. Mit seinen 26 % Anteilen konnte er Entscheidungen blockieren. Es gab keinen Weg an ihm und seinem Veto vorbei – außer ... Schlagartig wurde ihm alles klar und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Außer ... er wäre nicht mehr am Leben ... ein tragischer Unfall!

Lästiges Veto, totes Veto. Und genau das hatte der russische Typ im „Goldenen Hasen“ mit ihm vor – einen tödlichen Unfall verursachen. Der wollte gar nicht verhandeln! An so etwas hatte Fiodr niemals gedacht. Er war immer bereit den Staat zu bescheißen, Steuern zu hinterziehen, Subventionen zu veruntreuen, jemanden geschäftlich übers Ohr zu hauen und zu betrügen, aber Mord, das kam weder in seinem Wortschatz noch in seinen Denkmustern vor. In dem Punkt war er immer noch der einfältige Provinztrottel.

Er war absichtlich alleine in den „Goldenen Hasen“ gegangen und hatte dem Wirt lautstark erzählt, dass Juri zu viel Wodka getrunken hätte und besoffen zu Hause wäre. Setzte sich an einen einsamen Tisch im Lokal, ganz weit hinten und wartete, bis der Russe sich auf diesem neutralen Boden zu ihm an den Tisch setzen würde. Dann hätten sie verhandelt und sich vielleicht auf 4,5 – 5 Millionen Euro geeinigt. Aber nein! Der Typ machte keinerlei Anstalten! Diese Verhandler waren in so etwas Profi und ließen Ihr Gegenüber erst mal schmoren. So dachte Fiodr. Irrtum! Daraufhin hatte sich Fiodr ein bisschen Mut angetrunken und vorgehabt, den ersten Schritt zu tun. Bis der Typ dann irgendwann aufstand und zu einem endlosen Spaziergang verschwand. Irgendwann dachte Fiodr: „Ist wohl doch nicht der erwartete Verhandler.“ Dann wollte er schnurstracks nach Hause schlendern. Fiodr hatte einen riesigen, fatalen Fehler in seiner Einschätzung gemacht! Dieser Fehler hatte ihm fast das Leben gekostet. Diesen Fehler wollte er nicht ein zweites Mal machen.

Er hatte die Firma MOTOHMOTY s r.o. vor 15 Jahren, damals mit seinen drei Partnern, aufgebaut. Sie hatten vom Staat billige Darlehen und später Zuschüsse bekommen und waren eine Zeit lang das tschechische Vorzeigeunternehmen in der Autoteile-Branche. Da sie aber alle zu viel entnahmen und zu wenig reinvestierten, geriet ihre Firma trotz guter Aufträge in die finanzielle Schieflage. Sie waren alle vier keine guten Kaufleute, nur gute Techniker oder Handwerker. Schließlich mussten Sie das Investoren-Konsortium als Kapitalgeber ins Boot holen. Diese kauften sich für einen „Appel und ein Ei“ ein. Seine drei Partner verkauften ihre Anteile wirklich schlecht, aber sie waren gierig und hatten noch nie zuvor so viel Cash in Händen – neues Auto, neues Haus, junge Freundin: Geld weg. Jetzt waren alle drei irgendwelche kleinen Angestellten, zum Teil noch mit erheblichen Schulden.

Fiodr hatte damals die Kapitalbeteiligung vermittelt. Er war auf der Suche nach einem Investor und hatte sich an seinen Ex-Führungsoffizier Doc Oberst aus Stasi-Zeiten gewandt. Doc Oberst war inzwischen eine wirklich große Nummer in der Branche geworden. Für Fiodr wären Russen niemals infrage gekommen. Er hasste Russen! Doc Oberst, wie er ihn immer nannte, kam dann zusammen mit diesem russischen Magnaten und zwei weiteren Partnern und stellte viel Geld in Aussicht. Binnen drei Wochen war das Beteiligungskapital auf den Konten seiner Firma und das Finanz-Konsortium zu 74 % Eigner des Autoteile-Werkes. Für Fiodr war es finanziell eine sehr gute Entscheidung gewesen, seine Anteile nicht zu verkaufen. Die neuen Miteigentümer und Partner waren mit allen „Business-Duftwassern“ gewaschen und skrupellose, aalglatte Geschäftsleute. Er und seine Partner waren durchaus gute Handwerker, aber das „echte Business“ betreffend waren sie absolute Provinztrottel.

Bei den neuen Partnern war Fiodr ausschließlich wieder für die Fertigung zuständig, den Rest schaukelten ausgebuffte Geschäftsführer. Das fand Fiodr ganz große Klasse, denn kaufmännische Angelegenheiten waren noch nie seine Stärke gewesen. In den vergangenen Jahren staunte und lernte Fiodr. EU-Fördergelder flossen zuhauf und verschwanden auf diversen Schweizer Konten – auch auf Fiodrs Konto. Die Banken gewährten wieder freimütig überdimensionierte Kredite. Große, neue Aufträge kamen von ausländischen KFZ-Herstellern im Osten, Korea und Japan und das deutsche Unternehmen Malinger Autoteile beauftragte sein Werk im großen Stil als OEM-Subunternehmer.

Aber: „Seine“ Firma MOTOHOMOTY s r.o. wurde konsequent ausgeblutet und ausgesaugt. Jeder echt verdiente Euro verschwand in einer der schwarzen Kassen. Fiodrs Bankkonto schwoll an. Die Produktionsmaschinen waren inzwischen so alt, dass sie kaum noch funktionierten. Die Gehälter der Mitarbeiter waren absolute Mindestlöhne – und fast alle hatten einen Nebenjob, um irgendwie über die Runden zu kommen. Die Immobilie wurde billigst an das Konsortium verkauft und für teures Geld an die Firma zurück vermietet. Nun hatte man vor, diese fast leere Hülse teuer an die Deutschen zu verkaufen, für die MOTOHOMOTY s.r.o seit Jahren als Subunternehmer tätig waren. Fiodr fühlte sich zu alt für diesen Scheiß! Er wollte damit nichts mehr zu tun haben. Jetzt und heute galt es, sich und seine Familie zu schützen, zu überleben. Ein zweites Mal hatte er vielleicht nicht mehr so viel Glück! Beim nächsten Anschlag wäre er ziemlich sicher tot. Und womöglich seine Frau und Kinder auch. Das durfte auf keinem Fall passieren! Fiodr suchte sein Handy aus seinen privaten Utensilien und wählte schweren Herzens die deutsche Nummer seines Partners und ehemaligen Stasi-Führungsoffiziers.

„Doc Oberst, hallo, hier ist Fiodr Youl! Ich wollte Ihnen nur sagen, ich nehme Ihr Angebot an. 1,5 Mio. Euro auf mein bekanntes Konto und ich bin raus.“ „Fiodr.....äh.... ich bin sehr überrascht.“ Nervöses Atmen kam aus dem Handy. „Hören Sie Fiodr, unser Angebot ist fast drei Wochen alt ... Wir haben mittlerweile andere Pläne und hatten zusätzliche, unerwartete Unkosten ...“ eine kurze Pause entstand. „Hören Sie, ich biete Ihnen 1,1 Millionen. Mein Angebot erlischt, sobald ich aufgelegt habe.“ Doc Oberst war ein eiskalter und gefühlloser Aal. Fiodr hatte immer schon eine Höllenangst vor Doc Oberst und es immer vermieden, sich häufiger zu treffen als unbedingt nötig.

Fiodr stieg die Panik innerlich hoch und er fiel in ein tiefes, schwarzes Loch. „Doc Oberst, meine Familie, mein Lebenswerk, das können Sie nicht machen. Ich habe Verpflichtungen, muss meine Kosten bezahlen ...“ „Hören Sie Fiodr: Wenn Sie jammern wollen, machen Sie das vor dem Spiegel oder kaufen sich einen Hund. Mein Angebot hat sich soeben auf eine Million verringert. Das ist mein letztes Wort. Ich habe keinerlei Lust, mich weiterhin mit Ihnen zu unterhalten. Wie gesagt, wir haben andere Pläne. Viel günstigere Pläne! Ich lege in einer Minute auf!“

Fiodr war kein tapferer Mann, noch nie gewesen! Fiodr kannte die „anderen Pläne“ ganz genau und wäre beinahe Teil von Ihnen geworden. „Halt, halt, Doc Oberst, ich flehe Sie an, bitte bleiben Sie in der Leitung! Ja, ja OK, eine Million Euro geht in Ordnung. Sie haben meine Kontonummer!“ „Ok! So einfach geht das nicht, Fiodr. Wir müssen einen Vertrag machen. Kommen sie am Montag in einer Woche um Punkt 10:00 Uhr zu unserem Firmenanwalt in sein Prager Büro. Sie werden die Verträge unterschreiben. Und ändern Sie auf keinem Fall Ihre Meinung, Fiodr! Das Geld wird sofort nach Unterschrift auf Ihr Nummernkonto überweisen, darauf haben Sie mein Wort. Aber merken Sie sich, ich mache keine halben Sachen, wir verhandeln nicht und wir vergessen nichts!“ Piep, piep, piep: aufgelegt. Das war klar und deutlich. Fiodr würde alles unterzeichnen! Fiodr wollte leben.

Ohne Skrupel
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