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James hatte sich vor Sorge fast in die Hosen gemacht, weil er seine gesamten Ersparnisse riskiert und seine CHERUB-Karriere aufs Spiel gesetzt hatte. Doch jetzt war er vor Freude außer sich. Sein Drittel am Gewinn machte ganze zweitausendneunhundertzwanzig Dollar aus, was bedeutete, dass er seinen Einsatz fast verdreifacht hatte. Und Kazakovs Anteil von fünftausendachthundertvierzig Dollar ließen ihn jene dreitausend vergessen, die er vor ein paar Abenden im Reef Casino verloren hatte.
Auf den letzten Kilometern ins Zentrum von Las Vegas tauschten James und Kazakov gut gelaunt und wie die besten Freunde Geschichten über Parkplatzwächter, böse Blicke vom Spielmanager und darüber aus, dass James sich einmal verzählt hatte, weil er so heftig niesen musste.
James lenkte den Ford auf den vierspurigen Las-Vegas-Strip. Hinter dem Stratosphere-Tower am Nordende des Strips ging die Sonne unter und die Neonlichter begannen zu strahlen. Von einer fünfzig Meter hohen Videowand leuchtete Werbung für ein Elton-John-Konzert.
»Ich habe gehört, dass die All-you-can-eat-Buffets hier ziemlich gut sein sollen«, sagte Kazakov.
James war schockiert: Dass Kazakov ernsthaft etwas Amerikanisches lobte, war, als wenn man die königliche Familie dabei erwischen würde, wie sie im Kentucky Fried Chicken das Sparmenü verputzte.
»Das beste Buffet von Vegas gibt′s im Bellagio«, grinste James. »Essen so viel man will für dreißig Mäuse pro Person. Wir wollten neulich schon dorthin, doch Kerry und Rat hatten nicht genug Geld dabei.«
Das Bellagio war eines der besseren Hotels mitten auf dem Strip und berühmt für den großen See und die Springbrunnen vor dem Gebäude. Wie alle wichtigen Casinos war es riesig; um zum Restaurant zu gelangen, mussten sie erst über einen nicht enden wollenden Parkplatz gehen und – wie immer, wenn man in Vegas irgendwohin gelangen wollte – durch ein mehrere Fußballfelder großes Casino spazieren.
In den marmornen Gängen und auf den plüschigen Teppichen der Spielhallen wimmelte es von teigigen Männern im smarten Freizeitlook mit dicken Brillengläsern und strähnigen Haaren.
»Was ist das denn?«, fragte Kazakov, als sie sich für das Buffet an einer Schlange von mindestens fünfzig Personen anstellten. »Ein Aknepatienten-Kongress?«
Die drei Männer vor ihnen warfen mit Fachausdrücken über Schrifterkennungsprogramme um sich, sodass James die Verbindung zu einer Anzeigentafel herstellte, die er in der Stadt gesehen hatte.
»Compufest«, erklärte er, als sie zwei Schritte weiter vor rückten. »Eine wichtige Konferenz der Computerindustrie.«
»Wohl eher ein Streberfest«, spottete Kazakov. »Gib mir sechs Wochen und ich mache echte Männer aus ihnen.«
»Die sehen vielleicht nicht so aus, aber die haben richtig Geld«, sagte James. »Ich hab mich schon über die vielen Mercedes und Bentleys auf dem Parkplatz gewundert.«
Für dieses Buffet lohnte sich das lange Schlangestehen und James griff ordentlich zu – er häufte sich jede Menge Bratenscheiben auf den Teller, nahm dann Fisch und Pasta nach und schloss das Festmahl mit einem halben Dutzend kleiner Dessertkuchen ab.
»Und«, sagte Kazakov, als sie beide endlich so satt waren, dass sie keinen Bissen mehr hinunterbrachten. »Wie wäre es mit einer neuen Runde Blackjack? Das Tischlimit von fünfzig Dollar hat uns echt runtergezogen. Wie wäre es, wenn wir es an den Tischen mit richtig hohem Einsatz versuchen?«
»Sie haben Schlagsahne an der Nase«, stellte James fest und nahm seine Kaffeetasse hoch. »Als wir im Reef waren, bin ich ins Internet gegangen und habe herausgefunden, dass es im Vancouver Casino angeblich Tische mit hohem Einsatzlimit, zwei Kartenspielen und geringer Beteiligung gibt. Es liegt am Südende des Strips.«
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Kazakov.
James zuckte mit den Achseln. »Die Sache ist die: Das Vancouver ist ein neues Casino, hat also wahrscheinlich ein brandneues Sicherheitssystem, und je höher die Einsätze, desto besser werden die Tische bewacht. Ich glaube, wir haben unser Glück heute Nachmittag im Wagon Wheel ausgereizt. Wir hätten eben gleich reagieren müssen, als der Manager das Limit wieder auf fünfzig Dollar heruntergesetzt hat.«
»Okay«, meinte Kazakov. »Wir haben aus knapp dreitausend Dollar heute Nachmittag fast neuntausend gemacht. Wenn wir unseren Einsatz noch mal verdreifachen, haben wir fast dreißig Riesen.«
James lächelte. »Ehrlich gesagt, spielt der erste Einsatz keine große Rolle, solange man nicht ganz am Anfang eine richtige Pechsträhne hat und alles verliert. Wenn man anstatt fünfzig Dollar fünfhundert pro Blatt setzt, ist der mögliche Gewinn zehnmal größer.«
»Hunderttausend Dollar«, sagte Kazakov und schlug sich fröhlich mit der Hand auf die Brust. »Das würde mir gefallen.«
»Davon könnte ich auch was gebrauchen«, nickte James. »Mein Anteil sollte für eine schöne Harley Davidson reichen.«
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Das sechzig Stockwerke hohe Hotelgebäude war das höchste der Stadt. Mit seinem modernen weißen Interieur wollte das Vancouver ganz offensichtlich ein jüngeres Publikum anziehen als die anderen Casinos mit ihren schweren Marmordekorationen und üppigen Teppichmustern.
James kannte inzwischen die meisten der großen Hotel-Casinos und hatte festgestellt, dass sie trotz ihrer protzigen Versuche, sich durch Themen und Attraktionen voneinander zu unterscheiden, im Grunde alle gleich waren. Alle hatten mehrstöckige unterirdische Parkhäuser, ein paar Tausend Hotelzimmer, einige schicke Restaurants und ein riesiges Casino als Herzstück.
James war immer noch voll von dem Buffet, als er sich hinten in den Wagen setzte und über die Kamera an Kazakovs Schal das bunte Casino-Treiben beobachtete. Die Aussicht auf weitere Gewinne versetzte ihn in Aufregung, und nach dem Erfolg im Wagon Wheel war er zuversichtlich.
Auf dem Gelände wimmelte es nur so von den Teilnehmern des Compufestes, als Kazakov die kilometerlangen Gänge schnell entlanglief und über eine spektakuläre Glasbodenbrücke über den Hotelpool schritt, um endlich zu einer Reihe von Aufzügen zu gelangen, die nach unten in das Casino führten.
Nirgendwo waren sich die Mega-Casinos ähnlicher als in ihren fensterlosen Spielsälen: Da alle Spielautomaten und Tische vom Staat Nevada genehmigt werden mussten, standen überall fast identische Maschinen herum, mit den immer gleichen farbigen Blinklichtern und Piep- und Klingeltönen.
Gerade als Kazakov an dem auf einen Sockel montierten Pick-up vorbeikam und an den armen Schweinen, die die Automaten darum herum fütterten, wurde James′ Bildschirm auf einmal schwarz. Kein Signal leuchtete auf.
Ein paar Sekunden später war das Bild wieder da, doch es war grobkörnig und der Sound abgehackt. Für einen Moment schien es sich zu stabilisieren, doch als Kazakov jenen Bereich des Casinos entdeckte, in dem mit höheren Einsätzen gespielt wurde, fiel das Signal ein weiteres Mal aus.
James befürchtete, dass die Störungen von einem Gerät im Casino herrührten, welches Sendesignale blockieren sollte. Doch als er das Menü für die Videoüberwachungssoftware aufrief, bemerkte er, dass die Signalstärke weit unten im roten Bereich lag. Er nahm das Handy und rief Kazakov an.
»Was soll das heißen, kein Signal?«, fragte Kazakov gereizt. »Du bist doch höchstens einen Kilometer entfernt. In Fort Reagan hatten wir mindestens die sechsfache Reichweite. Bist du sicher, dass du es richtig eingerichtet hast?«
»Ja, ich bin sicher«, antwortete James. »Fort Reagan ist offenes Gelände. Hier sitze ich unter drei Schichten parkender Autos und Sie laufen unter einem sechzigstöckigen Hotelwolkenkratzer herum.«
»Verdammt«, knurrte Kazakov. »Mit einem Signalverstärker könnten wir es wahrscheinlich schaffen, aber ausgerechnet den habe ich nicht nach Fort Reagan mitgenommen.«
»Wir könnten es in einem der kleineren Casinos versuchen«, schlug James vor. »Oder in einem der alten Läden in der Freemont-Street.«
»Es muss doch noch einen anderen Weg geben«, widersprach Kazakov. »Du musst eben näher herankommen. In eine Toilettenkabine oder so was.«
James schüttelte enttäuscht den Kopf. »Nein, die Casinos haben überall Wachen und Videokameras. Kommen Sie zum Auto, wir fahren zu einem der kleineren Läden.«
»Lass mich mal kurz nachdenken«, verlangte Kazakov. »Ich rufe gleich zurück.«
Seufzend warf James sein Handy auf den Sitz neben sich. Eigentlich war er der Kopf hinter ihrer Operation, aber Kazakov behandelte ihn manchmal immer noch wie ein Kind.
Eine Weile beobachtete er das erneut grobkörnig aufflackernde Bild auf dem Monitor, doch als Kazakov noch tiefer ins Casino vordrang, fiel es ganz aus. Es vergingen fast zehn Minuten, bis sein Handy klingelte.
»Ich habe einen Platz für dich gefunden«, verkündete Kazakov. »Bring den Laptop mit, wir treffen uns im Business-Center.«
»Business-Center?«, fragte James verwundert nach.
Fünf Minuten später stand er davor. Der mit einer Glaswand von der Rezeption abgetrennte Raum verfügte über mehrere Dutzend Schreibtische, die an drei Seiten durch Stellwände abgeschirmt waren. Außerdem gab es dort eine Reihe von Faxgeräten, Laserdruckern und sogar Maschinen, die wie Laminier- oder Bindegeräte aussahen.
»He, Miss!« Kazakov lächelte eine adrett gekleidete Rezeptionistin hinter ihrem Schalter an. »Da ist mein Junge. Er braucht einen Schreibtisch, damit er an seinem Geschichtsprojekt arbeiten kann, denn wenn ich ihn oben im Zimmer lasse, sieht er nur fern, spielt Nintendo und räumt die Minibar leer.«
Die Rezeptionistin lächelte James an. »Hausaufgaben können einen ganz schön fertigmachen, nicht wahr?«, fragte sie.
»Wenn er einen guten College-Platz will, muss er auch etwas dafür tun«, knurrte Kazakov.
»Nun gut«, entgegnete die Rezeptionistin fröhlich. »Das Business-Center kostet vierzig Dollar in der ersten Stunde, danach fünfundzwanzig. Dazu gehören ein Schreibtisch, Internetzugang, Drucker, Fax und Telefon. Auslandsgespräche und Farbdrucke kosten extra.«
Kazakov zahlte bar für drei Stunden. »An die Arbeit!« , verlangte er streng, als die Rezeptionistin James ins Business-Center führte. »Und kein MSN!«
»Viel Glück an den Tischen!«, wünschte ihm die Rezeptionistin.